archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation
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architheseWohnwelten, Denkwelten
Siedlungsbau in den Niederlanden –
eine Standortbestimmung und vier Beispiele
Wohnungsbau in Deutschland
Wiener Massenwohnungsbau im Aufbruch
Wohnungsbau als pädagogisches Instrument
Staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt –
soll der Staat intervenieren, und wenn ja, wie?
Kommunale Wohnungspolitik und Globalisierung
Ieoh M. Pei Deutsches Historisches Museum, Berlin
Herzog & de Meuron Schaulager, Basel
4.2003
Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Revue thématique d’architecture
WohnbauprogrammeProgrammes d’habitation
archithese 4.2003
Juli/August
Wohnbauprogramme – Programmes d’habitation
mitLeserdienst 104
2 archithese 4.2003
E D I T O R I A L
Wohnbauprogramme
Wohnbauprogramme hatten in den letzten 200 Jahren stets eine politische Di-
mension. So formal unterschiedlich sie ausfallen mochten, und so gegensätzliche
und soziale ökonomische Ideale ihnen zugrunde lagen: Vielen Entwürfen war
das Ziel gemeinsam, dem Menschen eine «richtige» Wohnform nahezulegen, um
durch dieses Mittel seine Lebensweise zu beeinflussen. Sozialreformer, Politiker,
philanthropische Gesellschaften, paternalistische Fabrikherren, avantgardisti-
sche Architekten, Wohnbaugenossenschaften, Spekulanten und gemeinnützige
Stiftungen prägten mit ihren Wohnbauprogrammen auch Wertvorstellungen.
Heute gerät dieses ideelle Engagement an seine Grenzen. Das weitgehend ak-
zeptierte Leitbild der Kleinfamilie – und die entsprechende Wohnform in der funk-
tionalistischen, bürgerlichen Familienwohnung – werden mehr denn je in Frage
gestellt. Mobilität und Globalisierung, gewandelte Familien- und Arbeitsstrukturen,
veränderte Auffassungen von Öffentlichkeit und Privatsphäre stellen Bauträger
und Architekten vor neue Probleme. Flexiblen Lebensmodellen, einer Vielzahl
differenzierter Bedürfnisse kann nicht eine einzige räumliche Lösung entspre-
chen. Auch das ehemals eindeutige, wohldefinierte Bild der Bewohner löst
sich auf: Aus den Familienmenschen werden Konsumenten, Migranten, Singles,
Nomaden, Alleinerziehende . . . Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die
Frage, wie der statische Charakter des Wohnens mit der Möglichkeit eines steten
Wandels zu vereinbaren sei. Die angebotenen architektonischen Lösungen sind
unterschiedlich: undeterminierte, rohbauartige Raumfolgen stehen spezifizierten
Indivi dualwohnungen gegenüber, konsumorientierte Lebensabschnitts-Fertig-
häuser kontrastieren mit gemeinschaftsorientierten Siedlungen mit drakonisch
geregeltem Alltag. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass echte typologi-
sche Neuerungen eher selten sind – bis auf einige erfreuliche Ausnahmen.
Unsicherheit herrscht auch über die Rolle der öffentlichen Hand. Sinn oder Un-
sinn staatlicher Interventionen in den Wohnungsmarkt werden heftig diskutiert.
Ein Argument besagt, dass Instrumente wie Darlehen, Landabgaben, Subventio-
nen, etc. den Wohnungsmangel letztlich verschärften; Regel werke dagegen, die
reibungslosere Marktabläufe ermöglichen, würden lang fristig zur Entspannung
der Situation beitragen. Solchen Liberalisierungsversuchen stehen die Anliegen
von immer zahlreicheren ökonomisch Benachteiligten gegenüber, die auf sofor-
tige Hilfe angewiesen sind. Doch selbst in sozial engagierten Kreisen herrscht
keine Einigkeit darüber, wie diese zu erfolgen hätte. In der Schweiz wurde kürz-
lich eine Umstellung von der Objekthilfe (die Unterstützung gemeinnütziger und
günstiger Wohnbauten) auf die Subjekthilfe (Direktzahlungen an Bedürftige) in
Erwägung gezogen – und verworfen. Angesichts des knappen Budgets reduziert
der Bund die für die Wohnbauförderung bestimmten Mittel ohnehin laufend; eine
Haltung, die auch in anderen Staaten zu beobachten ist. Zusätzlich zu all diesen
Fragen sieht sich Zürich auch noch mit dem Problem konfrontiert, dass Familien
und gute Steuerzahler die Stadt verlassen, weil sie keine angemessene Wohnung
finden; um das drohende finanzielle und soziale Debakel zu vermeiden, wurde ein
Programm lanciert, das den Bau grosser Wohnungen erleichtern soll – auch dies
ein neues Phänomen unter vielen.
Redaktion
Steven Holl:Entwurf für dasWohngebietToolenburg-Zuidder GemeindeHaarlemmermeer
26 archithese 4.2003
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Wohnungsbau in Deutschland – ein Aperçu Konventionell und
teuer: Eine Betrachtung der Wohnungen, die derzeit in Deutschland
erstellt werden, fällt ernüchternd aus. Kurzfristiges Profitdenken,
Ignoranz und mangelnder Idealismus führen häufig zu überteuerten
Luxusobjekten und vermeintlich originellen Raumkonstellationen,
die sich kaum noch als Wohnungen für Normalsterbliche eignen. Den -
noch gibt es löbliche Ausnahmen – etwa, wenn sich die Architek-
tur vom Diktat des Investorendenkens zu befreien vermag, oder wenn
ökologische Prioritäten innovative Grundrisslösungen zur Folge
haben.
DIE HELDEN SIND MÜDE
Dabei gab es schon einmal andere Zeiten, als die Architek-
ten in den Siebzigerjahren sich liebevoll um die Bewohner
sorgten und versuchten, die Monotonie von Wohnblocks und
Punkthochhäusern zu überwinden. «High density – low rise»
war das Credo, Bodennähe, Freiraumangebot und kommuni-
kative Begegnungsräume lösten den normierten Stapelgrund -
riss ab; die Architekten entwickelten komplexere Strukturen
mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bewohner und deren
soziale Kontakte zu verbessern. Eine Vielzahl neuer Wohn -
typen wurde ausgedacht, vom «verdichteten Flachbau» bis
zum Hügelhaus, und in Zusammenwirken mit engagierten
Planungsbehörden und Baugesellschaften realisiert. Heute
sind die Bauherren «Projektentwickler», die nicht eigentlich
Projekte entwickeln wollen, sondern Geschäfte. Alles, was
die Bauten strukturell, organisatorisch und betriebstechnisch
verkompliziert, insbesondere Gemeinschaftsflächen und -an-
lagen, erschwert die Vermarktung. Hinzu kommt, dass das
zahlungskräftige Publikum an einer kommunikativen Wohn-
umgebung in der Regel wenig Interesse zeigt.
Die Wohnungstypen selbst sind mehr und mehr von den
örtlichen Situationen abhängig. Immer seltener ergeben sich
freie Gestaltungsmöglichkeiten. Die Verwertung von Rest-
grundstücken, das Einpassen in gegebene städtebauliche
und architektonische Zusammenhänge sind eher die Regel,
selbst wenn dies nicht unmittelbar ins Auge fällt. So etwa bei
den beiden Zwillingshäusern in Berlin-Zehlendorf mit zusam-
men acht Wohnungen, die die Architekten Maedebach und
Redeleit entwarfen. Die Form der Häuser ergab sich fast auto-
matisch aus den notwendigen Abstandsflächen, das Oberge-
schoss aus der Staffelgeschossregel der örtlichen Bauvor-
schriften. Die Grundrisse sortieren sich in die so entstande-
nen Baukörper. Ein weisser Kubus bildet jeweils den Korpus
des Hauses und birgt die Wohnräume. An der Westseite ist
ein Bauteil aus Backstein angefügt, darin die «dienenden
Räume»: Treppenhaus, Bäder, Küchen. Hervorstechendes
Text: Falk Jaeger
«Wohnhäuser? Kein Thema mehr», so hört man deutsche Ar-
chitekten klagen. Die Szenerie ist gespenstisch. Die ostdeut-
schen Städte leeren sich noch immer. Nicht nur ungeliebte
Plattenbauten wandern auf die Abraumhalde, sogar der sonst
so beliebte Altbau von der Gründerzeit bis zum Ersten Welt-
krieg findet vielerorts keine Interessenten mehr. Auch viele
Städte im Westen verzeichnen eine dramatisch gesunkene
Nachfrage. Der soziale Wohnungsbau ist faktisch zum Erlie-
gen gekommen, die Finanznot der öffentlichen Hand und die
Rufe nach einem Abbau von Subventionen zeigen Wirkung.
2002 sind in Deutschland nur noch 253 700 Wohnungen er-
richtet worden gegenüber 600 000 im Jahr 1995. Im europäi-
schen Vergleich ist man mit 3,1 neu erstellten Wohnungen pro
1000 Einwohnern vom zweiten (1996) auf den drittletzten
Platz zurückgefallen.
Ökonomische und räumliche Zwänge
Zwei Tendenzen ergeben sich zwangsläufig aus dieser Si -
tuation: Mietwohnungsbau wird nur noch frei finanziert und
muss sich auf dem Markt behaupten, wobei mangelnde Sub-
ventionen zu teuren, Marktmechanismen zu möglichst extra-
vaganten Wohnungen führen. Der Bau von Eigentumswoh-
nungen verlagert sich ebenfalls in den Hochpreissektor. Die
Gründe sind dieselben; zudem werden die unteren und mitt-
leren Preislagen durch zahlreiche ehemalige Sozialwohnun-
gen abgedeckt, die als Eigentumswohnungen auf den Markt
kommen, weil ihre Sozialbindung ausgelaufen ist.
Grimmige Investoren sind am Werk, Fondsmanager, Stif-
tungsdirektoren, Anlagedompteure, und die sind im Ge-
schosswohnungsbau keine Experten – schliesslich bewohnen
sie ihre Villen im Grunewald, in Kronberg/Taunus oder in Grün -
wald im Isartal. Für sie zählt ausschliesslich die profitab le
Vermarktung. Aktuelle Miet- und Eigentumswohnungen sind
gebaute Verkaufsargumente.
1 Luxus läuftnoch: Auf deneffektvollen NamenClassicon hört das Büro- undGeschäftshaus amLeipziger Platz in Berlin. In denvier Obergeschos-sen hat ChristophLanghof Wohnun-gen für den gehobenen Bedarfrealisiert
30 archithese 4.2003
Innovation im Bau von Massenwohnungen Am Beginn eines
neuen Jahrtausends stellt sich die Frage nach dem «richtigen Woh-
nen» mit neuer Vehemenz. Das klassische Experimentierfeld zur
Entwicklung architektonisch-räumlicher und typlogischer Visio-
nen war immer das Einfamilienhaus respektive die Villa. Dies gilt
natürlich auch für die Gegenwart. Dennoch findet man heute
avancierte Ansätze auch im Wohnungsbau, der für eine breite Schicht
konzipiert ist. Ein Blick auf die jüngste Entwicklung in Wien.
WIENER WOHNUNGSBAU
1 A
31
Text: Margit Ulama
Sozialer Wohnungsbau bedeutet in Österreich und insbe -
sondere in Wien, dass diese Wohnbauten öffentliche Förder-
gelder er halten, um die Kosten für eine sozial schwächere
Klientel zu senken. Voraussetzung für diese Förderungen ist –
innerhalb eines komplexen Systems – die Einhaltung eines
begrenzten Baukostenrahmens. Aber auch die Gesetzgebung
hinsichtlich dessen, was baulich-architektonisch bei geför-
derten Bauten erlaubt ist, spielt eine Rolle.
Es mag schwierig sein, unter diesen sehr kurz und allge-
mein formulierten Voraussetzungen wirklich auch anspruchs-
volle Konzepte zu realisieren; dennoch entstand in Wien in
jüngster Zeit eine Vielzahl von ambitionierten, geförderten
Wohnbauten.
Diese Entwicklung wirft Fragen auf. Erzeugt der allge-
meine Architekturboom einen solchen Sog, dass davon der
Wohnungsbau allgemein erfasst wird? Oder liegt der Grund
in der Wohlstandsnachfrage eines gesättigten Marktes, die
höhere Ansprüche der potenziellen Mieter mit sich bringt?
Wie agieren heute Architekten, Politiker, Investoren und Bau-
träger, und wie verhält sich die Klientel, für die die Bauten
letztlich realisiert werden?
Die Situation ist ambivalent, und bis zu einem gewissen
Grad stimmt die These der Wohlstandsnachfrage. Zugleich
bedeutet diese nicht unbedingt ein gestiegenes architektoni-
sches Bewusstsein und Verständnis der Mieter. Von Unter-
nehmerseite wird die Annahme, architektonische Qualität
führe unmittelbar zu einem besseren Absatz der Wohnungen,
nicht nur relativiert, sondern sogar in Abrede gestellt. Wirkli-
che architektonische Qualität muss wahrgenommen und ge-
lebt werden, und dies ist für eine breite Schicht nicht selbst-
verständlich. Bei noch nicht realisierten Bauten ist die Ver-
mittlung der Architektur über Pläne und Bilder, so anschaulich
diese auch sein mögen, ein Problem.
Der Impetus für die Entwicklung in Wien geht unter ande-
rem von Architekten aus, die nach besonderen Lösungen su-
chen. Hinzu kommen das Engagement und die Strukturreform
von politischer Seite. Mitte der Neunzigerjahre wurden soge-
nannte «Bauträgerwettbewerbe» eingeführt, so dass Grund-
stücke der Stadt Wien über dieses Wettbewerbsverfahren, an
denen Architekten gemeinsam mit einem Bauträger teil -
nehmen, vergeben werden. Parallel dazu wurde ein «Grund-
stücksbeirat» eingerichtet, der all jene Projekte genehmigen
muss, die Wohnbauförderung erhalten.
So heftig das System der Bauträgerwettbewerbe in den
letzten Jahren auch diskutiert wurde, es bildet gemeinsam
mit dem «Grundstücksbeirat» eine entscheidende Rahmen-
bedingung für die Hebung der architektonischen Qualität.
Das Engagement einzelner Bauträger, die heute ungewöhnli-
che Wohnbauten errichten, ist möglicherweise ein Resultat
dieser Entwicklung.
Neue Tendenzen im Wohnungsbau
Wovon ist nun aber im architektonischen Sinn die Rede? Vor-
gestellt werden hier geförderte Wohnbauprojekte einer jün-
geren Architektengeneration in Wien, von Delugan_Meissl,
1 Delugan_Meissl:Wohnbau amPaltramplatzFür den gefördertenWohnungsbauuntypische Extras:die Wintergarten -boxen, die Gemein-schaftssauna sowie hochwertigeMaterialien(Foto: MargheritaSpiluttini)
A Ansicht
B –E GrundrisseDach geschoss, 5. Obergeschoss, 2. Obergeschoss,Erdgeschoss, 1 : 400
B
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D
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38 archithese 4.2003
Architektur als pädagogisches Instrument Zu jedem Wohnmodell
ein Menschenbild: Die Idee, der Mensch könne durch die Archi-
tektur seiner Behausung gezielt beeinflusst werden, liess diese zum
bevorzugten Erziehungsmittel für Reformer jeglicher Couleur
werden. Als Leitbild setzte sich die Familienwohnung durch: Bald
galt sie als Mittel, der Arbeiterschaft bürgerliche Werte nahezu-
bringen, bald als Möglichkeit für dieselben Arbeiter, ein eigenes Selbst-
verständnis zu entwickeln. Doch selbst Villen waren vor ästheti-
schem Missionarismus nicht sicher. Heute scheint dieser erzieheri-
sche Anspruch einer pragmatischen Erfüllung marktgerechter
Bedürfnisse zu weichen; dennoch sind auch weiterhin pädagogische
Ansätze erkennbar.
WOHNUNGSBAU FÜR WEN?
Geschmack und die haushälterischen Fähigkeiten, sondern
auch die «geistige Gesundheit» und die weiblichen Instinkte
der Hausfrau an ihrem Heim gemessen.1 Was sich seit den
Sechzigerjahren allmählich ändert, ist lediglich der Rahmen,
den man persönlichen Variationen zugesteht. Lange hatten
diese in den Grenzen der bürgerlichen Lebensweise stattzu-
finden – und, räumlich gesehen, in der Familienwohnung.
Dass heute unterschiedliche Wohn- und Lebensformen als le-
gitim gelten, ist selbst in liberalen westlichen Ländern ein re-
lativ neues Phänomen.
Ebenso tief verwurzelt ist der Gedanke, dass nicht nur die
Bewohner ihre Behausung beeinflussen, sondern dass sie
umgekehrt auch von dieser beeinflusst würden. Die daraus
folgende Idee, Menschen mittels der Architektur ihrer Woh-
nung zu erziehen, prägt unübersehbar die jüngere Geschichte
des europäischen Wohnungsbaus.2 Feurige Manifeste und
empörte Klagen zeugen von der breiten Palette der teils offen
deklarierten, teils impliziten Manipulationsversuche. Die Be-
weggründe der diversen Bau träger, Architekten und Planer,
die Menschheit nach ihrem Gusto zu verbessern, umfassen
politisches Kalkül, wirtschaftliche Interessen, künstlerisches
Sendungsbewusstsein, philanthropischen Idealismus – und
nicht selten eine abenteuerliche Mischung aus alldem. Dem-
entsprechend bilden auch die Menschen, deren Erziehung
zum Ziel gesteckt wurde, keine homogene Gruppe: Adolf
Loos’ Fabel Von einem armen reichen Mann und die Berichte
über Mies van der Rohes Überwachung seiner Bauherren be-
legen, dass nicht nur jene pädagogischen Bemühungen aus-
gesetzt waren, die es sich nicht anders leisten konnten.
Hinsichtlich dieses erzieherischen Anspruchs scheint sich
eine Veränderung anzukündigen, die unter anderem an der
Neubewertung der Familienwohnung erkennbar ist. Diese er-
weist sich heute mit ihren kleinen, monofunktionalen Räumen
bekanntlich als wenig adäquat, veränderte Familien- und Ar-
beitsstrukturen aufzunehmen. Eine Wohnform, die sich als
neues Leitbild durchsetzen könnte, ist jedoch nicht in Sicht,
ebenso wenig wie eine allgemein akzeptierte Vorstellung
über eine richtige Lebensweise, wie sie das bürger-
liche Familienmodell lange geliefert hatte. Der politische, so-
ziale oder künstlerische Idealismus, Grundlage vieler früherer
Wohn bauprogramme, weicht oft einer pragmatischeren Hal-
tung. Etwas holzschnittartig gesagt: Es geht heute weniger
darum, den Menschen durch seine Wohnung neu zu formen,
als vielmehr um eine effiziente Bedienung des Wohnungs-
marktes.
Natürlich muss diese Aussage sogleich relativiert werden.
Auch heute gibt es Wohnbauprogramme, die darauf abzielen,
bestimmte Verhaltensweisen zu fördern und andere zu unter-
binden; auch heute wird versucht, mittels Wohnbaupolitik
Text: Judit Solt
Wohnzeitschriften haben Hochkonjunktur; Beiträge, die Ein-
blick in die Wohnsituation mehr oder minder prominenter
Zeitgenossen gewähren, zählen zu den beliebtesten Rubriken
seriöser Magazine und bunter Klatsch-Publikationen. Dieses
anhaltende Interesse für fremde Wohnräume lässt sich nicht
allein mit der Inspirationssuche für die Gestaltung des eige-
nen Heimes erklären. Mit der Wohnung werden auch die
Menschen begutachtet, die in ihr leben: Über deren Eigen-
tümlichkeiten sollen Grösse, Form und Einrichtung des Inte-
rieurs Auskunft erteilen.
Dies impliziert eine Interpretation der Privaträume als in-
dividuellen Ausdruck ihrer Bewohner. Dem tut auch die Tat-
sache keinen Abbruch, dass innerhalb einzelner Lifestyle-
Gruppen nicht nur der Kleidungsstil, sondern auch die Woh-
nungen verdächtig uniform sind: Schliesslich ist man in
westlichen Gesellschaften frei, sich zur einen oder anderen
«Szene» zu schlagen. Wie die Kleidung kann auch die Woh-
nung einer bis ins Theatralische gesteigerten privaten Selbst-
darstellung dienen. Was jedoch den Einblick in eine fremde
Wohnung so unwiderstehlich macht, ist mit der Anziehungs-
kraft einer Theateraufführung kaum vergleichbar. Ein Teil der
besonderen Faszination mag sicher darin liegen, dass die
Wohnung die Kulisse eines verbotenen, weil ursprünglich
nicht für Aussenstehende bestimmten Spektakels darstellt.
Der wahre voyeuristische Reiz gründet indes in der still-
schweigenden Annahme, dass diese Selbstdarstellung bis zu
einem gewissen Grad unwillkürlich und daher unverfälscht
sei: Zu Hause manifestiert sich die «wahre» Natur
eines jeden.
Pädagogisches Feuer, liberaler Pragmatismus
Das Verständnis der Wohnung als architektonischer Finger-
abdruck hat Tradition: Jahrzehntelang wurden nicht nur der
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1 Vom Werks -wohnungsbau des19. Jahrhundertsüber das NeueBauen bis hin zuGenossenschafts-siedlungen – dasKleinhaus nach demVorbild der bürger-lichen Villa wurdein verschiedenenVariationen ver-wirklicht.Grundrisse 1 : 200 im Vergleich
A Aktienbau vereinZürich: Grundrisseeines Ende des 19.Jahrhunderts vorallem in Zürich-Hottingen gebautenHauses. Nach demVorbild der Citéouvrière in Mul -house sind vier Woh -nungen kreuzweiseangeordnet, um aufeiner minimalenGrundfläche (ca.13,4 auf 11 Meter)möglichst unab-hängige Einheitenzu verwirklichen.
B MargareteSchütte-Lihotzky:zwei Häuser für die Werkbund-siedlung, Wien,1930 –32. DiequadratischeGrundfläche hateine Seitenlänge von6 Metern, dieFormensprache istdezidiert modern.Grundrisse undAnsicht
C Baugenossen-schaft Kleeweid:Überbauung Leim-bach-Tuschgenweg,Zürich, 1949. DieRaumanordnung istpragmatisch,die Formenspracheeher konservativ.Grundrisse undAnsicht
1 A
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60 archithese 4.2003
Berlin ist um eine architektonische Attraktion
reicher. I. M. Peis Anbau an das ehemalige
Zeughaus von Andreas Schlüter, der künftig
die Wechselausstellungen des Deutschen
Historischen Museums beherbergen wird,
zeugt von der Virtuosität des Altmeisters im
Spiel mit geometrischen Formen, platoni-
schen Körpern und räumlichen Wirkungen.
Anlässlich der Eröffnung des Grand Louvre 1989antwortete Ieoh Ming Pei auf die Frage, ob er nichteinmal in Deutschland bauen wolle: «Well, I do nocompetitions!» Nun hat er es also doch geschafft,sein einziges Gebäude in Deutschland: Das Deut-
sche Historische Museum (DHM) wurde nach sie-benjähriger Bau- und Planungszeit eingeweiht.Und ebenso wie in Frankreich erhielt der Architekteinen Direktauftrag vom höchsten Politiker; da-mals war es François Mitterrand, diesmal dessenFreund Helmut Kohl. Mit seiner zielstrebigen –oder besser: undemokratischen – Vorgehensweisehatte der französische Präsident nicht nur dengrössten Medienwirbel jener Jahre in Paris herauf-beschworen; die heftig ausgetragene Kontrover-se, vornehmlich zwischen dem linken und demrechten Lager, ist als «Pyramidenkrieg» in die Ge-schichte eingegangen. Von «Grössenwahn» (LeFigaro) bis «Disneyland an der Seine» (Le Mon-
de) reichten damals die Kommentare, bisschliesslich die «Vereinigung für die Renovierungdes Louvre» gegründet wurde, deren Ziel es war,das Projekt zu verhindern. Selbst als ein Modell inOriginalgrösse in der Mitte des Cour Napoléonaufgebaut wurde, konnten sich die erhitzten Ge-müter kaum beruhigen.Dass ein Chinese aus New York in ihr Allerhei-
ligstes eindringen sollte, war nicht nur für die loka-len Architekten ein harter Brocken. Der Streit umdie Erweiterung des Louvre hat sich zwar an deräusseren Form der Pyramide entzündet, im Grun-de ging es jedoch um die Frage, wie und nach wel-chen Prämissen ein modernes Museum geführtwerden sollte – und wie es auf das veränder-te Konsum- und Freizeitverhalten einer immerkunstinteressierteren Massengesellschaft reagie-ren könnte. Diese Debatte scheint mittlerweile ausdem letzten Jahrhundert zu stammen: Museensind längst fester Bestandteil der Tourismus -branche, und je mehr Menschen hineingehen,des to besser das Museum.Ganz anders als in Paris waren die Reaktionen
in Berlin: Bei der Eröffnung des Deutschen Histori-schen Museums hinterfragte kaum jemand dieEntscheidung, den Auftrag für den Bau dieses öffentlichen Gebäudes ohne Wettbewerb zu ver-geben. Zu gross ist der Erfolg des schmächtigen,seit 68 Jahren in Amerika lebenden Chinesen. Mitüber zwölf gebauten Museen auf drei Kontinenten,sowie mit drei weiteren, die der 86-jährige in Pla-nung hat, ist er der ungekrönte Star unter den Mu-seumsarchitekten. Ein Star ohne Allüren: Der stetsfreundliche Pei nimmt trotz seines Erfolgs und sei-nes hohen Alters jeden für sich ein – eine Haltung,die aus der Mode gekommen zu sein scheint. Soist es auch mit seinen Museen: Pei vermittelt, dasser für den Besucher baut. Seine Räume stimmeneinen heiter, zeugen vom sou veränen Umgang mitGeometrien, mit primär geometrischen Formen,spiegeln den Ort wider, an welchem sie stehen,lassen den Besucher zum Flaneur zwischen Kunstund Architektur werden – eine promenade archi-tecturale par excellence.
«between the two Schinkels»
Ebenso wie der Grand Louvre war auch das Berli-ner Gebäude von einer komplizierten historischenSituation, einer langwierigen Planungsgeschichteund einem komplexen politischen Kontext ge-zeichnet. Für Pei eine gezielte Herausforderung,als ortsfremder Architekt die «richtige» Lösung zupräsentieren. Die Planung geht auf das Jahr 1987zurück, in welchem anlässlich der 750-Jahr-FeierBerlins die Einrichtung eines Deutschen Histori-schen Museums beschlossen wurde, in bester
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
«Bescheiden im Massstab, monumental in der Wirkung»
IEOH MING PEINEUBAU FÜR DAS DEUTSCHE HISTORISCHE MUSEUMBERLIN, 2003
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1 LageplanA Neubau Wechselaus-
stellungsgebäudeB Neue WacheC ZeughausD Palais am Festungs
graben
2 Modell des Erwei -terungsbaues
3 Blick vom gläsernenTreppenhaus auf dieFassade des Schlüterbaus(Foto 3 + 4: UlrichSchwarz)
AD
B C
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