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Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, LXXXI. Jahrgang, Heft 1 (2014) © Franz Steiner Verlag Stuttgart Rezensionen ESTHER BAIWIR (2011): Atlas linguistique de la Wallonie, tome 17: Famille, vie et relations sociales. 160 notices, 66 cartes. Université de Liège: Presses universitaires de Liège, Sciences humaines. 421 S. € 150,– Mit Band 17 des wallonischen Sprachatlasses (kurz: ALW17) erschien 2011 der zehnte dieses traditionsreichen sprachgeographischen Projekts. Der erste Band wurde 1953 unter der Leitung von LOUIS REMACLE veröffentlicht, der neunte und bis dato letzte (Band 6) im Jahre 2006. Somit wurden bisher die Bände 1 bis 6, 8 und 9, 15 und 17 publiziert. Neben den genannten Bänden des ALW wurden auch drei dünne Faszikel eines „Petit atlas linguistique de la Wallonie“ (1990, 1992 und 1995) auf den Markt gebracht. 1 Bevor auf den vorliegenden Band selbst eingegangen wird, sollen ein paar Erläuterungen vorausgeschickt werden. Der wallonische Sprachatlas umfasst nicht nur das sprachliche Wal- lonien – den wallonischen Dialekt, der sich in West- und Zentralwallonisch (Provinz Namur) und Ostwallonisch (Provinz Lüttich) unterteilen lässt – sondern auch alle anderen romanischen Mundarten des geographischen Wallonien: das Pikardische im Westen, genauer gesagt in der Provinz Hennegau (Hainaut), was wiederum dem östlichen Teil des gesamten (sich vor allem auf Frankreich erstreckenden) pikardischen Dialektgebiets entspricht, und das lothringische Gebiet im Südosten Walloniens, also im Süden der Provinz Luxembourg, dem sogenannten Pays Gaumais. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Sprachatlanten der Galloromania besteht darin, dass erstens bei weitem nicht zu allen abgefragten Begriffen Karten abgebildet werden (im vorliegenden Band 66 Karten zu 160 Begriffen) und zweitens in den Karten nicht die dialektalen Bezeichnungen relativ zu den Punkten zu nden sind, sondern mit Symbolen für lexikalische Typen (Worttypen) gearbeitet wird; insofern liegen hier interpretierte Karten vor. Die Makrostruktur des ALW17 besteht aus dem Kernstück (S. 13–393), den 160 sprach- geographischen „Kommentaren“ (fr. notices), sowie folgenden Außentexten: einer Einleitung (S. 7–9), dem Verzeichnis der zitierten Werke (S. 10–12), dem Index der dialektalen Formen und lexikalischen Typen (S. 395–411), dem etymologischen Register, bestehend aus dem Index der Etyma (S. 411–415) und dem Index der Wörter unbekannter oder zweifelhafter Herkunft (S. 415–416), dem Kartenverzeichnis (S. 417–418), dem Inhaltsverzeichnis (S. 419–420) und einer Übersicht über die bereits erschienenen Bände. Die beiden wichtigsten Referenzwerke des ALW sind das „Französische Etymologische Wörterbuch“ (FEW), dessen Etymologien zum Teil verbessert und ergänzt werden, und der französische Nationalsprachatlas „Atlas linguistique de la France“ (ALF), dessen Punktenetz jedoch wesentlich grobmaschiger ist als dasjenige des ALW (638 Messpunkte für ganz Frankreich im ALF gegenüber 310 nur für Wallonien im ALW). Die dem Fragebuch des ALW17 zugrundeliegenden Begriffe haben mit den Aspekten des menschlichen Zusammenlebens zu tun: Familie (Begriffe 1 bis 55), Organisation des Lebens- raums (56–66), Arbeitsleben und Wirtschaft (67–81), freundschaftliche Beziehungen (82–93) und verschiedene Formen menschlicher Interaktion (94–160). Die weiteren Begriffsfelder in diesem Bereich werden in Band 18 behandelt werden, in denen die Materialien zu den Themen „Spiele, Fest(tag)e, Glauben und spirituelles Leben“ verarbeitet werden. In den 160 Kommentaren des ALW17 wurden alle Antworten zu den 185 gestellten Fragen vollständig publiziert. Zu einigen Begriffen werden interpretierte Karten präsentiert, so zur notice 35, ls ‘Sohn’ (S. 81–82, Karte 11), die im Folgenden etwas näher erläutert werden soll: Zuerst wird Bezug genommen auf die Fragen, in denen das Lexem ls des „Questionnaire“ (Q. G. = questionnaire général) vorgegeben wurde, hier „J’ai vu leur lle Jeanne, leur ls Jean“ 1 Der ALW wurde bereits mehrfach besprochen; vgl. insbesondere die Rezensionen von KRAMER (2008) und THIBAULT (2010) zu Band 6 sowie THIBAULT (2013) zu Band 17. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, LXXXI. Jahrgang, Heft 1 (2014)© Franz Steiner Verlag Stuttgart

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ESTHER BAIWIR (2011): Atlas linguistique de la Wallonie, tome 17: Famille, vie et relations sociales. 160 notices, 66 cartes. Université de Liège: Presses universitaires de Liège, Sciences humaines. 421 S. € 150,–

Mit Band 17 des wallonischen Sprachatlasses (kurz: ALW17) erschien 2011 der zehnte dieses traditionsreichen sprachgeographischen Projekts. Der erste Band wurde 1953 unter der Leitung von LOUIS REMACLE veröffentlicht, der neunte und bis dato letzte (Band 6) im Jahre 2006. Somit wurden bisher die Bände 1 bis 6, 8 und 9, 15 und 17 publiziert. Neben den genannten Bänden des ALW wurden auch drei dünne Faszikel eines „Petit atlas linguistique de la Wallonie“ (1990, 1992 und 1995) auf den Markt gebracht.1

Bevor auf den vorliegenden Band selbst eingegangen wird, sollen ein paar Erläuterungen vorausgeschickt werden. Der wallonische Sprachatlas umfasst nicht nur das sprachliche Wal-lonien – den wallonischen Dialekt, der sich in West- und Zentralwallonisch (Provinz Namur) und Ostwallonisch (Provinz Lüttich) unterteilen lässt – sondern auch alle anderen romanischen Mundarten des geographischen Wallonien: das Pikardische im Westen, genauer gesagt in der Provinz Hennegau (Hainaut), was wiederum dem östlichen Teil des gesamten (sich vor allem auf Frankreich erstreckenden) pikardischen Dialektgebiets entspricht, und das lothringische Gebiet im Südosten Walloniens, also im Süden der Provinz Luxembourg, dem sogenannten Pays Gaumais. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Sprachatlanten der Galloromania besteht darin, dass erstens bei weitem nicht zu allen abgefragten Begriffen Karten abgebildet werden (im vorliegenden Band 66 Karten zu 160 Begriffen) und zweitens in den Karten nicht die dialektalen Bezeichnungen relativ zu den Punkten zu fi nden sind, sondern mit Symbolen für lexikalische Typen (Worttypen) gearbeitet wird; insofern liegen hier interpretierte Karten vor.

Die Makrostruktur des ALW17 besteht aus dem Kernstück (S. 13–393), den 160 sprach-geographischen „Kommentaren“ (fr. notices), sowie folgenden Außentexten: einer Einleitung (S. 7–9), dem Verzeichnis der zitierten Werke (S. 10–12), dem Index der dialektalen Formen und lexikalischen Typen (S. 395–411), dem etymologischen Register, bestehend aus dem Index der Etyma (S. 411–415) und dem Index der Wörter unbekannter oder zweifelhafter Herkunft (S. 415–416), dem Kartenverzeichnis (S. 417–418), dem Inhaltsverzeichnis (S. 419–420) und einer Übersicht über die bereits erschienenen Bände. Die beiden wichtigsten Referenzwerke des ALW sind das „Französische Etymologische Wörterbuch“ (FEW), dessen Etymologien zum Teil verbessert und ergänzt werden, und der französische Nationalsprachatlas „Atlas linguistique de la France“ (ALF), dessen Punktenetz jedoch wesentlich grobmaschiger ist als dasjenige des ALW (638 Messpunkte für ganz Frankreich im ALF gegenüber 310 nur für Wallonien im ALW).

Die dem Fragebuch des ALW17 zugrundeliegenden Begriffe haben mit den Aspekten des menschlichen Zusammenlebens zu tun: Familie (Begriffe 1 bis 55), Organisation des Lebens-raums (56–66), Arbeitsleben und Wirtschaft (67–81), freundschaftliche Beziehungen (82–93) und verschiedene Formen menschlicher Interaktion (94–160). Die weiteren Begriffsfelder in diesem Bereich werden in Band 18 behandelt werden, in denen die Materialien zu den Themen „Spiele, Fest(tag)e, Glauben und spirituelles Leben“ verarbeitet werden. In den 160 Kommentaren des ALW17 wurden alle Antworten zu den 185 gestellten Fragen vollständig publiziert.

Zu einigen Begriffen werden interpretierte Karten präsentiert, so zur notice 35, fi ls ‘Sohn’ (S. 81–82, Karte 11), die im Folgenden etwas näher erläutert werden soll:

Zuerst wird Bezug genommen auf die Fragen, in denen das Lexem fi ls des „Questionnaire“ (Q. G. = questionnaire général) vorgegeben wurde, hier „J’ai vu leur fi lle Jeanne, leur fi ls Jean“

1 Der ALW wurde bereits mehrfach besprochen; vgl. insbesondere die Rezensionen von KRAMER (2008) und THIBAULT (2010) zu Band 6 sowie THIBAULT (2013) zu Band 17.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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(‘Ich habe ihre Tochter Jeanne, ihren Sohn Jean gesehen’) (Frage 1244) und „quand mon fi ls sera grand, je l’enverrai à Liège“ (‘Wenn mein Sohn groß ist, werde ich ihn nach Lüttich schicken’) (Frage 1940). Danach werden summarische Kommentare gegeben: dazu etwa, dass sich neben marginalen Worttypen vor allem drei lexikalische Haupttypen, typographisch markiert durch hochgestellte Klammern, zum Beispiel ┌fi ls┐ (im Folgenden jedoch in Kursivsetzung), das ge-samte Terrain teilen: fi ls (A) im ureigenen wallonischen Dialektgebiet und in einigen Teilen des Hennegau, garçon (‘Junge’) (B) im pikardischen Mundartgebiet und valet (‘Diener, Knecht’) (C) im lothringisch geprägten Süden. Weitere Formen (D bis F) erscheinen sporadisch und wurden meist nur als zweite Antwort gegeben; sie sind markiert und nicht immer begriffl ich äquivalent, was bedeutet, dass BAIWIR neben einer onomasiologischen immer auch eine semasiologische Perspektive einnehmen musste. So sind die lexikalischen Typen gamin (‘Kind’ [ugs.]) (D), cra-paud (‘Kind’ [ugs.], ursprüngliche Bedeutung ‘Kröte’) (E) und jambot (‘Kind’ [ugs.]) (F) eher affektisch konnotiert, was sich daran ablesen lässt, dass sie häufi ger bei Frage 1940, bei der es um das eigene Kind geht, erhoben wurden. Im Falle der ebenfalls nur vereinzelt auftretenden Worttypen G bis I (petit ‘Kleiner’, enfant ‘Kind’ und jeune homme ‘junger Mann’) handle es sich um Hyperonyme.

Ein sprachgeographischer Kommentar wie derjenige zu fi ls enthält ferner die folgenden Elemente:

– Verweise auf analoge Begriffe im selben Band (garçon, gamin)– Verweise auf die entsprechenden Karten im Nationalatlas (ALF) und den Regionalatlanten

der Galloromania, hier den pikardischen (ALPic) und lothringischen Atlas (ALLR), sowie auf Dialektmonographien (hier die Studie BRUNEAUS zu den Ardennen)

– zu jedem lexikalischen Typ die dialektale Form mit Angabe des Kürzels des Arrondissements (Arr.) und den jeweiligen Messpunkten. So ist fi etwa an Punkt 44 des Arr. Mo (Mons) und an sechs Punkten des Arr. Ch (Charleroi) – beide in der Provinz Hennegau gelegen – belegt, die phonologisch typisch pikardische Form auf ieu (fi eu, fi eû) hingegen entsprechend in den westlichen Arrondissements der genannten Provinz (Tournai, Mons, Ath). Der pikardische Worttyp garçon ist zudem in den ebenfalls erfassten Ortschaften Comines, Tourcoing, Wamb-rechies und Ascq im Département Nord auf französischem Staatsgebiet auf der Karte vermerkt

– etymologische Klärungen, basierend auf dem FEW, aber auch auf anderen Quellen

In anderen notices wie derjenigen zum Begriff bavarder (‘schwatzen’) (Nr. 113, ohne Karte), zu dem es eine große Anzahl dialektaler Bezeichnungen gibt, werden ausführliche semasiologische Kommentare gegeben, die semantische Besonderheiten, meist in Verbindung mit einem spezifi -schen syntagmatischen Kontext der Dialektbezeichnung, sprachgeographisch (also mit Angabe von Arrondissements und Messpunkten) inventarisieren. Gerade an diesem Beispiel kann die Akribie, mit der die Autorin die dialektologische Vielfalt, den semantischen und pragmatischen Wert der Formen, die etymologische Komplexität und die kulturellen und historischen Spezifi ka behandelt, gut aufgezeigt werden. Man vergleiche etwa die in notice 145 untersuchte Redensart quand les poules auront des dents (in etwa ‘wenn Ostern und Pfi ngsten auf einen Tag fallen’, wörtlich ‘wenn die Hühner Zähne haben [werden]’), die in den Dialekten ethnographisch höchst interessante Formen, die wiederum für semantische Konzeptualisierungen stehen, hervorgebracht hat: zum Beispiel ‘wenn die Hühner auf Krücken gehen’, ‘[…] auf Weidenbäumen/Misthaufen Eier legen’, ‘[…] wie ein Hahn krähen’, ‘wenn die Frösche Schwänze haben’, ‘wenn die Woche zwei Donnerstage hat’, ‘an Sankt-Niemals’ (à Saint-Jamais), was dem deutschen ‘am Sankt-Nimmerleins-Tag’ entspricht (und vieles andere mehr). Auch werden regionale Derivate und Kollokationen verzeichnet, so zum Beispiel zu français (notice 101) die Verben fransquiner/franskiner, franskilioner, franskilogner (‘in affektierter Weise Französisch [anstelle von Wallo-nisch] sprechen’, im TLFi als fransquillonner registriert, welches dort auch ‘schlecht Franzö-sisch sprechen’ bedeutet), péter le français (‘auf übertriebene und unnatürliche Art Französisch sprechen’, wörtlich ‘Französisch furzen’).

BAIWIR konnte in ihrem ALW17 als allgemeine Beobachtung festhalten, dass im Begriffs-feld der sozialen Beziehungen vor allem Quasi- und Parasynonyme vorherrschen (S. 7). Dies

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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gilt insbesondere für Begriffe, die an einen semantisch negativen Kontext geknüpft sind, zum Beispiel faire déguerpir (‘verjagen’) (notice 99), zu dem mehr als 40 Worttypen erhoben werden konnten, oder für Begriffe, die Verwandtschaftsbeziehungen ausdrücken. Auffällig oft konnten Reduplikationen festgestellt werden, zum Beispiel für ‘Onkel’ (oncle) non.nonke und non.non (aus mon oncle) (S. 97). Ein ähnlich frequentes Muster sind Agglutinationen (meist auf der Basis des Possessivpronomens). Oft verliert das agglutinierte Lexem, wie ma-tante (Varianten ma-tâte, ma-tonte), welches aus ma tante ‘meine Tante’ entstanden ist, jedoch nur noch ‘Tante’ bedeutet, die ursprünglich affektische Konnotation und wurde zum Normalwort (S. 97–98); es hat zudem nante ersetzt, welches seinerseits eine Agglutination aus mon-ante (mon ‘meine’ und ante aus lat. Amita ‘Tante’) darstellte und nur noch marginal in Erscheinung tritt.

Einige abschließende Bemerkungen noch zum Atlasprojekt selbst: Die Materialien basieren größtenteils auf den Sprachaufnahmen, die JEAN HAUST zwischen 1924 und 1946 mit einem 2.100 Fragen umfassenden Fragebuch durchführte, das an den „Questionnaire“ JULES GILLIÉRONS für den „Atlas linguistique de la France“ und denjenigen CHARLES BRUNEAUS für die „Enqûete linguistique sur les patois d’Ardenne“ angelehnt war. Von den geplanten 400 Aufnahmepunk-ten wurden insgesamt 310 erfasst (210 von HAUST, danach, bis 1959, die restlichen von seinen Nachfolgern unter der Ägide von LOUIS REMACLE) (BAIWIR 2012, 46–47). Für den ALW waren und sind 20 Bände geplant. Zehn davon sind, wie gesagt, erschienen, die Materialien für die Bände 12 bis 14 sind bereits inventarisiert bzw. zum Teil auch digitalisiert; Band 18 soll 2016 erscheinen (vgl. BAIWIR 2012, 50, 63–65). Es versteht sich von selbst, dass die Publikation eines jeden Bandes von der Ausfi nanzierung der damit verbundenen Kosten abhängt. Es kann daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass der belgische „Fonds national de la Recherche Scientifi que“ das Erscheinen des hier besprochenen, qualitativ exzellenten Bandes 17 des wal-lonischen Sprachatlasses ermöglichen konnte. Es wäre dem Projekt zu wünschen, dass dies auch für die noch ausstehenden Bände zutrifft. Damit wäre der ALW auch in den nächsten Jahren der wichtigste Aktivposten der ansonsten praktisch zum Erliegen gekommenen galloromanischen Sprachgeographie.

LITERATUR

ALF = GILLIÉRON, JULES / EDMONT EDMONT (1902–1914): Atlas linguistique de la France. 10 Bände. Paris: Champion.

ALLR = LANHER, JEAN / ALAIN LITAIZE / JEAN RICHARD (1979–1988): Atlas linguistique et ethnogra-phique de la Lorraine romane. 4 Bände. Paris: Centre National de la Recherche Scientifi que.

ALPic = CARTON, FERNAND / MAURICE LEBÈGUE (1998–1997): Atlas linguistique et ethnographique picard. 2 Bände. Paris: Centre National de la Recherche Scientifi que.

BAIWIR, ESTHER (2012): L’Atlas linguistique de la Wallonie à mi-parcours. État des lieux et perspectives. In: Bulletin de la Commission Royale de Toponymie et de Dialectologie LXXXIV, 43–66. URL: <http://www.orbi.ulg.ac.be/handle/2268/153784>; Stand: 30.12.2013.

BRUNEAU, CHARLES (1914–1926): Enquête linguistique sur les patois d’Ardenne. 2 Bände. Paris: Champion.

FEW = WARTBURG, WALTHER VON (1922–2002): Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes. 25 Bände. Bonn: Schroeder / Basel: Zbinden (teilweise zugänglich unter <http://www.atilf.fr/spip.php?article168>).

KRAMER, JOHANNES (2008): Rezension zu: MARIE-GUY BOUTIER / MARIE-THÉRÈSE COUNET / JEAN LECHANTEUR: Atlas linguistique de la Wallonie, tome 6: La terre, les plantes et les ani-maux (1re partie). Université de Liège: Faculté de Philosophie et Lettres 2006. In: Zeitschrift für romanische Philologie 124, 159–161.

THIBAULT, ANDRÉ (2010): Rezension zu: MARIE-GUY BOUTIER / MARIE-THÉRÈSE COUNET / JEAN LECHANTEUR: Atlas linguistique de la Wallonie, tome 6: La terre, les plantes et les animaux (1re partie). Université de Liège: Faculté de Philosophie et Lettres 2006. In: Revue de linguistique romane 74, 255–257.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, LXXXI. Jahrgang, Heft 1 (2014)© Franz Steiner Verlag Stuttgart

THIBAULT, ANDRÉ (2013): Rezension zu: ESTHER BAIWIR: Atlas linguistique de la Wallonie, tome 17: Famille, vie et relations sociales. Université de Liège: Presses universitaires de Liège, Sciences humaines 2011. In: Revue de linguistique romane 77, 575–557.

TLFi = Trésor de la Langue Française informatisé (2002 ff.). Paris, Nancy, CNRS, Université de Nancy 2, ATILF. URL: <http://www.atilf.atilf.fr>; Stand: 31.12.2013.

Düsseldorf ELMAR SCHAFROTH

INA BORNKESSEL-SCHLESEWSKY / MATTHIAS SCHLESEWSKY (2009): Processing Syntax and Morphol-ogy. A Neurocognitive Perspective. Oxford: Oxford University Press. 360 S. (Oxford Surveys in Syntax and Morphology). € 36,95

Das Buch macht es sich zur Aufgabe, einen Überblick über den Stand der Forschung im Bereich der morphologischen und syntaktischen Verarbeitung aus einer neurokognitiven Perspektive zu geben. Genau dieser Blickwinkel, der sich den kognitiven Prozessen und Strukturen widmet, mit denen Menschen Sprache verarbeiten, erlebte seit den 1990er Jahren einen enormen Aufschwung. Es war dies die Zeit, die auch als decade of the brain bezeichnet wird, und in der vor allem aus der kognitiven Neuropsychologie entlehnte Methoden wie Elektroenzephalographie (EEG), Ma-gnetenzephalographie (MEG) und funktionale Magnetresonanztomographie (fMRT) erstmals in großem Maßstab für die Erforschung der menschlichen Sprachverarbeitung herangezogen wurden. In der Zwischenzeit ist die Menge an Forschungsliteratur auf diesem Gebiet immens und nicht nur für den fachfremden Laien schwer zu überblicken. Ein wesentliches Verdienst des Buches ist es, diese schier unüberschaubare Vielzahl an Studien und deren Befunde systematisch und gut strukturiert zu erfassen und damit grundlegende Eigenschaften der Verarbeitung von morpho-logischen und syntaktischen Strukturen zu skizzieren. Auf diese Weise gelingt es, den enormen Erkenntniszuwachs, der auf diesem Gebiet in den letzten zwei Jahrzehnten zu verzeichnen ist, nachvollziehbar und pointiert zusammenzufassen, ohne dabei, wenn nötig, wichtige Detailtiefe bei einzelnen Phänomenen vermissen zu lassen.

Die Ausführungen im Buch sind insgesamt in 16 Kapitel gegliedert, die, nach einer metho-dologischen Einführung zu Beginn, inhaltlich unter vier große Teile subsummiert werden. Im ersten Teil wird die morpho-syntaktische Verarbeitung auf Wortebene betrachtet, im zweiten die Verarbeitung auf Satzebene, der dritte Teil widmet sich der Verarbeitung an den Schnittstellen und im vierten schließlich werden neurokognitive Modelle der syntaktischen und morphologischen Verarbeitung vorgestellt und diskutiert. Die Kernpunkte dieser Kapitel sollen im Folgenden umrissen werden.

Nach einer Einleitung in Kapitel 1 widmet sich Kapitel 2 methodischen Voraussetzungen. Zum einen werden in ihm die technischen Hintergründe einzelner neurokognitiver Methoden erläutert, wie auch deren Vor- und Nachteile beschrieben. Im Einzelnen sind dies Elektroenze-phalographie (EEG) und Magnetoenzephalographie (MEG), die beide eine sehr hohe zeitliche Aufl ösung im Millisekundenbereich bieten, die aber nur sehr begrenzt Rückschlüsse über die räumliche Anordnung der Quellen dieser Signale erlauben. Im Gegensatz dazu werden die funk-tionale Magnetresonanztomographie (fMRT), Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und transkranielle Magnetstimulation (TMS) als Methoden vorgestellt, die es erlauben, räumlich zum Teil sehr präzise jene neuronalen Strukturen zu identifi zieren, die bei Sprachverarbeitung aktiv sind. Ein wesentlicher Nachteil dieser letztgenannten Methoden besteht ohne Zweifel in der sehr groben temporalen Aufl ösung von mehreren Sekunden. Zum anderen wird in diesem Kapitel aber auch die Interpretationskraft von empirischen Befunden, die mit diesen Methoden erzielt werden, kritisch beleuchtet. So wird unter anderem darauf hingewiesen, dass etablierten Komponenten im EEG (sogenannten ereignis-korrelierten Potentialen, EKP) funktional sehr unterschiedliche Prozesse zugrunde liegen können. Eine Tatsache, die als zentraler Punkt von den Autoren auch in den folgenden Kapiteln immer wieder aufgegriffen wird. Ebenso wird auf

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den generellen korrelativen Charakter neurokognitiver Daten eingegangen. Der Zusammenhang zwischen präsentiertem Stimulus und gemessenem Signal ist immer der einer Korrelation und nicht (zwingend) kausal. Eine Tatsache, die bei der Interpretation neurokognitiver Daten nie aus den Augen verloren werden sollte. Der letzte Teil dieses Kapitels widmet sich ergänzend der Darstel-lung einiger ausgewählter behavioraler Methoden, wodurch eine Verbindung zum „klassischen“ behavioralen Blick auf die Sprachverarbeitungsforschung geschaffen wird. Die Vorzüge dieses einleitenden Teils des Buches bestehen vor allem darin, dass ein wichtiges Grundverständnis für die neurokognitiven Methoden geschaffen wird, das unerlässlich ist, um die später besprochenen empirischen Befunde adäquat interpretieren zu können und die eigenen Modellierungsvorschläge der Autoren nachzuvollziehen. Dabei fällt positiv auf, dass die Darlegungen knapp und präzise sind, ohne sich in technischen Details zu verlieren, aber gleichzeitig tief genug reichen, um auch methodische Grenzen aufzuzeigen.

Der erste größere inhaltliche Teil beginnt mit Kapitel 3, das zunächst die grundlegende Unterscheidung der Wortarten Nomen und Verb bei der Verarbeitung untersucht. Fazit ist, dass empirisch beobachtbare Unterschiede ursächlich eher auf differierenden Flexionseigenschaften als auf kategorialen Eigenschaften beruhen können. Anschließend werden in den Kapiteln 4 und 5 Flexions- und Derivationsmorphologie besprochen und in Kapitel 6 die Befunde der morpho-syntaktischen Verarbeitung auf Wortebene kritisch zusammengefasst. Die Autoren umreißen die allseits bekannte Debatte zwischen „Regel versus Lexikon“, die um die Frage kreist, ob morpho-syntaktische Verarbeitungsprozesse auf Wortebene eher regel- oder netzwerkbasiert zu modellieren sind (beziehungsweise ob eine holistische oder dekomponierte Repräsentation und Verarbeitung morphologisch komplexer Ausdrücke anzunehmen ist). Für die Verarbeitung von sowohl Flexions- als auch Derivationsmorphologie kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die bisher erbrachte empirische Evidenz für die Existenz von kombinatorischen morphologischen Prozessen spricht, und dass morphologische Effekte nicht allein auf orthographischen, phonolo-gischen oder semantischen Effekten beruhen können. Sie betonen aber auch ihre Beobachtung, dass die empirischen Ergebnisse auf diesem Gebiet alles andere als konsistent sind. Unter diesem Licht kann nach Ansicht der Autoren die traditionelle funktionale Zuordnung von EKP-Komponenten nicht ohne essentielle Modifi kationen aufrechterhalten werden. Vielmehr wird die Auffassung vertreten, dass neurokognitive Methoden und deren empirische Befunde instruktiv für neue neurokognitiv motivierte Modellierungen von Sprachverstehensprozessen sein sollten, anstatt psycholinguistisch oder kognitiv motivierte Hypothesen zu testen. Eine Perspektive, die sich auch durch alle weiteren Kapitel des Buches zieht und die folgerichtig in der Darstellung solcher Modellierungsvorschläge im letzten Teil des Buches mündet.

Der zweite Teil, die Verarbeitung auf Satzebene, stellt inhaltlich wie auch vom Umfang her den Hauptteil des Buches dar. In den sechs Kapiteln dieses Teils werden nacheinander folgende Themen behandelt: 7. Mapping Form into Meaning: The Requirements for a Sentence Processor, 8. Constituent Structure, 9. Relational Structure, 10. The Processing of Complex Structures, 11. The Processing of Modifi ers, 12. On the Functional Interpretation of Late Positive ERP Effects in Language Processing.

Die Ausführungen und Diskussionen in diesen Kapiteln werden von den Autoren auf der Grundlage einer sehr breiten empirischen Basis geführt. Hierfür werden sowohl eine Reihe unter-schiedlicher Sprachen betrachtet (neben dem in der Forschung omnipräsenten Englisch, Deutsch und Niederländisch auch typologisch entferntere Sprachen wie Hindi, Chinesisch, Avar und vieles mehr), als auch verschiedene neurokognitive Methoden berücksichtigt. Die Autoren umreißen dabei die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage des Verhältnisses von semantischer versus syntaktischer Information bei der Verarbeitung, beziehungsweise ob die Sprachverstehensprozesse auf dieser Ebene adäquater modular oder interaktiv modellierbar sind. (Die Art der Diskussion, die hier bezüglich der Verarbeitung auf Satzebene geführt wird, ist dabei der entsprechenden Debatte auf Wortebene recht ähnlich, die als zentrale Frage der Verarbeitung die Distinktion „Regel oder Lexikon“ behandelt.) Wie unter anderem in der thematischen Widmung eines ganzen Kapitels in diesem Teil, nämlich Kapitel 12, deutlich wird, liegt ein weiterer Fokus der Darlegungen der Autoren auf einer Kritik an den traditionellen Messgrößen neurokognitiver Methoden, besonders

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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der elektrophysiologisch basierten EKP. Sie argumentieren zum Beispiel, dass die sogenannte späte Positivierung (late positivity, P600) eine Vielzahl unterschiedlicher ursächlicher Faktoren subsumiert. Folgerichtig argumentieren die Autoren dafür, dass feinkörnigere Analysen dieser Komponente helfen könnten, die verschiedenen, sehr unterschiedlichen „members of the ‚P600 family‘“ (S. 230) zu unterscheiden, wodurch die ebenfalls berichteten sehr uneinheitlichen em-pirischen Befunde für diese Komponente besser erklärbar wären.

Teil drei des Buches erweitert die bisher angestellten Betrachtungen zu den Kernbereichen morpho-syntaktischer Verarbeitung hin zu Bereichen, die eher an der Peripherie zu verorten sind. In Kapitel 13 wird die Rolle der Prosodie bei der morpho-syntaktischen Verarbeitung besprochen und in Kapitel 14 die der Informationsstruktur.

Den inhaltlichen Abschluss des Buches bildet der vierte Teil, in dem vier verschiedene neu-rokognitive Modelle des Sprachverstehens vorgestellt werden: das declarative/precedural model von ULLMAN (2004), das memory, unifi cation, and control (MUC) framework von HAGOORT (2003) und das neurocognitive model of auditory sentence comprehension von FRIEDERICI (1995). Diesen drei Modellen wird das von den Autoren selbst vorgeschlagene Modell, das extended argument dependency model (eADM), gegenübergestellt, dessen Entstehung sich nicht zuletzt aus den in den vorangehenden ausführlichen Darlegungen und Diskussionen der sowohl methodisch als auch empirisch breit aufgestellten Befunde gründet. Die Autoren stellen heraus, dass es das wesentliche Merkmal des eADM ist, dass es ein Modell der Syntax-Semantik-Schnittstelle auf Satzebene ist, womit es sich auch von den erstgenannten Modellen abhebt.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Buch von INA BORNKESSEL-SCHLESEWSKY und MATTHIAS SCHLESEWSKY zweierlei leistet: Einerseits stellt es sowohl knapp und präzise die methodischen Grundlagen neurokognitiver Forschung dar und gibt, auf Grundlage einer breiten empirischen Basis, einen Überblick über die Ergebnisse dieser Forschung zum Sprachverstehen in Morpho-logie und Syntax. Andererseits kombiniert es diesen Überblick über die Forschungslage mit dem technischen Verständnis der angewandten Methoden, um daraus sowohl Vorschläge für eine ei-gene neurokognitive Modellierung (eADM) abzuleiten, als auch methodologische Anpassungen (Revision/Verfeinerung der EKP-Komponenten) vorzuschlagen.

LITERATUR

FRIEDERICI, ANGELA D. (1995): The time course of syntactic activation during language processing: A model based on neuropsychological and neurophysiological data. In: Brain and Language 50, 259–281.

HAGOORT, PETER (2003): How the brain solves the binding problem for language: A neurocom-putational model of syntactic processing. In: Neuroimage 20, 18–29.

ULLMANN, MICHAEL T. (2004): Contributions of memory circuits to language: The declarative/procedural model. In: Cognition 92, 231–270.

Leipzig ANDREAS OPITZ

EKKEHARD FELDER / MARCUS MÜLLER / FRIEDEMANN VOGEL (Hg.) (2011): Korpuspragmatik. Thema-tische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen. Berlin: De Gruyter. 571 S. (Linguistik – Impulse & Tendenzen. 44). € 129,95

Der Sammelband ist aus Anlass des im Aufbau befi ndlichen Heidelberger Text- und Gesprächskor-pus (HeideKo) entstanden. Dabei handelt es sich um eine multimodale Datenbank mit Printtexten, Bildern, Audio- und Videoaufzeichnungen sowie Transkriptionen aus überwiegend massenme-dialen, in deutscher Sprache geführten Diskursen zu gesellschaftsrelevanten Konfl ikten (zum Beispiel „Aktuelle Debatten der Bioethik, Bau und Fall der Mauer / die Deutsche Einheit sowie

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Rechtsnormierungskonfl ikte im laufenden Gesetzgebungsverfahren der Online-Durchsuchung“, URL: <http://www.gs.uni-heidelberg.de/sprache02/hd_korpus.html>, Zugriff: 27.10.2013). Das Korpus versteht sich im Wesentlichen als Ressource für interdisziplinäre, sowohl qualitative als auch quantitative Forschungen: Sei es, dass Korpusnutzer/-innen eigene Datensätze mit den the-menspezifi schen Korpora kontrastieren; sei es, dass sie die bereitgestellten Analyseinstrumente für eigene Arbeiten mit den Korpora verwenden und damit gegebenenfalls auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung diskurs- und soziolinguistischer Methoden leisten (S. V, 15–16). Eine Online-Nutzung des Korpus ist derzeit leider noch nicht möglich.

Der Band ist in drei Teile untergliedert: 1) Methoden und Zugänge, 2) Studien und Ergebnisse sowie 3) Korpora und Projekte. In jedem Abschnitt befi nden sich mehrere Artikel, die aus Arbeiten am „Heidelberger Korpus“ (HeideKo) hervorgegangen sind und als Erstes besprochen werden sollen (I). Es folgt eine Diskussion der Beiträge aus anderen Projekten, in denen verschiedene korpuspragmatische Ansätze vorgestellt werden (II). Den Abschluss bildet eine kritische Einord-nung und Würdigung des Sammelbandes (III). Im Zentrum meiner Rezension steht die mit den beschriebenen Datenbankstrukturen ermöglichte sowie die mit den Korpusrecherchen erzielte beziehungsweise avisierte Qualität und Reichweite der Ergebnisse.

(I) Das „Heidelberger Korpus“ dient der Analyse von „sprachlichen Mitteln und Mustern im Spiegel von kontextabstrahierten Verwendungssituationen“ (S. 19) sowie der Erhellung von Form–Funktions-Korrelationen, die Rückschlüsse auf „Phänomene der Handlungstypik“ erlau-ben (S. 4). Darüber hinaus ist der Nachweis von Funktions–Form-Korrelationen beabsichtigt, um bestimmte Sprachstrukturen den bereits „typisierten Sprachgebrauchs- und Handlungskon-stellationen“ zuordnen zu können (S. 17). Im Gegensatz zu korpuslinguistischen Ansätzen, die sich auf die alleinige Beschreibung sprachlicher Teilstrukturen beschränken (zum Beispiel die Korpuslexikologie), zeichnet sich das HeideKo durch eine engere thematische Eingrenzung und die Bereitstellung detaillierter Kontextinformationen zu den „Dimensionen H a n d l u n g, G e s e l l s c h a f t und K o g n i t i o n“ aus (S. 4, Hervorhebungen im Original). Als gegebenen-falls kontextrelevante Annotationen nennen FELDER / MÜLLER / VOGEL „Text-, Gesprächs- bzw. Bildsorte, Oberthema, Redegegenstand, situatives Setting sowie akteursbezogene Daten wie Akteursberuf und -institution, Sprecherrolle und soziale Rolle“ (S. 16).

Um die von den Herausgebern intendierten Analysen von Form–Funktions-Korrelationen hinsichtlich Situation, Akteuren, Handlungen und Wirkungen adäquat zu beschreiben, zu inter-pretieren und zu bewerten, scheint die Heranziehung einer sozio-integrativen Orientierungsmatrix in Verbindung mit den jeweils korpusrelevanten Handlungstheorien angeraten. Denn erst auf der Basis einer wissenschaftstheoretisch fundierten Matrix lassen sich datenrelevante Informatio-nen aufgrund ihrer sozialen Realitätsdimensionen adäquat gruppieren, fehlende Informationen mithilfe von Brücken- (ESSER 1999, 15–16, 403) und Aggregationshypothesen (vgl. GRESHOF / SCHIMANK 2013) inferieren und die aus dem Handeln hervorgehenden Effekte „verstehend er-klären“ (WEBER 1988 [1922], vgl. COLEMAN 1990). Auf diese Weise können Pragmalinguisten zu jenen Ergebnissen vordringen, die in l i n g u i s t i s c h e n Korpusarbeiten ausgeblendet bleiben. Die neueren Arbeiten zur theoretischen Soziologie sind in linguistischen Disziplinen aber offen-bar wenig bekannt, obwohl diese doch den von einer Korpuspragmatik intendierten Mehrwert entscheidend befördern könnten; insbesondere wenn es darum geht, „Sprache grundsätzlich in einem e x p l i k a t i v e n Feld zu verorten“ (S. 6, Hervorhebungen durch U. D.).

Die Formulierung kausaler Sachverhaltsverknüpfungen (S. 153) steht denn auch im Zentrum der von EKKEHARD FELDER durchgeführten semi-automatischen Korpusrecherchen, die sich am Prozedere des abduktiv-deduktiv-induktiven Syllogismusʼ (vgl. PEIRCE) orientieren (S. 125–126). Zum Beispiel versucht er, mithilfe ,verstehend erklärender‘, wissenschaftstheoretisch noch weiter abzusichernder Hypothesen intertextuelle Transformationen des Ausspruchs von WALTER ULBRICHT am 15. Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ nachzuweisen und somit die Herausbildung eines neuen Idioms zu belegen (S. 160–163). Ein anderes Recherchebeispiel verdeutlicht, wie Kookkurenzprofi le sachverhaltsspezifi scher Kollokationen in Verbindung mit konzessiven und adversativen Konnektoren herausgefi ltert und die „Strittigkeit von Aussagen“ ebenso wie der handlungsleitende Charakter bestimmter Konzepte in der Medienberichterstattung

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untersucht werden (S. 152–160), um diesbezügliche Ergebnisse für „Wirkungshypothesen“ nutzen zu können (S. 156). Welche Interpretationsarbeit bereits nach den ersten, vergleichsweise schnellen Sortierungen auf Korpusnutzer/-innen zukommt, illustriert unter anderem eine Kotext-Analyse des Lexems Gerechtigkeit (S. 157–159), die allenfalls am Beginn der Erschließung pragma-semiotischer (einschließlich ,verstehend erklärender‘) Bedeutungsgehalte steht (S. 127–130).

Auch die durchweg gut belegten Ergebnisse und Interpretationsversuche von MARKUS MÜLLER bieten sich für eine wissenschaftstheoretische Ausdifferenzierung an: Er will unter anderem die Bedingungen analysieren, unter denen Akteure in Bioethik-Debatten unterschiedliche Wir- und Fremdgruppen-Formationen anhand des possessiven Determinativs formulieren. Ein von anderen Berufsgruppen abweichender Befund, wonach Biologen inkludierende Possessivkonstruktionen eher zu vermeiden scheinen, deutet und erklärt er in folgender Weise: „Wenn man um die von Biologen selbst oft beklagte Missachtung von Biologen und deren Positionen im öffentlichen Medien-, insbesondere Printmediendiskurs weiß, dann ergibt sich aus dem hier präsentierten Befund ein möglicher Ansatz dies aus dem öffentlichen Sprachgebrauch der Forscher zu erklä-ren“ (S. 65). Hier handelt es sich um eine ,verstehend erklärende‘ Aggregationshypothese, deren weitere Bearbeitung sowohl für Diskurs- als auch für Professionsforscher/-innen aufschlussreiche Erkenntnisse verspricht.

Werfen wir nun einen Blick auf die Ergebnisse semi-automatischer Korpusrecherchen zur Text- und Normarbeit in der Jurisprudenz, dem dritten Bereich des HeideKo: Mit einer ausführlich dokumentierten Analyse rekurrenter Sprachmuster will FRIEDEMANN VOGEL „die diskursimmanen-ten Konstitutionsbedingungen von juristischen Fallentscheidungen transparent“ machen (S. 322 und weitere). Am Beispiel von Kontextualisierungen des Begriffs „Menschenwürde“ erfährt die Leserin infolge der sukzessiven Herausarbeitung typenähnlicher Fallkonstellationen, dass die Würde des Menschen „‚an und für sich‘ […] diskursiv nicht existent“ ist, sondern erst infolge eines „Verletzungsvorgangs“ nachweisbar wird, meist in Verbindung mit der Nennung eines Verursachers und der dem „Opfer“ zugefügten Verletzung, die seine „Denk- und Handlungsin-tegrität […] im sozialen Kollektiv“ beeinträchtigt hat (S. 331–332, 349). Besonders interessant erscheint hier die aus den Forschungsbefunden hervorgegangene Erkenntnis, dass Arbeiten mit juristischen Korpora vergleichsweise umfangreicherer Kookkurrenzanalysen bedürfen als jene mit Medientexten (S. 346–347). Darüber hinaus vollzieht VOGEL mindestens zwei mikro- und makrotheoretisch hoch komplexe Text-Kontext-Verknüpfungen. Zunächst benennt er die von ihm vermuteten Handlungsmotive der Verfassungsrichter, die in den Erkenntnisbereich des „Deutenden Verstehens“ (WEBER 1988 [1922]) fallen:

Sie versuchen […], durch unterschiedliche Paraphrasierungen und Verfestigungen, durch selbstreferenzielle Bildung feststehender Syntagmen, an der sprachlichen Ausdrucksseite „zuverlässige“ Kontextualisierungshinweise (Grenzen) zu markieren für anschließende [sic] zu entscheidende Fallgestaltungen in Judikative oder Exekutive. (S. 348)

Der für das Handeln der Akteure maßgebliche nomologische Kern bleibt hier noch verdeckt: Warum „versuchen“ die Richter angeblich – eine direkte Befragung ist ja nicht erfolgt – „‚zu-verlässige‘ Kontextualisierungshinweise […] zu markieren“? „Deutend verstehende“ Antworten wären wohl nicht nur mithilfe der Handlungstheorie des „Homo Sociologicus“ möglich; geht es den Handlungsträgern doch – neben der Wahrung regel- und gesetzeskonformen Verhaltens – auch darum, die eigene Rechtsprechung umfänglich abzusichern und sich durch Verfahrensfehler oder gar Fehlurteile keine Blöße vor Berufskollegen und in der Öffentlichkeit zu geben, also die individuelle Berufsidentität zu behaupten. Indem FRIEDEMANN VOGEL nun von der – hand-lungstheoretisch noch auszudifferenzierenden – Mikroebene (vgl. das Explanans) auf die von ihm untersuchten Konsequenzen des Handelns im Sinne eines gesetzlich fi xierten Handlungs-/ Struktureffektes auf der Makroebene durchsteigt (vgl. das Explanandum E), formuliert er eine ,verstehend erklärende‘ Aggregationshypothese (A), die an anderer Stelle weiter substantiiert wird:

[E] Das Ziel einer „Unantastbarkeit“ der Würde wird damit […] faktisch nicht erreicht, im Gegenteil: Die Notwendigkeit des sprachlichen Zugriffs führt zu einer unaufhaltsamen

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Verschiebung der diskursiven Grenze(n) zu demjenigen Bereich der WÜRDE, der doch eigentlich jeder Abwägbarkeit enthoben sein soll. [A] So ließe sich auch erklären, dass jeder verfassungsrechtlichen Konkretisierung von WÜRDE im Kontext von Sicherheits-gesetzen gerade nicht der Einhalt, sondern vielmehr eine rechtliche Expansion der (doch angegriffenen) Maßnahmen folgt. (S. 348)

Eine umfassende Absicherung ähnlicher Text-Kontext-Verknüpfungen ist wohl zukünftig von der mehrmethodischen, interdisziplinären Heidelberger Längsschnittstudie „Sprache im Vorfeld der Alzheimer Demenz“ zu erwarten. Trotz einiger Skepsis hinsichtlich einer allzu reibungslos erscheinenden Zuordnung der Betroffenen zu verschiedenen Krankheitsbildern kann das von BRITTA WENDELSTEIN und CHRISTINE SATTLER präsentierte Forschungsdesign mögliche Unschärfen hinreichend kompensieren. Ihre Korpusarbeiten beziehen sich schwerpunktmäßig auf leitfaden-gestützte biographische Interviews, mit deren Hilfe sie neuro- oder patholinguistische Fragen beantworten möchten (S. 488). Das Korpus sieht umfassende Kontextannotationen zu den Interviewten, aber offensichtlich nicht zur Person des/r Interviewer/-in vor; angesichts der für Interviewäußerungen unvermeidbaren Ko-Konstruktionseffekte (vgl. CHARMAZ 2005, 509, 529; MILLER 2011) sollte hier gegebenenfalls nachgebessert werden. Das Ziel, im Rahmen der Inter-views „eine breite Auswahl an Erzählsequenzen“ zu generieren, ist gut begründet, wird jedoch tendenziell konterkariert, wenn zum Beispiel zum ersten Messzeitpunkt „das Beschreiben eines gewöhnlichen Tagesablaufs“ Gegenstand der Interviews ist (S. 497). Die hiermit erfragten Rou-tinehandlungen beruhen in der Regel auf implizitem Wissen und werden selbst von „Gesunden“ meist nur mühsam erinnert. Vorrang sollten daher auch tatsächlich narrative Elizitationstechniken haben; einen Kommunikations-„Schemasalat“ (SCHÜTZE 1987, 256), der die Interviewten allzu leicht „ins Schleudern“ bringen kann, gilt es zu vermeiden. Das heißt jedoch nicht, dass zum Beispiel auf argumentative Selbstentäußerungen verzichtet werden muss, die sich am ehesten zum Interviewende im Sinne eines organischen Gesprächsabschlusses realisieren lassen.

Aus verwendungstheoretischer Perspektive erläutert JÖRN STEGMEIER, wie Studierenden und Nachwuchswissenschaftler/-innen der Universität Heidelberg das notwendige Know-how zum Aufbau eines Korpus ebenso wie für erste Analysen vermittelt wird. Es leuchtet ein, dass am Beginn der Kursarbeiten „Basics“ stehen, was auch dem Umstand geschuldet ist, dass die für Lehr-/Lernzwecke und Forschung erstellten Korpora eine aufwändige, für Außenstehende kaum sichtbare Entwicklungsarbeit erfordern. Zukünftig wäre jedoch zu wünschen, dass gerade in Aus- und Bildungskontexten die nachwachsende Berufs- bzw. Wissenschaftsgeneration nicht nur in Verfahren zur Erfassung von „Äußerungen über andere […]“ im Sinne einer einfachen Hermeneutik herangeführt (S. 535 und weitere), sondern darüber hinaus mit diskursanalytischen Verfahren im Sinne von „Konstruktionen zweiter Ordnung“ (SCHÜTZ 1971, 7) vertraut gemacht wird. Wenn also zum Beispiel eine – eigentlich ,verstehend erklärende‘ – korpusgestützte Hy-pothese auf Machteinbußen eines Diskursteilnehmers abhebt (S. 544), wäre unter anderem von Interesse, inwieweit sich dafür Evidenzen fi nden lassen und inwieweit ein Korpus auch bei solchen Recherchen dienlich sein könnte. Schließlich sei noch auf das Fehlen eines anderen Evidenztyps verwiesen, und zwar bezüglich der ausstehenden Belege für die vom Verfasser getätigte Abgren-zung von „traditionellen philologischen Herangehensweisen“ (S. 530–532, 553).

(II) Nun zu den Beiträgen, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem HeideKo stehen:GERLINDE MAUTNER veranschaulicht anhand mehrerer Beispielanalysen („ageism“, Diskurse

über den „Markt“ und seine Bürger, Wir- und Fremdgruppenbildungen in Stellenanzeigen), wie Erkenntnisinteressen der Kritischen Diskursanalyse durch korpuslinguistische Recherchen auf eine empirisch gesicherte Grundlage gestellt, kontrastiert oder komplementiert werden können. Dabei konzentriert sie sich auf Analysefoki und -instrumente, die jenen des HeideKo ähneln und vom Bemühen um ein corpus-driven-Vorgehen gekennzeichnet sind. Sowohl in MAUTNERS als auch in WOLFGANG TEUBERTS Beitrag wird dieses Bemühen – ebenso wie bereits von FELDER, aber auch von KOHNEN (siehe unten) – in den Kontext primär diachron ausgerichteter Korpusre-cherchen gestellt, um sachverhaltsspezifi sche, sprach- und akteursbezogene Wandlungsprozesse über größere Zeiträume erfassen zu können.

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KARSTEN SENKBEIL demonstriert, wie er „Keyword“-Analysen mit Kontextwissen verknüpft und Ideologiemuster eines US-amerikanischen Sportdiskurses untersucht. Am Beispiel des „Key-Clusters“ out there weist er eine Vielzahl von Nachbarschaftskookkurrenzen nach, die er dem Frontier-Mythos subsumiert, die aber auch – zumindest im Rahmen eines Zitates (S. 408) – ohne dieses metaphorische Adverb auskommen. Hier stellt sich die Frage, ob eine Ausweitung mög-licher Bezugsrahmen des „Key-Clusters“ erforderlich ist, die nicht zuletzt in der Geschichte des Sports und der für Wettkämpfe konstitutiven Bedingungen verankert sein könnten. Eine sprachkontrastive Überprüfung der Verwendung von out there (zum Beispiel dt. ‘da draußen’) würde gegebenenfalls weitere Hinweise liefern. Offen bleibt zudem, ob der Gebrauch dieser Adverbialphrase nicht primär dem Erzählstandort des sich außerhalb des Spielfelds befi ndlichen Sprechers (Sportler, Sportkommentatoren, etc.) geschuldet ist.

Vielfältige Anhaltspunkte für die Analyse möglicher Text-Kontext-Verknüpfungen bietet auch eine sprachhistorische Abhandlung von MARTIN BECKER. Seine korpusgestützte („Frantext“-)Analyse über die Verwendung epistemischer Prädikate in der von JEAN CALVIN verfassten „Ins-titution de la Religion Chrétienne“ überzeugt durch umfassend kontextualisierte Deutungs- und Erklärungsversuche.

Die Genres der in einem Korpus digitalisierten Texte werden in vielen Beiträgen des Sam-melbandes (einschließlich jener zum HeideKo) explizit benannt. Vor allem THOMAS KOHNEN gebührt das Verdienst, Genres (hier aus religiöser Prosa) systematisch mit Sprechakten im Rah-men bestimmter Themen zu korrelieren. Angesichts der Bedeutung von Genres beziehungsweise Gattungen für die Strukturierung des Kommunikationshaushaltes einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder (vgl. LUCKMANN 1986) erscheint der Forschungsansatz vielversprechend, wenngleich Korpusaufbau und -recherchen angesichts des Erfi ndungsreichtums sprechaktspezifi scher Aus-drucksformen noch vor großen Problemen stehen. Diese werden auch von ARNULF DEPPERMANN und MARTIN HARTUNG diskutiert, deren „Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch“ (FOLK) am IDS Mannheim ein qualitativ repräsentatives Spektrum von Sprechereignissen der kommunikativen Wirklichkeit abbilden soll (S. 446). Die Kontextannotationen umfassen Anga-ben zur Gesprächsgattung neben jenen zu Gesprächsthemen, Sprecherrollen etc., wodurch eine bestimmte Auswahl von Text-Kontext-Verknüpfungen möglich wird. Anders als das HeideKo verortet sich das FOLK nicht im Rahmen einzelner Diskurse. Vergleichsweise ,leichter‘ dürften sich die von JOCHEN BÄR und BENITA VON CONSBRUCH diskutierten Korrelationsanalysen gestalten: Ein von ihnen derzeit aufgebautes Korpus, das Begriffe aus der Goethezeit mit Genres korreliert, hat den Vorteil, dass es sich auf einen historisch abgeschlossenen Zeitraum bezieht, in dem Sprache nicht den für heutige Kommunikationsprozesse typischen Veränderungsdynamiken unterliegt.

Wie trotz sprachlichen Erfi ndungsreichtums (siehe oben) „pragmatische Spuren an der […] sprachlichen Oberfl äche“ nachweisbar werden (S. 196), verdeutlicht die von SCHARLOTH und BUBENHOFER präsentierte „datengeleitete Stilanalyse“ am Beispiel von Kommunikationsstilen der 1968er Bewegung. Die mithilfe komplexer n-Gramm-Analysen errechneten typischen Sprachge-brauchsmuster könnten modellbildend für Recherchen in anderen Korpora werden. Weiterführende Interpretationen bleiben hier vorerst ausgespart. Dies gilt auch für eine computerlinguistische Studie zur framebasierten Analyse von Ritualdynamiken, die von NILS REITER, OLIVER HELLWIG und ANETTE FRANK vorgestellt wird.

(III) Summa summarum beruhen die von den Herausgebern erläuterten Strukturprinzipien und Analyseinstrumente des HeideKo auf einem vergleichsweise weit gefassten Begriff von Korpuspragmatik. Die aus den Korpusarbeiten hervorgegangenen Beiträge des Sammelbandes lassen einen integrativen Ansatz erkennen, der die bisherige Kritik an sprachgruppen- und ver-wendungsspezifi sch kaum rückbindbaren Ergebnissen korpuslinguistischer Forschung konstruktiv zu wenden versucht (S. 5 und weitere).

Die Kernarbeit der im Sammelband vereinigten Forscher/-innen liegt in der Auslotung geeig-neter korpuslinguistischer Beschreibungsverfahren, die dazu beitragen sollen, sprachpragmatische Fragestellungen zu beantworten und damit die Erkenntnisreichweite deskriptiv-positivistischer Analysen zu transzendieren. Der Detailliertheit relevanter Kontextannotationen beziehungsweise

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der Heranziehung zusätzlicher Kontextinformationen kommt dabei zweifelsohne eine besondere Bedeutung zu.

Unabhängig von der Existenz und Güte von Kontextdaten gilt allerdings bis dato: Es fehlen jene Operatoren, mit deren Hilfe Beschreibungen von Form–Funktions-Korrelationen in Erklärungen überführt werden können (vgl. auch ARPPE et al. 2010, 19 und weitere). Das Fehlen entsprechender Operatoren ist im Wesentlichen auf das Fehlen einer epistemologischen, handlungs-, mikro- und makrotheoretisch fundierten Orientierungsmatrix zurückzuführen. Als einzige Handlungstheorie wird in einigen Beiträgen des Sammelbandes zwar die Sprechakttheorie bemüht. Diese kann aber allenfalls zur Erhellung einzelner Bausteine der erforderlichen Text-Kontext-Verknüpfungen beitragen. Um diesbezüglich Abhilfe zu leisten, stimmen alle Beiträge lediglich darin überein, dass Korpusarbeiten nicht ohne qualitative Analysen auskommen.

Die für solche Analysen erforderliche Hermeneutik wird hier vielfach als Oberbegriff für jegliche Interpretationsarbeit genutzt (S. 19, 57, 119, 125, 132, 155, 159, 162, 274, 318, 455 und weitere), wodurch hermeneutische („deutend verstehende“) Analysen nicht systematisch von nomologischen Analysen mit den ihnen jeweils eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterschieden sowie expressive und dokumentarische Sinngehalte nicht hinreichend erschlossen werden. Um diese empirischen Schätze zu heben, könnte – entgegen einer von VAN DIJK (2008, 18) verbreiteten, die Arbeiten der modernen Soziologie ignorierenden Behauptung – soziologi-sches Know-how zur Analyse akteursspezifi scher Kontextmodelle (vgl. Framings) und sozialer Mechanismen (vgl. Abschnitt I) einen entscheidenden Beitrag leisten.

Es versteht sich von selbst, dass die hier nur knapp skizzierten – für die Qualität von Korpo-ra und Annotationen sowie von Korpusrecherchen maßgeblichen – Entwicklungsbedarfe einer Korpuspragmatik soweit wie möglich von epistemologischem Ballast wie zum Beispiel jenem der Eingrenzung diskurslinguistischer Analysen auf Denkansätze von FOUCAULT (etwa S. 11–12) befreit werden sollten (zu einschlägiger Kritik s. DIAZ-BONE 2010).

Grundsätzlich ist wohl davon auszugehen, dass weder die quantitative (vgl. MCENERY / XIAO / TONO 2006) noch die theoretische Repräsentativität (vgl. HERMANNS 1992, 116) eines Korpus gesi-chert ist; es sei denn, dieser bezieht sich auf einen geschlossenen Diskurs. Aufgrund welcher Krite-rien ein Text für thematisch relevant befunden und in eine Datenbank aufgenommen wurde, sollte daher – ganz im Sinne einer von TEUBERT formulierten Maxime (S. 259) – für Korpusnutzer/-innen nachvollziehbar sein; nicht zuletzt, um überprüfen zu können, ob diese Kriterien mit dem eigenen Erkenntnisinteresse vereinbar und ob die Korpusdaten für einen Vergleich mit anderen Korpora geeignet sind. Eine entsprechende Transparenz ist umso bedeutsamer, als die jeweilige Korpus-bestückung entscheidenden Einfl uss auf die Qualität und Reichweite der Ergebnisse hat (vgl. OʼDONNELL / RÖMER / ELLIS 2013). Dies gilt ebenso für die Strukturierung des Korpus: Würde zum Beispiel das auf gesellschaftliche Konfl ikte ausgerichtete HeideKo konfl ikttheoretisch fundiert und die Datenbankstruktur entsprechend der einzelnen Konfl iktentwicklungsphasen „Koordina-tion“, „Dilemma“ und „Konfl ikt“ diachron untergliedert, könnten Korpusrecherchen auch gezielt phasenspezifi sche und -kontrastierende Erkenntnisse hervorbringen.

Hinzu kommt, dass ein Vergleich korpusspezifi scher Forschungen und Ergebnisse bereits da-durch erschwert wird, dass die Defi nition der analysierten Spracheinheiten (tokens) stark variiert. So fi nden sich denn auch in den Beiträgen des Sammelbandes Verweise unter anderem auf Kol-lokationen, Kookkurrenzpartner/-netze/-profi le, „coreferent mention pairs“, „typische rekurrente Sprachmuster“, Relate, Korrelate, Schlüssel-/Schlagwörter oder n-Gramme mit unterschiedlich langen Mehrworteinheiten und Spannweiten. Beachtung verdient schließlich der Befund, dass ein und derselbe Analysefokus durch den Einsatz unterschiedlicher Methoden zu gänzlich an-deren Ergebnissen führen kann (OʼDONNELL / RÖMER / ELLIS 2013; vgl. auch ARPPE et al. 2010).

Vor diesem Hintergrund erscheint es müßig, das Fehlen korpusbasierter Zugänge zu sym-bolischen Wissensordnungen wie jenen der konzeptuellen Metapher in dem Sammelband zu beklagen oder gar mehrsprachige Datensätze innerhalb e i n e s Korpus zwecks sprachkontrastiver Analysen zu fordern.

Abschließend möchte ich die Frage aufwerfen, inwieweit eine weitere Aufsplittung der Dis-ziplin Linguistik in neue Subdisziplinen wie jener der Korpuslinguistik oder Korpuspragmatik

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(vgl. auch ROMERO-TRILLO 2013) sinnvoll erscheint. So wichtig und effektiv die Ab- und Ein-grenzung von Fachdiskursen sein kann, steht eine Diversifi zierung der Linguistik doch den in Sozial- und Kulturwissenschaften zunehmend zu beobachtenden Homogenisierungsbestrebungen diametral entgegen. Der Grundsatzartikel von The Five Graces Group (2009), in dem kognitions-, sprach- und sozialtheoretische Konzepte von Sprache zu einem „Complex Adaptive System“ zusammengefasst werden, oder auch varietätenbezogene Analysen, die jene in der „Variational Pragmatics“ berücksichtigten Kontextfaktoren mit korpus- und soziolinguistischen Ansätzen verknüpfen (zum Beispiel MURPHY 2012), dokumentieren eindrucksvoll, welcher Bemühungen es mittlerweile bedarf, um zu einer disziplinübergreifend anschlussfähigen Verständigung über Sprache zu gelangen. In der Soziologie käme wohl niemand auf die Idee, nur, weil Daten kom-piliert und digitalisiert werden, von einer „Sample-Soziologie“ oder „Kohorten-Soziologie“ zu sprechen. Bekanntlich – und das illustriert auch der Sammelband in vielen Facetten – kann mit der Bereitstellung von Daten erst jene Interpretationsarbeit beginnen, die vor allem zur Expertise der Pragmalinguistik zählt. Selbst der Versuch, Korpuspragmatik als eine Methode zu betrachten, wäre angesichts der wissenschaftstheoretischen Ansprüche an eine Methode – ähnlich wie im Zusammenhang mit der Korpuslinguistik diskutiert – zum Scheitern verurteilt.

Um die traditionelle, überwiegend nicht empirische Linguistik in eine forschungsstarke Dis-ziplin zu transformieren, haben neue Subdisziplinen diesem Wandlungsprozess sicherlich die nötige Schubkraft verliehen. In dem Maße, wie sich die moderne Linguistik aber als eine primär empirische zu begreifen scheint (vgl. SAMPSON 2013, 286–287), mag die Ausweisung einer lingu-istischen Teildisziplin mithilfe empirisch anmutender Lexeme zunehmend an Bedeutung verlieren. Mein generelles Bedenken hinsichtlich der Bildung neuer subdisziplinärer Wissenschaftskulturen schmälert jedoch keineswegs das Verdienst der in dem Sammelband vereinigten Beiträge, einen „umfassende[n] Überblick über die aktuelle korpuslinguistische Diskussion in wichtigen Feldern der gegenwärtigen Pragmatik“ (Klappentext) zu bieten. Der hier dokumentierte state of the art ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer an empirischen Standards orientierten Pragmalinguistik.

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Der vorliegende Band führt zu einem großen Teil die Vorträge zusammen, die im Jahr 2008 im Rahmen eines von der „Laboratoire de linguistique et de littératures luxembourgeoises“ an der Universität Luxemburg veranstalteten Kolloquiums gehalten wurden. Die Beiträge stellen Forschungsergebnisse vielfältiger Projekte aus dem Bereich der linguistischen Luxemburgistik – einer sich erst im Entstehen befi ndenden Teildisziplin der Linguistik – vor. Trotz des jungen Alters ist die Forschung auf diesem Gebiet auf mehrere Länder verteilt, was auch der vorliegende Band dokumentiert: Die Autorinnen und Autoren kommen aus Luxemburg, von verschiedenen deutschen Universitäten, aus Belgien, Frankreich und Österreich. Die Beiträge lassen sich in vier thematische Sektionen gruppieren, die gleichzeitig auch die aktuellen Forschungsrichtungen der linguistisch ausgerichteten Luxemburgistik abbilden: 1. Phonologie, Morphologie und Syntax mit fünf Beiträgen, 2. Soziolinguistik und Sprachgeschichte mit sieben Beiträgen, 3. Lexikologie und Computerphilologie mit drei Beiträgen und schließlich 4. Luxemburgisch als Fremdsprache mit zwei Beiträgen.

Sektion 1 „Phonologie, Morphologie und Syntax“ beleuchtet zentrale Aspekte einer noch zu erstellenden wissenschaftlich fundierten Grammatik des Luxemburgischen und berücksichtigt neben synchronen Entwicklungen auch die Diachronie sowie den größeren Kontext der benach-barten deutschen Dialekte und des Standarddeutschen. Im Mittelpunkt des Beitrags von ALEX-ANDRA LENZ (S. 1–23) steht das Verb kréien in seiner besonderen Funktion als Passivauxilliar im so genannten kréien-Passiv. Der Darstellung der Multifunktionalität und Polysemie dieses Verbs

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folgt die Beschreibung eines Sprachproduktionsexperiments, das das kréien-Passiv im Gegensatz zum Deutschen als eine dominante Konstruktion im Luxemburgischen beim Vorhandensein eines Rezipienten, Benefi zienten oder Malefi zienten hervorhebt. Die Konstruktion setzt sich quanti-tativ gegen alternative Passiv- und Aktivvarianten durch und ist stärker grammatikalisiert als im Deutschen, „was Korpusanalysen zur Schriftsprache wie auch zu substandardsprachlichen Varietäten des Deutschen belegen“ (S. 20).

Einen ebenso zentralen Aspekt des luxemburgischen morphologischen Systems stellt die Nivel-lierung der Opposition „stark“ versus „schwach“ im verbalen Bereich dar, der sich der Beitrag von ANTJE DAMMEL und JESSICA NOWAK widmet. Das Luxemburgische hat im Gegensatz zum Deutschen eine skalare Verteilung der schwachen und starken Merkmale entwickelt, bei der schwache Verben die Wechselfl exion annehmen (froen ‘fragen’, hunn ‘haben’), den Rückumlautvokalwechsel in stärkerem Maße als das Deutsche beibehalten (kréien ‘kriegen, bekommen’, schëdden ‘schütteln’) und sogar das starke Nullsuffi x im Partizip Präteritum übernehmen (huelen – geholl ‘holen – ge-holt’). Das Partizip Präteritum, das im Luxemburgischen eine wichtige Rolle bei der Bildung der analytischen Tempusformen spielt und zu den token-frequentesten Wortformen gehört, ist das Thema des folgenden Beitrags von PETER GILLES. Der Autor bestätigt einerseits die Ergebnisse von DAMMEL / NOWAK in Bezug auf die tendenzielle Nivellierung der stark/schwach-Opposition, zum Beispiel durch den Wegfall des Dentalsuffi xes -t bei einigen schwachen Verben (gemaach ‘gemacht’, kaf ‘gekauft’, geraf ‘gerafft’), andererseits hebt er die Steuerung des Vorkommens des -en-Suffi xes der starken Verben in Abhängigkeit von der Struktur des Stammausgangs („phonolo-gisch konditionierte Allomorphie“, S. 59–75) hervor. Die Besonder heiten des Luxemburgischen als einer im Vergleich zum Deutschen stärker profi lierten Silbensprache diskutiert JULIA BERT-RAM. Konsequent sprachhistorisch ist der Beitrag von FAUSTO RAVIDA angelegt, der zunächst auf grundsätzliche methodische Probleme der Erforschung der Sprach(en)geschichte Luxemburgs hinweist (Überlieferungsproblematik, regionalsprachliche Verortung der historischen Schreib-sprache, Mehrsprachigkeit und Varietätenvielfalt) und diese dann am Beispiel der Rechnungs-bücher der Stadt Luxemburg aus den Jahren 1388–1500 konkretisiert. Es stellt sich heraus, dass die Schreibsprache der Quellen zwar im Kontext der westmitteldeutschen und mittelfränkischen (Köln) Schreibdialektlandschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu verorten ist; einige autochthon luxemburgische Schreibungen lassen aber die Vermutung zu, dass „sich bereits im Spätmittelalter zumindest für die untersuchte verwaltungssprachliche Varietät eine dezente Her-auslösung aus dem Verbund des Westmitteldeutschen anbahnt“ (S. 93).

Die Bandbreite der Beiträge in Sektion 2 „Soziolinguistik und Sprachgeschichte“ erstreckt sich von der Dynamik der luxemburgischen Mehrsprachigkeit über sprachpolitische Refl exionen und die Rolle einzelner Sprachen in der linguistischen Landschaft Luxemburgs bis hin zu privaten Sprachideologien und Präferenzen im Sprachgebrauch. So geht KRISTIAN NAGLO in einem leider mehr Fragen aufwerfenden, als konkrete Antworten und Ergebnisse bietenden Aufsatz „auf den Wandel politischer Formen und kollektiver Selbstbeschreibungen“ (S. 113) ein. Im Anschluss thematisiert NÚRIA GARCIA die sozialen und politischen Faktoren beim Entstehungsprozess des luxemburgischen Sprachengesetzes von 1984 sowie die daran beteiligten Akteure im Hinblick auf die Implikationen des Gesetzes einerseits für die luxemburgische Mehrsprachigkeit und andererseits für die (bis jetzt nicht vollständige) Institutionalisierung des Luxemburgischen als einzige Nationalsprache. FERNAND FEHLEN widmet seinen Beitrag dem historischen und gegenwär-tigen Status des Französischen in Luxemburg und konkret seiner Rolle beim Sprachengebrauch im „Fonds National de la Recherche“ – der wichtigsten Institution zur wissenschaftlichen For-schungsförderung im Land. EVELYN ZIEGLER knüpft an die bisherige Annahme der Forschung an, die davon ausgeht, dass die unterschiedlichen Herrschaftsverhältnisse als bestimmende Faktoren für die Sprachenpolitik und die Sprachpraxis gelten, und überprüft diese erstmalig empirisch anhand eines Korpus von 284 öffentlichen Bekanntmachungen der städtischen Behörden aus der Zeitspanne von 1795 bis 1920. Somit deckt das Korpus sowohl die Phasen starker Romanisierung (französische Annexion 1795–1814) als auch die Phasen starker Germanisierung (deutsche Besat-zung während des Ersten Weltkrieges) ab. Die Analyse zeigt, dass „die offi zielle Sprachenpolitik ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Sprachenwahl […] bleibt“ (S. 195); die Verwendung

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beider Sprachen – Französisch und Deutsch – ist der Normal- und Regelfall unabhängig von der Herrscherdynastie. Der Beitrag von MELANIE WAGNER widmet sich hingegen der privaten Schriftlichkeit – den Briefen und Tagebüchern, die luxemburgische Soldaten in der deutschen Armee von der Ostfront des Zweiten Weltkrieges an ihre Verwandten in Luxemburg adressierten beziehungsweise für sich selbst verfassten. Das Korpus eignet sich ideal für die Beantwortung der Fragen nach der Rolle der Sprache der Nähe bei der persönlichen Sprachenwahl (die Quel-len sind zu neunzig Prozent auf Luxemburgisch, trotz der Tatsache, dass ihre Verfasserinnen und Verfasser auf Deutsch alphabetisiert wurden und keinen Unterricht in Luxemburgisch als Muttersprache hatten), nach den Unsicherheiten im schriftlichen Umgang mit Luxemburgisch wegen der fehlenden schulischen Bildung in dieser Sprache, nach der ausgeprägten Variation im privaten Schrifttum und nach dem Einfl uss der in der genannten Zeitspanne vorhandenen offi ziellen orthographischen Vorgaben für das Luxemburgische. Die mehrsprachige Situation in Luxemburg refl ektiert FERNANDE KRIER am Beispiel der Emotionsausdrücke und unterstreicht die Relevanz des rhetorisch-emotional bedingten Begriffs „stilistische Kodeumschaltung“ (S. 233). Im letzten Beitrag dieser Sektion dokumentiert JEROEN DARQUENNES diachrone und synchrone gesellschaftliche Aspekte des Sprachwechselprozesses sowie historische und gegenwärtige sprach-aktivistische Initiativen zum Spracherhalt im „Areler Land“ – dem deutschsprachigen Gebiet um die Stadt Arel/Arlon im südlichsten Teil der belgischen Provinz Luxemburg, das ursprünglich einen Teil der Grafschaft Luxemburg bildete und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den neu gegründeten belgischen Staat abgetreten werden musste.

Sektion 3 „Lexikologie und Computerphilologie“ eröffnet Perspektiven zur Erstellung und Auswertung von elektronischen Sprachkorpora und stellt Grundlagen zu einer nachhaltigen Ent-wicklung der umfassenden Dokumentation des Luxemburgischen vor. Die Beiträge von STEFAN BÜDENBENDER und ANE KLEINE ergeben sich aus dem Projekt „LexicoLux“, das auf die Analyse, die dynamische Erschließung und die Auswertung der vernetzten lexikographischen Ressourcen (vor allem elektronischer Wörterbücher) des Luxemburgischen im Verbund mit den benachbar-ten deutschen Dialekten der Großregion abzielt. Diese Daten bieten Untersuchungsmaterial für weitere Projekte, so zum Beispiel das Phraseologie-Modul des LexicoLux-Projekts (vgl. den Beitrag von ANE KLEINE) und das Grammatik-Modul „Luxogramm“; sie bilden auch den Grund-stein zum Internetportal „infolux“ (URL:<http://infolux.uni.lu>) – einem Zusammenschluss von Forschungsprojekten, die unterschiedliche Aspekte der luxemburgischen Linguistik abdecken. BÜDENBENDER beschreibt überzeugend den Prozess der Retrodigitalisierung und Vernetzung der historischen Wörterbücher sowie die Herausforderungen ihrer Präsentation im Internet. ANE KLEINE demonstriert im Anschluss ausführlich, wie diese Daten für weitere Forschungsfragen konkret genutzt werden können und geht dabei sehr detailliert auf theoretische und methodische Herausforderungen der Untersuchung der bis heute nur ansatzweise erforschten historischen luxemburgischen Phraseologie ein. Einen wesentlichen Aspekt bildet die Darstellung der EDV-gestützten Verfahren für das Auffi nden und die Klassifi zierung von Phraseologismen. JOSHGUN SIRAJZADE entwickelt diesen Themenbereich weiter, indem er die Erstellung sprach- und litera-turwissenschaftlicher Werkzeuge am Beispiel des von ihm entwickelten historisch-kritischen Portals zum literarischen Œuvre des luxemburgischen Dichters MICHEL RODANGE thematisiert.

Die abschließende Sektion 4 „Luxemburgisch als Fremdsprache“ reagiert auf die wachsende Nachfrage nach Luxemburgisch-Unterricht in Schulen und Erwachsenenbildung, der gegen-wärtig nicht ausreichend durch qualitatives Lehr- und Unterrichtsmaterial sowie qualifi ziertes Lehrpersonal nachgekommen werden kann. Die Sektion vernetzt somit die akademische und die angewandte Forschung. Im Mittelpunkt des Beitrags von IRMGARD HONNEF-BECKER stehen lite-rarische Texte und das Konzept ihrer didaktischen Aufbereitung für den LaF-Unterricht; JACKIE WEBER-MESSERICH vermittelt einen Überblick über die Adressaten des LaF-Unterrichts und die Gründe für die steigende Nachfrage, über die für die Vermittlung des LaF-Unterrichts zuständigen Institutionen sowie über die Problematik der existierenden Lehrwerke und der entsprechenden Lehrerausbildung.

Es bleibt festzuhalten, dass der Band einen umfassenden Einblick in die aktuelle luxembur-gische Linguistik, ihren Stand, ihre Problemfelder und ihre Perspektiven bietet. Dabei werden

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unterschiedliche abgeschlossene und laufende Projekte im In- und Ausland zusammengeführt, die sich alle einerseits zur Vertiefung der synchron angelegten Beschreibungen durch die historische Dimension und andererseits zur Verortung der luxemburgischen Sprache (und folglich auch ihrer Erforschung) im größeren Kontext der Großregion, der benachbarten Sprachen und Dialekte bekennen. Darin besteht ein deutlicher Mehrwert des Bandes und der linguistisch ausgerichteten Luxemburgistik insgesamt.

Trier/Düsseldorf NATALIA FILATKINA

SANDRA HANSEN / CHRISTIAN SCHWARZ / PHILLIP STOECKLE / TOBIAS STRECK (eds.) (2012): Dia-lectological and Folk Dialectological Concepts of Space. Current Methods and Perspectives in Sociolinguistic Research on Dialect Change. Berlin/Boston: De Gruyter. 299 S. (Linguae & Litterae. 17). € 99,95

This volume brings together work from dialectology, sociolinguistics, and folk dialectology and provides samples of such work that are related to questions of language variation and change (p. 1). Although the editors overstate the focus on NORMs (non-urban, older, rural males) in traditional atlas work, the criticism sets the stage for the studies presented here, once more in the tradition of what CHAMBERS (1993) calls “sociolinguistic dialectology”.

DAVID BRITAIN’S fi rst chapter recalls the (very) old song that begins “How you gonna keep ‘em down on the farm, after they’ve seen Paree?” Although the chapter exaggerates, as the in-troduction has already done, the traditional focus on NORMs, it is useful to BRITAIN’S assertion that many things sought in a sociolinguistic dialectology can be contributed to by looking at rural areas as well as big cities, the latter so often the focus of recent sociolinguistic work. BRITAIN stresses the uniformity of questions asked in both areas, suggesting that claims of the unique-ness of urban sites for social science study in general are incorrect and citing recent scholarly work in geography that cautions against treating rural and urban areas as offering distinct sites for investigations and entailing separate questions and methodologies (p. 17 et passim). BRITAIN also notes the importance of looking beyond the rural-urban dichotomy, bringing to attention such forces as counterurbanisation (pp. 19–20) and the important lessons that dialectologists have learned by considering them. Finally, he suggests that the principal causal construct in the study of geographical patterns and outcomes is that of contact and demonstrates that that con-cern has been equally applied with benefi t to both rural and urban settings, providing a lengthy list of studies with regard to such central questions as leveling, simplifi cation, interdialect, and reallocation (p. 22).

Chapter 2 by MICHAEL ELMENTALER immediately exemplifi es sociolinguistically sensitive atlas work. Again, the novelty of social considerations is overstated, suggesting that they “diverge from the traditional paradigm” (p. 31), although there are long-standing examples of sociolinguistically sensitive respondent selection (for example, the “Linguistic Atlas of the Gulf States”).1 ELMEN-TALER is, however, also concerned that atlas studies include both regard for situational context and respondent attitudes, factors he correctly notes as ones not usually considered in traditional work (although the latter of these was a founding principle of atlas work in Japan, for example, TÔJÔ 1954, and was considered extensively in work on Dutch dialects, for example, DAAN, 1970 [1999] and WEIJNEN 1946).

Working with data from an ongoing research project on “Language variation in Northern Germany”, ELMENTALER notes the variation in mapping that arises from feature selection. Dif-ferent features will yield different maps, as will the selection of different features from different

1 See PEDERSON’S (1993) outline of the detailed social characteristics in LAGS.

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linguistic levels, for example, the local vernacular compared to the local standard, and low levels of granularity prevent a wholesale regional abstraction (or generalization), as he shows with data for both spirantization and vowel shortening in the area under consideration, a concern he also expresses with regard to the function and frequency of dialect items, in this case the substitution of /t/ for /s/ in such words as das and was, which, in some areas, shows the expected North Ger-man usage, but in others (for example, north of Hamburg) occurs only in very limited contexts (for example, proverbalisms).

ELMENTALER’S major suggestion is that if an atlas is to be perceptually relevant, then the features it maps must be salient to local respondents, and he provides a survey constructed to determine local attitudes as clues to such salience (pp. 37–39). Not surprisingly, he fi nds that local respondents (from three different North German areas) have different reactions to spirantization of /k/ in different lexical items and in different domains of use. For example, spirantization of the /k/ in gesagt is hardly stigmatized at all, but heavily stigmatized in leugnen. Although he also fi nds a dimension of acceptability based on phonetic position (where spirantization is found less acceptable after /r/ or /l/ [for example, gefolgt, Berg]), he concludes that the salience of items (as determined here by an acceptability task) may be represented in a series of maps that refl ect this variability rather than in the usual single representation in which the isoglosses are forced to display a single distinction. Unfortunately, a preliminary sample map or maps of the sort he calls for is not included.

In Chapter 3 SANDRA HANSEN introduces a mathematical procedure to measure the phonetic distance of dialects from the standard language amongst variables drawn from the “Südwest-deutscher Sprachatlas”. The distance is quantifi ed by assigning values between 0 (the standard variant) and 1 (the base dialectal variant). Compared to the method developed by HERRGEN / SCHMIDT (1985), the procedure has the advantage of taking into account both the standard and the base dialectal phoneme system, although it levels the phonetic distance of different dialects by automatically assigning a given value (1) to a base dialectal variant regardless of its phonetic distance from the standard form. Using this method HANSEN surveys dialect competence and the role of hyperdialectisms for a set of speakers from two generations in Southwest Germany (Freiburg area). Taking into account extra-linguistic factors (age, profession, sex), the results for dialect competence and hyperdialectisms show a clear connection to age (older respondents have better dialect competence and produce fewer hyperdialectisms) and sex (younger men have better dialect competence than younger women). These results fi t very well into the scheme of dialect dynamics in modern Germany, but, given the leveling effect of the mathematical proce-dure, one of the hypotheses (the infl uence of profession on dialect competence) cannot be tested with this model.

EIVIND TORGERSEN’S chapter focuses on the ability of local speakers to perceive ethnic and regional backgrounds of English speakers. He provides an extensive catalog of the largely pho-netic variables that distinguish inner (Hackney) and outer (Havering) London as well as those found in Birmingham. In London, Anglo speakers with high-density multicultural friendship networks were not distinct from the inner London multicultural youth; in Birmingham the major distinction was between Anglo and non-Anglo (pp. 76–77). After summarizing previous work on ethnic identifi cation in the US and UK, TORGERSEN outlines a holistic accent identifi cation task that made use of sixteen voices: four Anglo speakers from Hackney (with low and high multiethnic friendship network scores), two Anglo speakers from Havering (with low multiethnic network scores), six non-Anglo Hackney speakers (from a variety of ethnic backgrounds), and four Birmingham speakers, two Anglo, two non-Anglo. The following hypotheses were offered:

1. Inner London and Birmingham speakers will be more easily identifi ed than outer London speakers.

2. It will be diffi cult to identify Anglo speakers with high multiethnic friendship network scores because of the lack of traditional (local) features.

3. It will be diffi cult to identify the region of the non-Anglo London and Birmingham speakers because of shared (presumably substrate) features (p. 81).

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Sixty-eight young (12–17) Londoners took the test and were asked to assign an ethnic label (“white”, “black”, “Asian”, “other”) and a region (“London”, “Essex”, “Birmingham”, “Man-chester”) to each voice. Most Havering and Hackney Anglo speakers were heard as “white”, but Havering speakers were heard as “London”, due perhaps to the unfamiliarity of the “Essex” label. Hackney Anglo speakers with the highest multiethnic friendship scores, however, were often classifi ed incorrectly for ethnicity, confi rming to some extent hypothesis 2. On the other hand, the non-Anglo Hackney speakers were often incorrectly identifi ed for ethnicity, confi rm-ing the emergence of a Multicultural London English (p. 79) variety not specifi ed for ethnicity, although they were always identifi ed as “London”. Interestingly, the Birmingham Anglo voices were heard as “white” and not from London while the two non-Anglo Birmingham speakers were heard as “black” or “Asian” and “London”, suggesting a general association with London for non-Anglo voices.

The test was repeated in Birmingham (with the ethnic choice modifi ed to “white” or “black”), and older speakers were more accurate in their ethnic identifi cations (while no social factors emerged among the London respondents), and Birmingham speaker were more likely to associate Birmingham voices with the local area regardless of ethnicity. TORGERSEN concludes as follows:

The link between traditional accent is therefore maintained but any interaction between eth-nicity (and friendship network) and geographic location introduces complications (p. 92).

In Chapter 4 ROBERT MÖLLER analyzes spatial structures in selected maps of the “Atlas der deutschen Alltagssprache” (ADA) with respect to regional typology, region-related stereo-typing, and extra-linguistic factors that infl uence linguistic diversity. Based on the concept of “Alltagssprache” that is based primarily on the respondents’ statements about the “most typical word in every-day communication”, the ADA seeks areal structures in the use of region-specifi c expressions for lifeworld concepts, which basically means that the typology of expressions with respect to their systemic quality (Regiolekt, Umgangssprache, Substandard) is hardly explicable. The text questions the existence of explicit socio-situational norms in everyday language that mainly takes place in a register between the poles of the standard and base dialect. That might be the case for lexical items, but coming from a more general perspective, the existence and so-cio-symbolic function of nonstandard registers in German regional languages is well documented (compare LENZ 2003 for example).

MÖLLER presents evidence from the empirical work of the ADA with respect to three different aspects. First, he analyzes the general diagnostic value of laypersons’ answers and shows that some (non-salient) phenomena show clear areal distribution (“Anspitzer”), while other (pre-sumably salient) features (dat for “das”) are unclear with regard to the question of whether the results depict areal typology or simply reproduce widely known regional stereotypes. Second, the chapter seeks the infl uence of extra-linguistic factors on the areal distribution of lexical variants. Looking at examples of the spread of northern German variants to the southern part of Germany, MÖLLER discusses the relationship of (national) political borders, national language ideology, and social practices to areal linguistic structures. Third, the text provides evidence for the respondents’ mental maps with respect to linguistic diversity and shows that their conceptions on a regional level often are directly driven by topography. Finally, the similarity relation for the perceived linguistic distance refl ects the actual spatial linguistic structure: Respondents from Cologne tend to relate themselves more closely to the whole Northern German area than to the geographically far closer Baden area.

VAATTOVAARA’S chapter begins with recognition of the fact that only some linguistic facts are noticed by the folk and makes use of this idea in a study of the spread of a hyperdialectal /h/ in non-initial syllables. She fi rst surveys current thought about the role of place in modern geography and concludes that use of perceptual dialectological studies might shed more light on the vagaries of change than maps of actual production do. In most varieties of Finnish non-initial syllable occurrences of /h/ are deleted: saunhaan (“into the sauna”) becomes saunaan. In the Tornio Valley in the far north of Finland, an area divided between Finland and Sweden, how-ever, the /h/ is preserved or metathesizes with a preceding consonant: for example, sauhnaan.

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VAATTOVAARA studied local respondent use of these three and two other variants and showed that different phonetic positions enhanced or retarded the use of the local variants. After she had the baseline of their own performances, she asked each respondent to estimate the percentage of their own use of four variants, the local /h/-present and metathesized form and two much more widely spread variants — the deleted form and an assimilated or geminated one (for example, saunnaan). The respondents over-reported their use of the very local variant (the metathesized one), under-reported their use of the established but fading local variant in which /h/ is preserved, but rather more accurately reported their use of the widespread variants. The patterns of under- and over-reporting are also related to the degree of local identity, independently determined. The most local (metathesized) version was not only more frequently used by the most locally oriented respondents but was more generally over-reported by them as well. In the last part of the chapter, VAATTOVAARA presents interesting conversational data that help further establish the status and cultural meaning of the local treatment of /h/ and concludes that /h/ is an important tool for the expression of regional loyalty and identity.

Chapter 7 by PHILIPP STOECKLE is a multiple approach study of respondent perceptions of di-alect identities in southwestern Germany (part of the Alemannic region). In a 37-site survey, his respondents fi rst drew maps of their own and surrounding dialect areas and were then questioned about degrees of difference between their home area and others, preferred (i. e., most and least pleasant) dialects, and specifi c linguistic stereotypes. STOECKLE fi rst shows that perceptions do not expand evenly from a central place, a position suggested in AUER (2004); instead orientations are skewed, in this case showing how a relatively central place to the area investigated (Hasel) has a great deal more affi nity with areas much farther west. This representation, and the maps drawn by respondents from the eastern villages of the area, show a strong east-west divide with a “trough” of no overlap between (which even includes Wehr, a site very close to Hasel, and was an area frequently mentioned by respondents from both east and west as “different” [p. 151]). When the respondents were explicitly asked to name areas resembling and different from their own area, the general mental map results of a distinct east and west were confi rmed and Wehr, a very nearby site, continued to be remarked on as different. In asking for linguistic features that supported their views, STOECKLE’S respondents did and did not make use of dialect features previously established for the area, repeating, as seen in earlier chapters, the need for an empir-ical determination of salience. Similarly, the respondents’ characterizations of the location of features did not exactly correspond to previous work on actual production. STOECKLE concludes the chapter with interesting quotations from the respondents, shedding even further light on their construction of local place and language and their interrelatedness. This chapter also makes use of recent advances in GIS mapping technology, and the maps (gathered in the Appendix in fi nal glossy pages in color) enhance the presentation.

MONTGOMERY’S study of dialect perceptions in the north of England is similar to STOECKLE’S, and makes use of the same advanced GIS mapping techniques, which MONTGOMERY outlines in considerable detail, forming the main contribution of the chapter. Nevertheless, it is interesting to note the most salient dialect areas identifi ed by the respondents and the detail that the GIS procedure allows in studying the density of area identifi cations. MONTGOMERY shows in detail (Figure 6, p. 175), for example, how the respondents delineated a “Scouse” (i. e., Liverpool) area, and again the chapter is enhanced by the presentation of full-color maps that show not only how the data may be treated graphically in sophisticated ways but how they may be combined with other geographical information (for example, roadways, population density) for additional interpretation.

CHRISTIAN SCHWARZ presents evidence for conservative and innovative dialect areas in the South West German area (i. e., the southern part of Baden-Württemberg) by means of a dialecto-metrical analysis of 16 vocalic features with respect to horizontal (dialect dynamics) and vertical (standard advergence) dimensions. The study analyzes realizations of phonological variables for interview-recordings from 354 sites in the “Südwestdeutscher Sprachatlas” as well as recordings from the “Badisches Wörterbuch” and the “Zwirner Korpus” and is part of the bigger project “Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands”.

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The results are plotted as similarity maps (using the statistical software R) indicating conserv-ative (high degree of old dialectal forms) and innovative (high degree of new forms) areas. First, an interpretation of the aggregate map for one example is given (Middle High German î); then SCHWARZ presents the results for the overall data. The interpolation map for the whole data sample indicates two conservative areas in the southwestern (near the Swiss border) and eastern (Swabia) parts of the study area, ones that conform with the centers of the Alemannian and Swabian dialects. On the other hand there is a broad area with a high degree of innovation between these two areas. As can be shown from the data, neither of the two conservative dialect areas dominates the spread of phonological innovation. In fact, all innovative forms can be explained as examples of standard advergence with the standard-oriented realizations from the one dialect area replacing the old standard-deviant variant in the respective other area. The data basis seems valid, but the interpretation of the data is not as full as it might be when it comes to the question of whether or not the spread of standard-oriented forms throughout the entire data set is a matter of dialect dynamics or not.

SIMON PICKL and JONAS RUMPF review historical dialectometric practices and propose a reversal of the general practice: a variant- (rather than lectal-based) approach. They outline the major difference as follows:

While [classical dialectometry] seeks to investigate the way in which dialects are distributed in space, we intend to analyse the way that single linguistic features […] are distributed in space (p. 207).

PICKL and RUMPF take this approach because they fear that the interesting details of single linguistic items that are important to the overall aims of dialectology, and perhaps the question of diffusion in particular, are overlooked in the lect-based approach. Using data from the “Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben”, they employ a mathematical mapping technique known as intensity esti-mation (p. 209) that seeks to establish not only the areas where a form is used more frequently but also, by calculating its kernel estimation, the likely infl uence it has on surrounding zones. Competing variants can be combined in a color-shaded “area class map”, (for example, Figure 7, p. 287) that completes the bottom-up rather than top-down approach put forth here. The reader is referred to other publications to fl esh out the methods for and usefulness of other calculations to make use of the maps obtained with this procedure.

BENEDIKT SZMRECSANYI tells the reader that geography is overrated, at least when dialect dif-ference is construed as equal to geographic distance (although BLOOMFIELD’S 1933 overarching principle for dialect similarity was personal contact). In this chapter, he suggests that a dialec-tometric study of difference should be based on aggregate rather than single feature studies (in obvious contrast to the proposal by PICKL and RUMPF), should pay attention to morphosyntactic data as well as the more usually studied phonological data, and should rely on frequency data, not the categorical facts typical of atlas studies. His study searches the FRED (“Freiburg English Dialect Corpus”) for 57 morphosyntactic features gleaned from previous work. These were in-serted into a 34 (counties) x 57 (features) matrix transformed into a 34 x 34 distance matrix for analysis. The Euclidean distance measures of this matrix are then transferred to a geographical representation (Map 1, p. 288) which establishes what SZMRECSANYI calls four “hotbeds” of dialect similarity in England and Scotland – a Southwest, a Southeast, a North Midlands and North, and a Central Scottish Lowlands (p. 218).

But since the purpose of this chapter is to downgrade the geographical distance relationship, SZMRECSANYI next correlates the as-the-crow-fl ies distance with the morphosyntactic differences and fi nds a very weak explanation of the variance (only 4.4 %), a poor showing compared to earlier dialectometric work. He turns then to a correlation with a least-cost travel route analysis, which turns out to be a little better (explaining 7.6 % of the variance) and exhibits a sublinear relationship (i. e., after about eight hours travel time, further time does not correlate with increased morphosyntactic differences). In a fi nal step, he modifi es TRUDGILL’S (1974) gravity model and introduces city size into the formula which counterbalances the distance measure by suggesting that larger areas have a greater probability of similarity. The trick works, and we now have a

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model that reaches nearly 25 % of the variance, a considerable increase over simple geographic measures and an improvement to the more sophisticated measure of least-cost travel.

SZMRECSANYI’S fi nal step is to throw geography away entirely and look for commonalities in the data by a cluster analysis of the features themselves, allowing the sites (i. e., counties) to cluster. The resulting clusters reveal some affi nities that do not allow for any of the previous geographically based interpretations, and when a calculation is made on the relationship between the dendrogram results for the cluster analysis and the feature differences, the explained variance reaches nearly one-third (.325), the best yet achieved. SZMRECSANYI concludes by admitting that the morphosyntactic data might differ from the usual phonological and lexical data sets most often investigated in dialect geography, but he does not really think so. He believes that the aggregate feature analysis that has geographical results as its by-product is the best analysis, although he admits that an understanding of the meaning of the affi nities thus discovered requires considerable further analysis.

TOBIAS STRECK analyzes the same recordings within the same framework as SCHWARZ but presents results for both the vocalic and consonantal variables. His main analysis methods are distance matrixes calculated via the Levenshtein distance algorithm that are aggregated in cluster maps. As a fi rst step, a two-cluster solution using the Complete Linkage method is presented that refl ects the major spatial division of the survey area in the Alemannic and Swabian dialects. A more detailed analysis is then presented taking into account the Weighted Average and Group Average Algorithms (cluster analysis + multi dimensional scaling). Apart from reproducing the major differentiations of the fi rst map, this map also indicates secondary dialect divisions within the Alemannic area. A small area northeast of the Bodensee shows a huge Swabian impact on the originally Alemannian area. In a second step STRECK analyzes correspondences between the spatial linguistic patterns and former political borders that can still be seen as important spatial structuring concepts in the local mental maps. He shows that the former border between the historical states of Württemberg and Baden coincide with the major dialect border between Alemannic and Swabian for most of the survey area. As for a small Bodensee-area, STRECK also shows that mental borders (such as the former state borders) infl uence the direction of dialect dy-namics: in this case places that belonged to Württemberg converge with the neighboring Swabian dialects although they originally belonged to the Alemannic dialect area. The same separating effect of mental borders is true for the two neighboring cities, Villingen and Schwenningen, that both belong to the Alemannic dialect area, but according to the data diverge linguistically (with Schwenningen now becoming part of the Swabian dialect cluster). This result again points to the large impact that culturally constructed borders can have on linguistic dynamics. The results are substantiated with further data taken from the “Atlas der deutschen Alltagssprache” that prove the importance of regional identities (Schwaben vs. Badener) for the cultural and linguistic structuring of the survey area.

HERRINGA and HINSKENS provide another aggregate dialectometric treatment of data, but their research focuses not only on the divergence or differences among Dutch dialects but also on the degree to which convergence occurs and, additionally, the degree to which that convergence is in the direction of Standard Dutch. They collected data from 80 sites evenly distributed over the Dutch language area and studied phonetic differences on the basis of a modifi ed Levenshtein distance measure (in which weights were assigned to differences), and other modifi cations were brought to bear to assure detailed arithmetic comparisons (pp. 253–255). In addition, they apply SÉGUY’S (1973) method to investigate lexical and morphological differences. Since their data are sensitive to demographic differences, they can ask any number of sociolinguistically appropriate questions that impinge on convergence and divergence. In Figure 1 (p. 297), for example, they show, in apparent time, those areas that have exhibited the most dialect change (in the far north and south it would appear) and go on to consider the degree to which dialects have converged with one another by comparing older male speakers with younger female speakers, presumably the extremes of conservative and innovative varieties. The north shows considerably more con-vergence, and, in a following substudy, also shows the greatest convergence towards Standard Dutch. In a regression model, the researchers then ask what predictors of dialect change are

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strongest and fi nd that a model that introduces the convergence/divergence from other dialects scores, the divergence from Standard Dutch score, and the distance from Standard Dutch score is the most effective combination, explaining 50.4 % of the variance.

Their fi nal question asks which linguistic level has been most infl uenced by these various tendencies for change all taken together. The fi ndings will perhaps not surprise those who work with folk salience: lexicon leads (28.9 %), followed by phonology (11.1 %), followed by (a not signifi cantly different) morphology (8.3 %). HERRINGA and HINSKENS conclude that 1) distances in phonology have decreased, 2) dialects have converged towards Standard Dutch, 3) dialects most distant from Standard Dutch show less divergence from or convergence towards surrounding varieties, 4) those same most distant varieties show a greater convergence with Standard Dutch, and the predictors of variety change are as summarized above in their regression model. The remainder of the chapter outlines a procedure that will be followed in submitting these same data to perceptual judgments by local speakers to assess their agreement/disagreement with the produc-tion fi ndings and shed further light on the cultural meaning of the direction and type of change.

Overall this anthology is an excellent potpourri of recent work in dialectology; it highlights two current trends: studies in perception (broadly conceived) and the application of advanced dialectometric methods. In both cases new techniques are presented that should become a part of the toolkit of any scholars who approach the important cultural and linguistic questions of language and space.

There are proofi ng and editorial diffi culties in the work. The detailed color maps in the ap-pendix are not referenced in the chapters themselves; therefore, when one comes to a fi gure or map, it is not clear if it is one page over or back or one of the excellent maps in the appendix; that would have been easy to fi x. In some cases the lack of summary tables (in Chapter 4 for example) makes following the text very diffi cult. In some other cases the reduced scale of charts makes them especially diffi cult to read (Chapter 6). In one case a fi gure (Abbildung 4, p. 63) is simply incorrect: it shows the same map as Abbildung 5 (p. 64) making the remarks about 4 (p. 62) diffi cult to interpret. In Chapter 4 the text says 12 voices but the table shows 16 (p. 81), and in the same chapter the notion “high” is used in places to refer to strong or weak multicultural network ties. Finally, some more careful proofi ng would have prevented sentences such as “Is it the dialectological maps which we consider truth-lending way of displaying the variation?” (p. 123).

Although these diffi culties are annoying to the reader, anyone interested in current trends in perception and dialectometry will be advised to take the methods and techniques outlined here under advisement; they are carefully done exemplars of the most recent tends in the fi eld.

REFERENCES

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PEDERSON, LEE (1993): An approach to linguistic geography: The Linguistic atlas of the Gulf Sta-tes. In: PRESTON, DENNIS R. (ed.): American dialect research. Amsterdam: Benjamins, 31–92.

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WEIJNEN, ANTONIUS A. (1946): De Grenzen Tussen de Oost-Noordbrabantse Dialecten Onderin. In: WEIJNEN, ANTONIUS A. / J. M. RENDERS / JAC. VAN GUINEKEN (eds.): Oost-Noordbrabantse Dialectproblemen. Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers mij (Bijdragen en Mededelin-gen der Dialectencommissie van de Koniklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen te Amsterdam. 8), 1–15.

Stillwater, OK DENNIS R. PRESTON

Luxembourg CHRISTOPH PURSCHKE

BERND HEINE / HEIKO NARROG (eds.) (2012): The Oxford Handbook of Linguistic Analysis. Oxford: Oxford University Press. 1048 S. € 42,50

Der vorliegende Sammelband umfasst 33 Kapitel inklusive einer Einführung der Herausgeber. Vorangestellt ist ein Autorenverzeichnis in dem zu jedem beitragenden Autor kurz grundlegende Informationen über dessen Werk und Werdegang vorgestellt werden. Abgerundet wird der Band mit detaillierten Sach- (S. 987–989), Namens- (S. 990–994) und Themenregistern (S. 995–1016).

Abgesehen von der Einführung gibt es keine logische oder thematische Struktur der Kapitel-anordnung. Zugunsten einer wertungsfreien Einstellung gegenüber den verschiedenen Theorien sind die Beiträge nach dem ersten Schlagwort im Titel alphabetisch geordnet.

Obwohl der Band in der „Oxford Handbook“-Reihe erschienen ist, und anders als es der Titel vermuten lässt, bietet der Band weniger einen praktischen Leitfaden, sondern vielmehr einen Überblick über die verschiedenen aktuellen Theorien der Sprachanalyse. Er dient daher eher als Nachschlagewerk, um sich über spezifi sche Ansätze zu informieren denn als Anleitung. Inhaltlich sind alle derzeit verwendeten linguistischen Disziplinen, sowohl solche aus der Sicht des formalism als auch functionalism, und sogar „Framework-Free Grammatical Theory“ (Ka-pitel 14 von MARTIN HASPELMATH), vertreten. Es ist erfreulich, dass auch ein Kapitel zu einer der jüngsten linguistischen Disziplinen, der Gebärdensprache, enthalten ist (Kapitel 29 von SHERMAN WILCOX / PHYLLIS PERRIN WILCOX). Die Herausgeber betonen, dass dieser Band keine Bewertung der Ansätze vornimmt, sondern dass sich im Gegenteil oft mehr Gemeinsamkeiten als Unter-schiede fi nden lassen, und dass die traditionelle Grenze zwischen formalism und functionalism immer mehr verwischt.

Dass dieser Band kein praktischer Leitfaden ist, zeigt sich auch in den unterrepräsentierten Bereichen der Phonologie und Morphologie. Die meisten der Kapitel konzentrieren sich auf Morphosyntax, wie es von den Herausgebern verlangt wurde. Dennoch ist ein Kapitel über Phonologie im Bereich der Optimalitätstheorie („Optimality Theory in Phonology“ von MARIA GOUSKOVA) enthalten. Einige Ansätze sind durch mehr als ein Kapitel vertreten, aber statt sich unnötig zu wiederholen ergänzen sie einander.

Eine breite Palette von Themen wird von anerkannten Experten in ihren jeweiligen Bereichen vorgestellt, zum Beispiel „Role and Reference Grammar“ (ROBERT D. VAN VALIN, JR.), „Functio-nal Discourse Grammar“ (KEES HENGEVELD / J. LACHLAN MACKENZIE), und „Formal Generative Typology“ (MARC C. BAKER). Die Herausgeber selbst steuern neben der Einführung das Kapitel „Grammaticalization and Linguistic Analysis“ bei. Die gewählten Themen refl ektieren moderne Betrachtungsweisen und obwohl traditionelle Standpunkte berücksichtigt werden, verliert man sich nicht in unnötigen Details.

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Die folgenden Absätze skizzieren Kapitel 1–33. Da eine detaillierte Besprechung der einzelnen Kapitel über den Rahmen dieser Rezension hinausgehen würde, werden nur ein paar Kapitel detaillierter beschrieben. Deren Auswahl ist weder Ausdruck einer vermeintlichen Überlegenheit der jeweiligen Theorien noch basiert sie auf einer Voreingenommenheit gegenüber den Autoren; sie ist rein zufällig.

Das einführende Kapitel „Introduction“ von BERND HEINE / HEIKO NARROG (S. 1–26) ist direkt gefolgt von „The Adaptive Approach to Grammar“ von TALMY GIVÓN (S. 27–50), „The Carto-graphy of Syntactic Structures“ von GUGLIELMO CINQUE / LUIGI RIZZI (S. 51–66) und „Categorial Grammar“ von GLYN MORRILL (S. 67–86). Des Weiteren folgen „Cognitive Grammar“ von RONALD W. LANGACKER (S. 87–110), „Embodied Construction Grammar“ von JEROME FELDMANN / ELLEN DODGE / JOHN BRYANT (S. 111–138), „Sign-Based Construction Grammar“ von LAURA A. MICHAE-LIS (S. 139–158), „Corpus-Based and Corpus-Driven Analyses of Language Variation and Use“ von DOUGLAS BIBER (S. 159–192), „Default Semantics“ von KASIA M. JASZCOLT (S. 193–222), „Dependency Grammar and Valency Theory“ von VILMOS ÁGEL / KLAUS FISCHER (S. 223–256), „An Emergentist Approach to Syntax“ von WILLIAM O’GRADY (S. 257–285), „Formal Generative Typology“ von MARC C. BAKER (S. 285–312) und „A Frames Approach to Semantic Analysis“ von CHARLES J. FILLMORE / COLLIN BAKER (S. 313–340).

Kapitel 14 „Framework-Free Grammatical Theory“ von MARTIN HASPELMATH (S. 341–366) hebt sich von den anderen Kapiteln in diesem Band ab. HASPELMATH befürwortet einen extremen Ansatz der linguistischen Beschreibung, der völlig frei ist von vordefi nierten Ansichten. Seiner Meinung nach bietet nicht einmal die „Basic Linguistic Theory“ (siehe DIXON 2010) eine Methode, die radikal genug ist, um einer Sprache gerecht zu werden, sondern wiederholt nur die gleichen Muster wie die Ansätze, die sie zu verwerfen vorgibt. HASPELMATH zeigt die Vorteile der Frame-work Free Grammatical Theory anhand zweier Beispiele auf: der grundlegenden Satzstruktur in Tagalog (nach SCHACHTER / OTANES 1972) und der deutschen Wortstellung auf Satzebene (nach DRACH 1937 und ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997). Er räumt zwei mögliche Nachteile ein: Sprachbeschreibungen unter Zuhilfenahme der Framework Free Grammatical Theory sind per Defi nition sowohl schwieriger zu konstruieren als auch zu verstehen. Schließlich zeigt er die Beschränkungen von typologischen Beschreibungen auf, denen zum Beispiel X-bar theory und argument fl agging der Optimalitätstheorie unterliegen.

Weiterhin folgen „Functional Discourse Grammar“ von KEES HENGEVELD / J. LACHLAN MACKEN-ZIE (S. 356–400), „Grammaticalization and Linguistic Analysis“ von BERND HEINE / HEIKO NARROG (S. 401–424), „Lexical-Functional Grammar“ von ASH ASUDEH / IDA TOIVONEN (S. 425–458), „The Natural Semantic Metalanguage Approach“ von CLIFF GODDARD (S. 459–484) und „Linguistic Minimalism“ von CEDRIC BOECKX (S. 485–506).

GEERT E. BOOJS Beitrag „Morphological Analysis“ (S. 507–530) besitzt etwas mehr prakti-schen Wert als die meisten anderen Kapitel. Er beginnt mit grundlegenden Informationen über Morphologie und widmet sich kurz morphologischen Prozessen wie Wortbildung und Flexion. Es folgen detailliertere Erklärungen der Schnittstellen von Morphologie mit Phonologie, Semantik und Syntax, und der Leser wird über morphologische Klassifi kation, die Formation von Affi xen, Diachronie, die Verarbeitung von komplexen Wörtern und Produktivität informiert. BOOJ wirbt nicht offen für einen bestimmten Ansatz, ist aber zweifellos vom Funktionalismus beeinfl usst. In dem letzten, leider recht kurzen, Abschnitt, gibt er praktische Ratschläge zu Quellen für mor-phologische Datenbanken und Werkzeuge der morphologischen Analyse. Dies ist ein Kapitel, das sich für jeden zu lesen lohnt, der wünscht, morphologische Analysen durchzuführen.

Es folgen „Optimality Theory in Phonology“ von MARIA GOUTSKOVA (S. 531–554), „Opti-mization Principles in the Typology of Number and Articles“ von HENRIËTTE DE SWART / JOOST ZWARTS (S. 555–582), „The Parallel Architecture and its Place in Cognitive Science“ von RAY JACKENDOFF (S. 583–606), „Neo-Gricean Pragmatic Theory of Conversational Implicature“ von YAN HUANG (S. 607–632), „Probabilistic Linguistics“ von RENS BOD (S. 633–662), „Linguistic Relativity“ von ERIC PEDERSON (S. 663–678), „Relevance Theory“ von FRANCISCO YUS (S. 679–702) und „Role and Reference Grammar as a Framework for Linguistic Analysis“ von ROBERT D. VAN VALIN, JR. (S. 703–738).

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Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, LXXXI. Jahrgang, Heft 1 (2014)© Franz Steiner Verlag Stuttgart

Kapitel 29 „The Analysis of Signed Languages“ von SHERMAN WILCOX / PHYLLIS PERRIN WILCOX (S. 739–760) präsentiert das relativ junge Gebiet der Gebärdensprachen (die Autoren ziehen den Begriff „Signed Languages“ gegenüber dem üblicheren „Sign Languages“ vor). Die Autoren geben zunächst einen kurzen Überblick über die Geschichte der wissenschaftlichen Studie und dem typologischen Profi l von Gebärdensprachen. Gebärdensprache wurde als Forschungsfeld der Linguistik erst nach WILLIAM C. STOKOES Arbeit über American Sign Language aus dem Jahr 1960 (vgl. STOKOE 1960) anerkannt. Frühere Studien waren oft fehlgeleitet durch den Vergleich mit gesprochener Sprache. Vorgeschlagene typologische Merkmale sind: Gebärdensprachen markieren überwiegend am Kopf und sind topic-prominent. Danach folgt ein Abschnitt über die Rolle von Ikonizität, Metaphern, Metonymie und eine kurze Zusammenfassung der Grammatikalisierung in Gebärdensprachen. Ein Großteil des Kapitels ist dem letzten Teil über die Beziehung von Gestik zur Gebärdensprache gewidmet, wahrscheinlich weil dies das Spezialgebiet der Autoren ist.

Zum Schluss folgen die Kapitel „Simpler Syntax“ von PETER W. CULICOVER (S. 761–796), „Systematic Functional Grammar and the Study of Meaning“ von ALICE CAFFAREL (S. 797–826), „Usage-Based Theory“ von JOAN L. BYBEE / CLAY BECKNER (S. 827–856) und „Word Grammar“ von RICHARD HUDSON (S. 857–885).

Eine thematisch strukturierte Reihenfolge der Kapitel wäre willkommen gewesen. Obwohl sich zugegebenermaßen Schwierigkeiten ergeben würden in Bezug auf die scheinbare Vorran-gigkeit einiger Ansätze, wäre es für den Leser bequemer, eine Übersicht der Themenblöcke zu haben. Obwohl man aus dem Titel und/oder den Autoren erraten kann, welche Theorien in einem Kapitel dargestellt werden, haben es Leser, die nicht mit der Terminologie und der Forschungs-gemeinschaft vertraut sind, schwer, eine geeignete Kapitelauswahl zu treffen. Eine kleine Hilfe ist hier die alphabetische Übersicht der Autoren zu Beginn des Bandes, aus denen ihre jeweiligen Fachgebiete hervorgehen. Alles in allem sind die Redakteure zu beglückwünschen ein Nach-schlagewerk geschaffen zu haben, das alle gängigen (und manchmal scheinbar gegensätzlichen) Sprachanalysetheorien in einer neutralen Weise präsentiert.

LITERATUR

DIXON, R. M. W. (2010): Basic linguistic theory. Volume 1: Methodology. Oxford: Oxford Uni-versity Press.

DRACH, ERICH (1937): Grundgedanken der deutschen Satzlehre. Frankfurt a. M.: Diesterweg.SCHACHTER, PAUL / FÉ T. OTANES (1972): Tagalog Reference Grammar. Berkeley: University of

California Press.STOKOE, WILLIAM C. (1960): Sign Language Structure. An Outline of the Visual Communication

Systems of the American Deaf. Silver Spring, MD: Linstok Press.ZIFONUN, GISELA / LUDGER HOFFMANN / BRUNO STRECKER (1997): Grammatik der deutschen Sprache.

3 Bände. Berlin/New York: De Gruyter.

Marburg/Lahn NEELE MÜLLER

RITA HEUSER / DAMARIS NÜBLING / MIRJAM SCHMUCK (Hg.) (2011): Familiennamengeographie. Er-gebnisse und Perspektiven europäischer Forschung. Berlin/New York: De Gruyter. 389 S. € 129,95

Vom 2. bis 4. Oktober 2008 fand an der Universität Mainz die Tagung „Europäische Familien-namengeographie“ statt. Die Tagungsbeiträge sind in dem vorliegenden Sammelband, der KON-RAD KUNZE zum siebzigsten Geburtstag gewidmet ist, nachzulesen. Die Tagung steht in engem Zusammenhang mit dem DFG-Projekt „Deutscher Familiennamenatlas“ (DFA), das seit 2005 unter der Leitung von KONRAD KUNZE und DAMARIS NÜBLING an den Universitäten Freiburg und Mainz durchgeführt wird. Einige Beiträge stammen daher aus dem direkten Projektumfeld des

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DFA und geben einen Einblick in die Auswertungsmöglichkeiten die das Projekt bietet. Wie dem Vorwort zu entnehmen ist, war es das Ziel der Tagung, einen internationalen Wissensaustausch auf dem Gebiet der Familiennamengeographie anzustoßen und einen Überblick über derartige Projekte in Europa zu erhalten (S. V), was durch die versammelten Beiträge auch gelungen ist.

Der Band gliedert sich thematisch sinnvoll in die vier Bereiche „Familiennamengeographie in europäischen Nachbarländern“, „Familiennamengeographie grenzübergreifend“, „Familienna-mengeographie regional“ und „Familiennamengeographie interdisziplinär“. Von den insgesamt 23 Aufsätzen ist lediglich ein Beitrag in englischer Sprache verfasst, doch wird eine internationale Rezeption durch die vorangestellten Abstracts, die in beinahe allen Fällen in englischer Sprache verfasst sind, ermöglicht.

Der Teil „Familiennamengeographie in europäischen Nachbarländern“ wird eingeleitet durch die Aufsätze von THORSTEN ANDERSSON und EVA BRYLLA, die zusammen einen vollständigen Über-blick über die skandinavische Familiennamentypologie ermöglichen. Von besonderem Interesse ist die Familiennamengebung in Island, da hier durch die anhaltende Vergabe von Patronymika noch heute eine Vorstufe des Familiennamensystems beobachtet werden kann. Skizziert werden in beiden Aufsätzen die Entstehung der Familiennamen in den skandinavischen Ländern unter dänischem Einfl uss, entsprechende Gesetzgebungen sowie die heutige Problematik der häufi gen -sen und -son-Namen. Geographische Studien stehen für die Mehrheit der formulierten For-schungsfragen jedoch noch aus.

In einem Projekt an der Universität Bamberg beschäftigt sich WOLFGANG VIERECK mit der englischen Familiennamengeographie. Als Datengrundlage dienen hierfür zwei Mormonen-Datenbanken, Volkszählungsergebnisse sowie Telefonbücher, womit sowohl die historische als auch die derzeitige Familiennamenverbreitung nachvollzogen werden kann. Die Vorteile der Einbeziehung der historischen Komponente zeigen sich bei der Musteranalyse der Familienna-men Murphy und Pytt/Pett/Pitt/Putt. Konstatiert werden kann, dass „[v]iele englische […] Fa-miliennamen bezüglich ihrer Verbreitung eine erstaunliche Stabilität über Jahrhunderte hinweg“ (S. 26) aufweisen und dialektale Muster oftmals mit dem Vorkommen bestimmter Familiennamen korrelieren (S. 27) – dies gilt auch für andere Länder und ist auch in weiteren Aufsätzen dieses Sammelbands festgehalten.

JAN GOOSSENS stellt in seinem Beitrag eine Typologie niederländischer Familiennamen nach „lexikalischen Namengebungsmotiven“ (S. 44) auf, deren Verbreitung er anhand umfangreichen Kartenmaterials nachweisen kann. Verbunden ist diese Arbeit mit einer kritischen Auseinanderset-zung mit den für den deutschen Sprachraum bekannten Einteilungskriterien der Familiennamen, wie sie sich unter anderem bei GOTTSCHALD (2006) und KOHLHEIM / KOHLHEIM (2005) fi nden. Ob die von GOOSSENS vorgeschlagene Alternative (S. 59) auch außerhalb der niederländischen Familiennamenforschung übernommen werden kann und Vorteile zu der etablierten Einteilung hat, müsste sich noch erweisen.

Mit dem „Familiennamenbuch der Schweiz“ (1989) verfügt die Schweizer Familiennamen-geographie über ein wertvolles Hilfsmittel, dessen Vorzüge CHRISTIAN SEIDL anhand von Ana-lysen der Familiennamen Federer und Maier/Mayer sowie weiterer Fragestellungen nachweist. Veranschaulicht sind die Ergebnisse durch Verbreitungskarten, die jedoch nicht automatisiert erstellt werden können.

Das „Desiderat [der] automatisierte[n] Erstellung von Verbreitungskarten“ (S. 89), die auch die historische Komponente beinhalten, formuliert auch SIMONE M. BERCHTOLD in ihrem Beitrag. Wie derartige Verbreitungskarten für die Schweiz aussehen könnten, zeigen die Beispielkarten im Anhang (S. 360–361). Im Übrigen ist der Aufsatz eine methodische Anleitung zum Auffi nden von Familiennamennestern, die anhand der Beispiele Entlebuch (Luzern) und Frutigen (Bern) vorgestellt wird.

KARL HOHENSINNER zeigt in seinem Beitrag und den darin enthaltenen Karten anhand des Namens Mayr/Mair/Mayer/Maier etc., inwiefern der „Oberösterreichische Familiennamenat-las“ für die Familiennamengeographie nutzbar gemacht werden könnte. Er betont dabei auch die Wichtigkeit genealogischer Forschung und dialektalen Wissens. Eine weiterführende und

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ergänzende Auswertung des Materials des „Oberösterreichischen Familiennamenatlas“ in der aufgezeigten Hinsicht wäre wünschenswert.

Für das Gebiet Italiens zeichnet ANDREA BRENDLER Entwicklung und Stand der Familiennamen-geographie detailliert nach. Eine mögliche zukünftige familiennamengeographische Forschung könnte hier mit dem genealogischen Projekt „Friuli in prin“ einen natürlichen Kooperations-partner fi nden.

„[I]n Anlehnung an die Arbeitsmethode des DFA“ (S. 130) ist für Spanien ein Kartierungspro-gramm auf der Grundlage von Telefonbüchern entwickelt worden. Erste Ergebnisse mit anschau-lichem Kartenmaterial bietet der Aufsatz von JAVIER CARO REINA. Von besonderem Interesse sind hierbei die dialektalen Laut- und Schreibverhältnisse, die das Baskische und das Katalanische betreffen, wodurch die Familiennamengeographie einen Beitrag zur Dialektologie leisten kann.

Den Beginn des Teils „Familiennamengeographie grenzübergreifend“ macht der Vergleich zwischen deutschen und niederländischen Familiennamen im Raum Arnheim-Neuss von GEORG CORNELISSEN. Anschaulich zeigen die sieben exemplarischen Untersuchungen dabei, wie sich die Spaltung des historischen Sprachraums durch die Landesgrenze auch in den Familiennamen niedergeschlagen hat, wodurch ein wichtiger Baustein zur historischen Dialektologie beigetragen werden kann.

In der beispielhaften Untersuchung der tschechischen Familiennamen in Leipzig stellt ERNST EICHLER nicht nur Besonderheiten dieser Familiennamen in den Bereichen Vokalismus, Konso-nantismus und Wortbildung im Vergleich zu anderen slavischen Sprachen dar. Er zeigt überdies auch zukünftige Forschungsaufgaben in diesem Bereich auf und verweist zu Recht auf „die his-torische und soziologische Problematik der FN als Prisma der demographischen Entwicklung“ (S. 164), was über das derzeitige Forschungsinteresse der Familiennamengeographie hinaus zeigt.

Mit dem Familiennamen Lehmann und dessen „Varianten und Ableitungen im Polnischen“ (S. 165) zeigt INGE BILLY nicht nur Kartierungs- und Auswertungsmöglichkeiten dieser und ähnlich gelagerter Fragestellungen auf, sondern leistet auch einen Beitrag zur Etymologie von polnisch lennik ‘Lehensmann’ und lenno ‘Lehen’. Deutlich wird dabei abermals die große Bedeutung der Siedlungsgeschichte und historischer Belege für die Einordnung heutiger familiennamengeo-graphischer Befunde.

In eine ähnliche Richtung zielt auch der Beitrag von JÜRGEN UDOLPH – „Familiennamen als Zeugen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung“ (S. 179) –, der eindrucksvoll durch Karten dokumentiert, wie wichtig die Einbeziehung historischer Wanderung und die Namenlandschaft der Nachbarländer für die Erforschung des heutigen Familiennamenbestandes ist. Von Waldensern, „Welschen Einwanderern“, Hugenotten und Salzburger Exulanten über die Zuwanderung im 19. Jahrhundert aus Pommern, Ostpreußen und Schlesien werden die wichtigsten Einwanderer-gruppen seit dem 17. Jahrhundert erfasst und die Auswirkung auf den deutschen Namenbestand sichtbar gemacht.

Teil drei des vorliegenden Sammelbandes befasst sich mit „Familiennamen regional“.HANS RAMGE verbindet „Familiennamengeographie und Flurnamenforschung“ (S. 201) und

erläutert die zugrundeliegende Methodik anhand von hessischen Beispielen. Das Ziel ist die Erschließung von Verbreitungsräumen bestimmter Familiennamenvarianten, was auch aus dia-lektologischer Perspektive von Interesse ist.

Einen Überblick über die Leistungen des „Familiennamenatlas Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland“ – einem Teilprojekt des DFA – bietet der Beitrag von RUDOLF STEFFENS. Hier werden an ausgewählten Beispielen Besonderheiten der westmitteldeutschen Familiennamenlandschaft dargestellt, die auch eine enge Rückkopplung zu sprachhistorischen, dialektologischen Frage-stellungen haben.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der „Atlas der Familiennamen von Baden-Württemberg“, dessen methodisches Vorgehen sowie sprachgeographische Erkenntnisse HUBERT KLAUSMANN erläutert. Für etliche Forschungsfragen bringt die Verbindung von „Dialektgeographie und Familiennamengeographie [neue Ergebnisse und kann auch] zu eindeutigen Erkenntnissen der Siedlungsgeographie und Siedlungsgeschichte“ (S. 238) führen.

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FRIEDHELM DEBUS stellt anhand von „Matthäus und Matthias in deutschen Familiennamen“ (S. 255) eindrucksvoll den Variantenreichtum der Familiennamengebung dar. Für eine zuverlässige Identifi zierung der Varianten ist stets ein Blick auf die Verbreitungskarten, dialektologische Kenntnisse und – was oftmals verschwiegen wird – auch das Wissen um die Aussprache der Familiennamen notwendig. Es ist FRIEDHELM DEBUS mit STELLMACHER (2005) daher zuzustimmen, dass „Onomastik und Dialektologie […] als eine ‚naturgegebene Fächerverbindung‘“ (S. 267) anzusehen sind. Gerade die vorausgehenden, regional eng begrenzten Beiträge dieses Sam-melbands zeigen eindrücklich, dass ein deutschlandweites Familiennamenprojekt wie der DFA von größtem Wert ist, dass aber eine Auswertung einzelner Ergebnisse und Karten immer auch kleinräumiges dialektologisches und (sprach-)historisches Wissen erfordert.

Der Beitrag von KATHRIN DRÄGER bietet einen Überblick über die Ergebnisse ihrer Dissertation zu „Familiennamen aus dem Rufnamen Nikolaus in Deutschland“ (S. 269). Durch die Kartie-rungsmöglichkeiten sind neue Aussagen zur Verbreitung von Kurzformen, zu phonologischen, graphematischen und morphologischen Aspekten sowie zur Zugehörigkeit einiger Familiennamen zu diesem Typus möglich. Von (sprach)geschichtlichem Interesse ist dabei, dass mithilfe der Familiennamengeographie „erstmals auch ein zuverlässiger und rationeller Zugang zur mittel-alterlichen Rufnamengeographie möglich“ (S. 276) gemacht wird.

Der letzte Teil des Sammelbands ist überschrieben mit „Familiennamen interdisziplinär“.Von allgemeinem linguistischen Interesse ist hierbei der Beitrag von MIRJAM SCHMUCK zum

„s-Plural im Spiegel der Familiennamengeographie“ (S. 285), der eine Ergänzung des Aufsatzes NÜBLING / SCHMUCK (2010) zur Entstehung des s-Plurals aus dem Genitivmarker um sprachgeo-graphische Argumente darstellt. Anhand von niederländischen und deutschen Beispielen werden Familiennamen als „[d]ie fehlende semantische Brücke für den Übergang ‚Gen. Sg. → ‚Plural‘“ (S. 302) vorgeschlagen.

Der Beitrag von LUISE KEMPF und JESSICA NOWAK mit dem Titel „Neubert, Grunert, Taubert: Die Erweiterung von -er zu -ert im Licht der Familiennamengeographie“ (S. 305) verdeutlicht, wie Familiennamengeographie zur Überprüfung bisheriger Forschungshypothesen eingesetzt werden kann. Die Kartierung liefert überdies wertvolle Hinweise auf die historische Verbreitung regional begrenzter Lexeme (siehe insbesondere Karte S. 316). Zugleich ist der Aufsatz ein Beispiel dafür, wie Familiennamengeographie mit dem Problem der mehrfachen Erklärungs-möglichkeit von Familiennamen umgehen kann und dass auch historische Quellen, Genealogie und das Heranziehen von Vergleichsnamen zur Absicherung der Ergebnisse heranzuziehen sind.

ROSA KOHLHEIM und VOLKER KOHLHEIM weisen in ihrem Aufsatz auf ein bisher kaum beachte-tes Phänomen hin: „Deutsch-türkische Homographien“ (S. 321) im Familiennameninventar wie es zum Beispiel die Namen Kalender oder Dalman(n) sind. Hier zeigt sich, dass mithilfe von Vornamen in Telefonbucheinträgen – die jedoch keineswegs zu verabsolutieren sind –, dialekto-logischem Wissen und Familiennamengeographie wichtige Erkenntnisse zur Unterscheidung der beiden Namen getroffen werden können. Gleichzeitig kann der Aufsatz auch als eine Warnung angesehen werden, die Ergebnisse auf familiennamengeographischen Karten nicht zu stark zu vereinfachen und ohne Hintergrundwissen zu interpretieren.

GERHARD KOSS gewährt einen Einblick in die rechtliche Entwicklung der Wahl des Ehenamens in den deutschsprachigen Ländern und deren Auswirkungen auf die aktuelle Familiennamenwahl bei der Eheschließung. Er zeigt dabei, dass auch die regionale Verbreitung bestimmter Familien-namen zu einer ablehnenden Haltung gegenüber diesen Namen führen kann.

Die Frage „Was hat Familiennamengeographie eigentlich mit Familiennamen zu tun?“ (S. 351) stellt SILVIO BRENDLER und weist damit auf ein terminologisches Problem der Onomastik hin, das durchaus weiter diskutiert werden kann. Den vielfältigen Nutzen der Karten im Hinblick unter an-derem auf „dialektgeographische Differenzen […] [oder] Einzugsgebiete von Siedlung(sräum)en“ (S. 355) stellt er jedoch positiv heraus.

Der Sammelband „Familiennamengeographie“ bietet einen umfassenden und anregenden Überblick über den Stand und die Möglichkeiten dieser noch jungen Hilfsmethode. Der umfang-reiche Anhang farbiger Karten zeigt eindrucksvoll die verschiedenen Kartierungsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Fragestellungen der Onomastik auf. Der Band ermöglicht zudem einen

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raschen Überblick über die wichtigsten Publikationen und Internetseiten in den vertretenen Ländern, was den Einstieg in vergleichende Forschungen erleichtert. Leider fehlt ein Register der behandelten Namen und Namenbestandteile, was eine schnellere Auswertung der einzelnen Forschungsergebnisse sicher begünstigt hätte.

Insgesamt bleibt mit JÜRGEN UDOLPH zum Thema der heute möglichen Familiennamengeogra-phie zu konstatieren, dass sie „die Untersuchung der Familiennamen Deutschlands und Europas auf eine neue und fundierte Grundlage gestellt“ (S. 196) hat – „man muss sie nur mit Sorgfalt und Vorsicht nutzen“ (S. 195). Insbesondere die historische Komponente darf nicht vernachläs-sigt werden – was auch zahlreiche Beiträge des vorliegenden Sammelbands betonen – da sonst schwerwiegende Fehlschlüsse drohen (vgl. JANKA 2009). Sprachgeschichtliches und dialektolo-gisches Wissen bilden die Basis für die Bewertung der gezeigten Karten.

Es ist zu wünschen, dass es der Familiennamengeographie gelingt auch historische Quellen in großem Umfang in ihre Forschungen einzubeziehen, auch wenn dies technisch derzeit sehr viel schwieriger zu realisieren ist, da derartiges Material noch nicht in entsprechender Form vorliegt. Von einer Familiennamengeographie, die auch historisch und komparativ arbeiten kann, wird die Linguistik und insbesondere die Dialektologie vielfach profi tieren können – der vorliegende Band legt einen Grundstein für diese Entwicklung auf internationaler Ebene, wofür den Herausgeberinnen zu danken ist.

LITERATUR

GOTTSCHALD, MAX (2006): Deutsche Namenkunde. Mit einer Einführung in die Familiennamen-kunde von Rudolf Schützeichel. 6. Aufl age. Berlin/New York: De Gruyter.

KOHLHEIM, ROSA / VOLKER KOHLHEIM (2005): Duden. Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Mannheim u. a.: Dudenverlag.

Familiennamenbuch der Schweiz (1989). 3. Aufl age. Zürich: Schulthess Polygraphischer Verlag. Siehe auch <http://www.hls-dhs-dss.ch/famn/>.

STELLMACHER, DIETER (2005): Dialektologie und Onomastik. Eine ‚naturgegebene‘ Fächerver-bindung. In: BURKHARDT, ARMIN / URSULA FÖLLNER / SASKIA LUTHER (Hg.): Magdeburger Na-menlandschaft. Onomastische Analyse zu Stadt und Region in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a. M.: Lang (Literatur – Sprache – Region. 6), 29–37.

NÜBLING, DAMARIS / MIRJAM SCHMUCK (2010): Die Entstehung des s-Plurals bei Eigennamen als Reanalyse vom Kasus- zum Numerusmarker. Evidenzen aus der deutschen und niederländi-schen Dialektologie. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 77, 145–182.

JANKA, WOLFGANG (2009): Zur Methodik der Familiennamenforschung. Die Namen Eidenschink, Eigenschink und Eisenschink im Spannungsfeld Mündlichkeit – Schriftlichkeit. In: HENGST, KARLHEINZ / DIETLIND KRÜGER (Hg.): Familiennamen im Deutschen. Erforschung und Nach-schlagewerke. Deutsche Familiennamen im deutschen Sprachraum. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 603–613.

Regensburg SABINA BUCHNER / ALBRECHT GREULE

LAURA A. JANDA (ed.) (2013): Cognitive Linguistics: The Quantitative Turn. The Essential Reader. Berlin/Boston: De Gruyter Mouton. 324 S. (Mouton Reader). € 29,95

Der vorliegende Band ist eine Sammlung von zehn Artikeln, die zwischen 2008 und 2012 in der Zeitschrift „Cognitive Linguistics“ erschienen sind. Die Herausgeberin, LAURA A. JANDA, hat diese Artikel ausgewählt und mit einem Vorwort versehen. Die Beiträge repräsentieren ein wei-tes Themenspektrum innerhalb der kognitiven Linguistik; alle Artikel stammen von namhaften Vertretern der jeweiligen Forschungsgebiete. Für die Auswahl der Beiträge waren diese Kriterien

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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allerdings nachrangig, da der eigentliche Fokus des Bandes auf den angewandten quantitativen Forschungsmethoden liegt. Die zunehmende Verwendung dieser Methoden in kognitiv-linguis-tischer Forschung ist, was JANDA als den „quantitative Turn“ (S. 4) bezeichnet.

Das primäre Ziel des Bandes ist es, Studierende an aktuelle Arbeitsweisen in der kognitiven Linguistik heranzuführen. Im Zentrum des Interesses stehen hierbei mehrere statistische Ver-fahren, die in den ausgewählten Artikeln auf konkrete Forschungsfragen angewandt werden. Das Vorwort benennt diese Verfahren und umreißt kurz ihre Funktionen (S. 9–26); es geht um den Chi-Quadrat-Test, den exakten Fisher-Test, den Binomialtest, Varianten des T-Tests und der ANOVA, Korrelationsmaße, lineare Regression und binäre logistische Regression, gemischte Mo-delle, Clusteranalysen und Methoden der Dimensionsreduktion, wie etwa die Multidimensionale Skalierung. Dies ist in etwa das Inventar statistischer Verfahren, das in aktuellen Lehrbüchern zu quantitativen Untersuchungsmethoden sprachlicher Daten vertreten ist (BAAYEN 2008, JOHNSON 2008, GRIES 2013), und in der Tat versteht sich der Band als ergänzendes Lesematerial für eine Lehrveranstaltung zu statistischen Methoden. Wo ein übliches Lehrbuch lediglich ein dekon-textualisiertes Beispiel mit einem Datensatz und dessen Analyse bereithält, zeigen die Beiträge im vorliegenden Band die Anwendung dieser Methoden in ihrem natürlichen Kontext, nämlich eingebettet in eine Forschungsfrage, ein Ergebnis und eine theoretische Schlussfolgerung.

Diese Besprechung liefert zunächst einen Überblick der einzelnen Beiträge um zu skizzieren, zu welchen Zwecken sich die Beiträge auf quantitative Methoden stützen. Wie der Band selbst geht die Besprechung nach den angewandten Methoden vor. Nach dem Überblick folgt eine abschließende Wertung.

Der Chi-Quadrat-Test: STEFANOWITSCH (S. 33–56) geht der Frage nach, wie Kinder im Sprach-erwerb lernen, dass bestimmte Verben nicht mit bestimmten Konstruktionen harmonieren, wie etwa das Verb explain, das Muttersprachler des Englischen nicht in der ditransitiven Konstruktion akzeptieren (*She explained me the theory). Eine mögliche Erklärung hierfür liegt darin, dass Kinder das Verb oft in der präpositionalen Dativ-Konstruktion hören (She explained the theory to me), selbst wenn diese Konstruktion sich aufgrund ihrer Informationsstruktur schlechter in den diskursiven Kontext einfügt als die ditransitive Konstruktion. Ein Vergleich von alternie-renden Verben (tell, read) und nicht-alternierenden Verben (explain, mention) in der präpositio-nalen Dativ-Konstruktion durch einen Chi-Quadrat-Test zeigt jedoch, dass sich die zwei Typen hinsichtlich ihrer diskursiven Kontexte nicht nennenswert unterscheiden. Die Hypothese einer informationsstrukturellen Erklärung wird daher verworfen.

GOLDBERG (S. 57–80) greift die Fragestellung von STEFANOWITSCH auf und vergleicht die Häufi gkeiten von acht alternierenden und acht nicht-alternierenden Verben über beide konkur-rierenden Konstruktionen hinweg. Für den Vergleich werden Beispielsätze mit einem pronominal ausgedrückten Rezipienten und einem lexikalisch ausgedrückten Thema herangezogen (etwa She told me the news/She told the news to me). Erwartbarerweise zeigt ein Chi-Quadrat-Test einen stark signifi kanten Unterschied zwischen den beiden Verbtypen an. GOLDBERG argumentiert damit, dass die Vermeidung von explain in der ditransitiven Konstruktion über einen Frequenzeffekt erlernt wird: wäre explain ein alternierendes Verb, müsste das Input deutlich mehr Vorkomm-nisse enthalten. Da dies nicht der Fall ist, wird eine grammatische Beschränkung angenommen.

JOHANNSON FALCK und GIBBS (S. 81–102) untersuchen eine klassische Thematik der kognitiven Linguistik, nämlich die metaphorische Konzeptualisierung von abstrakten Ideen. Der Ausgangs-punkt der Analyse ist das Wortpaar path–road aus der Quelldomäne des Raumes. Zunächst wird per Fragebogen erhoben, wie sich diese beiden Wörter in ihrer buchstäblichen Bedeutung semantisch unterscheiden, zum Beispiel hinsichtlich des Auftretens von Hindernissen, der Steigung oder der Breite. Chi-Quadrat-Tests zeigen signifi kante Unterschiede in einer Reihe von Merkmalen. Der zweite Teil der Analyse ist eine korpuslinguistische Untersuchung von metaphorischen Ver-wendungen der zwei Wörter. Wieder zeigen Chi-Quadrat-Tests mehrere Unterschiede, so zum Beispiel dass path häufi ger für die Metapher eines Lebenswegs herangezogen wird, während road üblicherweise wirtschaftspolitische Prozesse metaphorisch umschreibt. JOHANNSON FALCK und GIBBS setzen dieses Ergebnis in Bezug zu den Antworten der Fragebogenstudie und argu-

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mentieren, dass die metaphorische Verwendung der Begriffe auf körperliche Erfahrungen in der Quelldomäne zurückgeht.

THEAKSTON, MASLEN, LIEVEN und TOMASELLO (S. 103–140) präsentieren eine Longitudinal-studie, die die Entwicklung der transitiven Konstruktion im Spracherwerb eines englischspra-chigen Kindes nachzeichnet. Ein zentraler Aspekt der Analyse ist die Frage, wie die sogenannte präferierte Argumentstruktur (PAS) erworben wird: Im Sprachgebrauch erwachsener Sprecher ist in transitiven Sätzen das Subjekt zumeist pronominal ausgedrückt während das Objekt durch eine lexikalische Form verbalisiert wird. Chi-Quadrat-Tests zeigen, dass der Sprachgebrauch des untersuchten Kindes vom erwachsenen Gebrauch abweicht, wobei im Laufe der Zeit eine Angleichung stattfi ndet. Interessanterweise betrifft diese Angleichung zunächst transitive Ver-ben, die das Kind bereits lange benutzt; neu erworbene transitive Verben zeigen nicht sofort das Muster der präferierten Argumentstruktur.

Der exakte Fisher-Test: HAMPE (S. 141–176) analysiert die Kollokationsbeziehungen zwischen grammatischen Konstruktionen und den Lexemen, die in diesen Konstruktionen vorkommen. Eine Methode, die speziell für diesen Analysetypus entwickelt wurde, ist die sogenannte Kol-lostruktionsanalyse (STEFANOWITSCH / GRIES 2003). Im Rahmen einer solchen Analyse wird die Gesamthäufi gkeit eines lexikalischen Elements mit seiner Häufi gkeit innerhalb einer bestimmten Konstruktion verglichen. Ist dieser zweite Häufi gkeitswert höher als statistisch erwartet, ist das Lexem typisch für die Konstruktion und kann für eine semantische Analyse der Konstruktion herangezogen werden. Ob ein Element signifi kant häufi g in einer Konstruktion erscheint, wird durch einen exakten Test nach Fisher berechnet. HAMPE konzentriert sich in dieser Fallstudie auf ein syntaktisches Muster, das als denominative Konstruktion bezeichnet wird. Die Konstruktion beinhaltet einen transitiven Satz mit einem nominalen oder adjektivischen Objektkomplement (They elected me senior treasurer, He deemed the result questionable). Die Analyse ermittelt die jeweils typischsten Verben und nimmt diese Ergebnisse als Basis für eine semantische Cha-rakterisierung dieser Konstruktionen.

Der Binomialtest: GRIES (S. 177–196) stellt die Hypothese auf, dass alliterative idiomatische Ausdrücke wie bite the bullet, turn the tables oder make a mark häufi ger im Sprachgebrauch vor-kommen als dies statistisch zu erwarten wäre. Diese Hypothese wird auf der Basis einer erstellten Datenbank von Idiomen überprüft. Von 211 hochfrequenten Idiomen weisen 35, also 11,3 Prozent, ein alliteratives Muster auf. Liegt die erwartbare Häufi gkeit einer Alliteration im allgemeinen Sprachgebrauch nun darunter? GRIES berechnet die erwartbare Häufi gkeit auf verschiedene Weisen und erhebt darüber hinaus eine Stichprobe nicht-idiomatischer Verbalphrasen. Sämtliche Werte unterschreiten den Wert von 11,3 Prozent substantiell, exakte Binomialtests bestätigen die Signifi kanz des Unterschieds, womit die Ausgangshypothese bestätigt ist.

ANOVA: DĄBROWSKA, ROWLAND und THEAKSTON (S. 197–225) befassen sich mit dem Erwerb von Interrogativkonstruktionen mit sogenannten long distance dependencies (wie etwa in Whati do you think they will say __i ?). In generativ-linguistischen Theorien wird angenommen, dass diese Konstruktionen als syntaktische Regel erworben werden. Alternativ dazu wird in dieser Studie der Ansatz vertreten, dass die Kinder lexikalisch spezifi sche Instanzen der Konstruktion lernen und diese sukzessive variieren und ausbauen. Um diese Hypothese zu überprüfen, wird in dieser Studie das experimentelle Paradigma der Satzwiederholung angewendet. Kinder im Vorschulalter werden gebeten, vorgelesene Sätze korrekt zu wiederholen. Die Sätze, die hierfür verwendet werden, bilden verschiedene Kategorien ab. Neben typischen Fragesätzen (What do you think the boys will really like?) hören die Kinder untypische Fragesätze (Who does the boy believe likes smelly socks?) und mehrfach eingebettete Fragesätze (What do you think he said they will like?). Die Voraussage des syntaktischen Ansatzes wäre, dass alle drei Typen gleich akkurat wiederholt werden. Der alternative Ansatz dagegen sagt einen Vorteil der typischen Fragesätze voraus; diese Voraussage bestätigt sich. Die Anzahl korrekter Wiederholungen variiert syste-matisch zwischen den drei Kategorien, eine ANOVA bestätigt, dass die jeweiligen Mittelwerte signifi kant voneinander abweichen.

Binäre logistische Regression: DIESSEL (S. 225–250) widmet sich der Frage, welchen Einfl uss die Ikonizität auf die Reihenfolge von temporalen Adverbialsätzen und deren Hauptsätzen hat.

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In einer Satzreihe wie I fed the cat before I left home sind die Ereignisse in ikonischer Weise angeordnet, so dass die Reihenfolge von Haupt- und Adverbialsatz der Reihenfolge der geschil-derten Ereignisse entspricht. Eine andere Anordnung ist allerdings möglich. Neigen Sprecher des Englischen dazu, komplexe Sätze ikonisch zu strukturieren? DIESSEL untersucht Satzreihen mit when, after, before, once und until und untersucht deren Anordnung mithilfe einer binären logistischen Regression. Die Methode erlaubt es, mehrere erklärende Faktoren gleichzeitig auf ihre Wirkmächtigkeit hin zu untersuchen. Die Analyse zeigt, dass mehrere Faktoren einen wirk-samen Effekt haben, darunter die Länge des Adverbialsatzes und die Semantik der Subjunktion. Das Hauptergebnis ist jedoch, dass die Anordnung von Haupt- und Nebensätzen signifi kant durch Ikonizität beeinfl usst wird.

Gemischte Modelle: ZENNER, SPEELMAN und GEERAERTS (S. 251–294) präsentieren eine Studie zu englischen Lehnwörtern im Niederländischen. Die Forschungsfrage ist, welche Faktoren dazu beitragen, dass ein Konzept durch einen Anglizismus versprachlicht wird. Um diese Frage zu beantworten, wurde eine Liste von 129 Konzepten erstellt, für die Versprachlichungen dieser Konzepte wurden Belegstellen aus Korpusdaten gesammelt. Die Daten erlauben für jedes Kon-zept die Bestimmung der relativen Wahrscheinlichkeit, mit der es als Lehnwort verbalisiert wird. Für das Konzept „Rucksacktourist“ ergibt sich dieser Wahrscheinlichkeitswert aus den relativen Häufi gkeiten der Synonyme backpacker, rugzakker und rugzaktoerist. Was bestimmt, ob jemand backpakker oder rugzakker sagt? Diese Frage kann durch ein gemischtes Modell geklärt werden, das eine Verfeinerung einer binären logistischen Regression darstellt. Die erklärenden Fakto-ren des hier vorgestellten Modells sind unter anderem die relative Wortlänge des Anglizismus, das lexikalische Feld des Konzepts, die Häufi gkeit des Konzepts und die zeitliche Periode der Entlehnung. Diese werden als sogenannte fi xed effects modelliert; jedes Konzept für sich geht als random effect in die Analyse ein. Die Analyse zeigt unter anderem eine Begünstigung von Anglizismen bei kurzer Wortlänge, niedriger Konzeptfrequenz und einem lexikalischen Feld mit Bezug zu anglo-amerikanischer Kultur.

Hierarchische Clusteranalyse: JANDA und SOLOVYEV (S. 295–321) untersuchen russische Synonyme, die die Konzepte „Glück“ und „Traurigkeit“ zum Ausdruck bringen. Jedes dieser Synonyme wird daraufhin analysiert, in welchen formalen Kontexten es mit welcher relativen Frequenz vorkommt. Dafür werden Datensätze von jeweils 500 Vorkommnissen aus Korpusdaten erhoben, diese werden anhand morphosyntaktischer Kriterien klassifi ziert. Für jedes Synonym ergibt sich so ein Frequenzprofi l, das als Grundlage einer Analyse von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Synonymen dient. Mithilfe einer hierarchischen Clusteranalyse wird festgestellt, welche Synonyme sich in ihrem morphosyntaktischen Verhalten soweit ähneln, dass sie als Gruppen zusammengefasst werden können. JANDA und SOLOVYEV vergleichen diese Gruppen mit Defi nitionen in Lexika und stellen Korrespondenzen zwischen dem formalen Verhalten der Synonyme und deren Bedeutungskomponenten fest.

Der vorliegende Band liefert einen anschaulichen Überblick über die aktuelle Forschungs-landschaft in der kognitiven Linguistik, in der sich tatsächlich eine quantitative Wende vollzogen hat. Ein Kulturwandel hin zu messenden Verfahren, die in anderen sozialwissenschaftlichen Dis-ziplinen bereits seit längerem tonangebend sind, ist klar zu beobachten. Alle hier versammelten Beiträge haben den anonymen Begutachtungsprozess von „Cognitive Linguistics“ durchlaufen, der sich in einer durchgehend eindrucksvollen Qualität niederschlägt. Komplettiert wird der positive Eindruck durch die Einleitung von LAURA A. JANDA, die darin ein Plädoyer für mehr Offenheit im Umgang mit Urdaten und mit Computerprogrammen für deren Analyse abgibt. Auch die Grundidee des Sammelbandes ist begrüßenswert; die Darstellung bestimmter Verfahren anhand authentischer, veröffentlichter Beispiele ist ein stimmiges Konzept.

Ein paar Kritikpunkte sollen dennoch nicht unerwähnt bleiben. Wie der Überblick aufzeigt ist der Chi-Quadrat-Test in den Beiträgen stark überrepräsentiert. Dies ist möglicherweise der weiten Verbreitung dieses Tests geschuldet. Weiterhin ist der Band, entgegen dem Hinweis auf dem Buch-deckel, nur eingeschränkt für Studierende ohne Vorwissen geeignet. Die Einleitung fasst in aller Kürze zusammen, was in Einführungswerken auf mehreren hundert Seiten ausgeführt wird und auch dort nicht immer leicht zu verstehen ist. Zwischen den anspruchsvollen Originaltexten und

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der kondensierten Beschreibung in der Einleitung werden sich unerfahrene Leser etwas verloren vorkommen. Drittens hätte etwas mehr editorialer Aufwand dem Band gut getan. So gibt es zum Beispiel keinen Index für das schnelle Auffi nden zentraler Begriffe, der dem Band einen Mehrwert gegenüber den Originalpublikationen gegeben hätte. Ein vierter Kritikpunkt ergibt sich aus dem Klappentext, in dem Folgendes zu lesen ist: „Cognitive Linguistics (CL) has an edge over other modern linguistic theories in that it takes performance (or usage) seriously, i. e. it recognizes the importance of data in the context of a theoretical framework“. Eine solche Formulierung ist unglücklich gewählt, da sie suggeriert, dass die theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit Performanzdaten ein Alleinstellungsmerkmal der kognitiven Linguistik sei. Dies ist natürlich nicht der Fall und die Aussage ist mit Sicherheit nicht im Sinne der beitragenden Autorinnen und Autoren. Um trotz dieser Abstriche abschließend zum positiven Grundtenor zurückzukommen: Wer sich mit aktuellen Arbeitsweisen der kognitiven Linguistik auseinandersetzen will, fi ndet in diesem Band einen anspruchsvollen und vielseitigen Überblick.

LITERATUR

BAAYEN, R. HARALD (2008): Analyzing linguistic data. A practical introduction to statistics. Cambridge: Cambridge University Press.

GRIES, STEFAN TH. (2013): Statistics for Linguistics with R. Berlin: Mouton de Gruyter.JOHNSON, KEITH (2008): Quantitative Methods in Linguistics. London: Blackwell.STEFANOWITSCH, ANATOL / STEFAN TH. GRIES (2003): Collostructions: Investigating the interac-

tion between words and constructions. In: International Journal of Corpus Linguistics 8 (2), 209–243.

Neuchâtel MARTIN HILPERT

MATTHIAS KATERBOW / ALEXANDER WERTH (Hg.) (2010): Moderne Regionalsprachen als multidi-mensionales Forschungsfeld. Hildesheim [u. a.]: Olms. 208 S. (Germanistische Linguistik. 210). € 39,80

MATTHIAS KATERBOW und ALEXANDER WERTH legen einen Sammelband vor, der die Vielfalt mo-derner Ansätze zur Erforschung der Variation im Deutschen aufzeigen soll. Gemeinsamer Unter-suchungsgegenstand der Sammlung von sieben Aufsätzen mit einem Vorwort der Herausgeber sind Regionalsprachen, die der Marburger Tradition entsprechend (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011) als Sprechlagen/Varietäten defi niert werden, die im Kontinuum zwischen Standardsprache und ortsgebundenem Basisdialekt „unterhalb“ der standardsprachlichen Oralisierungsnorm vorliegen und von der vertikalen wie auch der horizontalen Variationsdimension geprägt sind. Als Unter-suchungsfeld eignen sich Regionalsprachen besonders, weil ihre Herausbildung einem massiven Umbau im Variationsspektrum entspricht, der für die Geschichte des Deutschen in den letzten 100 bis 150 Jahren prägend ist.

Die Beschreibung dieses Prozesses erfordert die Entwicklung und Nutzung neuer, moderner Methoden der Variationslinguistik. So betonen die Herausgeber zum Beispiel, dass die Einbezie-hung aller Beschreibungsebenen der Sprachwissenschaft erforderlich ist. Daher sollten zusätzlich zur bislang prägenden segmentalphonologischen (und – weit weniger stark prägend – morphologi-schen) Ebene weitere Beschreibungsebenen (Syntax, Prosodie) berücksichtigt werden. Neben der Beschreibung von Sprachwandel auf Grundlage sprachlicher Produktionsvarianten gewinnt auch der Prozess der Reevaluierung von Varianten durch die Sprachnutzer Beachtung, so dass neben der produktionsbasierten Tradition der Dialektologie perzeptionsbasierte Forschungsmethoden nötig werden, die Erkenntnisse zur Neubewertung von Varianten und damit zur Herausbildung von Varietäten und Sprechlagen ermöglichen. Dass diese neuen Zugänge sowie andere Verfahren – wie

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zum Beispiel die neue Analyse historischer Daten oder die Beschäftigung mit dem Erwerb von Regionalsprachen – zur „multidimensionale[n] moderne[n] Regionalsprachenforschung“ (S. 10) beitragen, vermag der Band anhand exemplarischer Studien deutlich zu machen. Im Folgenden sollen die sieben Studien in Kürze kritisch zusammengefasst werden.

BRIGITTE GANSWINDT beschäftigt sich im Beitrag „Oralisierungsnormen im frühen 20. Jahrhun-dert. Empirische Untersuchungen zum regionalen Hochdeutsch einer nationalen Elite“ mit der Frage, welchen Einfl uss die Massenmedien auf die Herausbildung von Regionalsprachen hatten, indem sie untersucht, „ob und wenn ja, inwieweit eine deutschsprachige nationale Elite vor der massenmedialen Verbreitung der Standardsprache durch den Rundfunk ein regionales Hochdeutsch gesprochen hat“ (S. 15). GANSWINDT nutzt Tonaufnahmen von deutschen Oberbürgermeistern um 1930 aus Rundfunkarchiven sowie einen Vergleich der Sprache Konrad Adenauers in den Jahren 1929, 1949 und 1955 als Datengrundlage. Leider ist nur bei den Adenauer-Aufnahmen zu erfahren, welchen Inhalt die analysierten Reden und Ansprachen haben und ob diese an ein regionales oder ein überregionales Publikum gerichtet sind. Diese Kriterien können aber für die Wahl der Sprechlage eine Rolle spielen.

Phonetische Feintranskriptionen der Aufnahmen werden auf Wortbasis mit Hilfe des Marbur-ger Verfahrens zur Dialekalitätsmessung (vgl. HERRGEN et al. 2001) mit ihren der Standardnorm laut DUDEN-Aussprachewörterbuch entsprechenden Äquivalenten verglichen. Die errechneten Werte werden vor dem Hintergrund von Vergleichsstudien (vor allem LAMELI 2004) interpretiert. Für die Sprache der Oberbürgermeister um 1930 kann festgestellt werden, dass sie zwar deutlich standardabweichend sprechen, jedoch weit weniger standarddivergent, als es eine regionaldialek-tale Realisierung erwarten ließe. Die Sprache lässt sich somit mit LAMELI als „Regionalakzent“ einordnen. Ob sie wirklich nicht als standardnah empfunden wurde, wie es GANSWINDT anhand eines Vergleichs der Werte mit dem von LAMELI ermittelten perzeptiven Grenzwert zur Standard-sprachlichkeit interpretiert, ist allerdings fraglich, da über das Empfi nden von Hochsprache und Sprache der Massenmedien zu dieser Zeit zu wenig bekannt ist.

Der direkte Vergleich von Adenauers Sprache vor und nach der Nazi-Zeit erbringt das inte-ressante Ergebnis, dass der Dialektalitätswert in den Aufnahmen von 1949 und 1955 mit 0,93 bzw. 0,87 weit höher liegt als 1929 (0,47). Bedenkt man, dass Adenauer 1929 einer regionalen Aufgabe als Kölner Bürgermeister nachging und ab 1949 als erster Bundeskanzler eine über-regionale Aufgabe hatte, so überrascht die stärkere Regionalität der Sprache in den jüngeren Aufnahmen. GANSWINDT interpretiert das Ergebnis als Nutzung einer regionalen Prestigesprache (der Dialektalitätswert ist nicht annähernd mit einem basisdialektalen vergleichbar), die mit der Bundeskanzlerschaft eine höhere Geltung auch auf überregionaler Ebene erlangt hat – eventuell auch aufgrund der damalig neuen Bundeshauptstadt Bonn, die durch ripuarische Dialektmerkmale Adenauers quasi symbolisiert wird – und verspricht vertiefende Untersuchungen zu diesem Gebiet.

Der Beitrag von MATTHIAS KATERBOW („Individuelle Varietätenkompetenz und kommunikative Anforderungen. Sprachliche Synchronisierung und Binnenmigration zwischen Schwäbisch und Moselfränkisch“) geht einer Fundierung des Prozesses der „Synchronisierung“ nach, wie er in der Theorie der Sprachdynamik (SCHMIDT / HERRGEN 2011) als fundamentaler Bestandteil des dyna-mischen Kompetenzabgleichs beschrieben wird. Unter Synchronisierung wird im Rahmen dieser Theorie verstanden, dass Sprecherinnen und Sprecher in der sprachlichen Interaktion ständig mit Kompetenzdifferenzen konfrontiert sind, das heißt ihr eigenes, individuelles sprachliches Kom-petenzinventar mit dem von anderen Beteiligten abgleichen. So werden sie zum einen mit neuen Varianten konfrontiert, zum anderen wird aber auch ihre eigene Sprachproduktion einer ständigen Bewertung unterzogen, die sich in der sogenannten Mikrosynchronisierung durch HörerInnen-Reaktionen äußert. In Mesosynchronisierungen können sich die Effekte „gleichgerichtete[r] Abfolgen von Mikrosynchronisierungen“ (S. 41) laut dieser Theorie durch Stabilisierung des Variationswissens in einer Veränderung der individuellen sprachlichen Kompetenz niederschlagen.

Um diesen Komplex zu untersuchen, analysiert KATERBOW Daten aus einer Sprachsitua-tion, die starke Kontraste zwischen den beteiligten regionalen Varietäten (des Schwäbischen und Moselfränkischen) sowie zur Standardsprache zeigt. Als Erhebungsort wird der durch LENZ (2003) gut untersuchte Ort Wittlich im moselfränkischen Gebiet gewählt. Hier wird eine

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Sprecherin untersucht, die ihre sprachliche Primärsozialisation im schwäbischen Dialektgebiet durchlaufen hat und seit 1992 bis zum Erhebungszeitpunkt in Wittlich lebt. Ihre Sprache wird in vier interaktiven Erhebungssituationen in Hinblick auf den Kompetenzabgleich untersucht: in einer standardsprachlichen Interviewsituation, im Gespräch mit zwei Gesprächspartnern mit moselfränkischer Regionalsprache (Schwiegermutter, Ehemann) sowie im Gespräch mit einer Gesprächspartnerin mit schwäbischer Regionalsprache (Cousine).

Die Analyse umfasst eine Variablenanalyse, die qualitativ und quantitativ (in Hinblick auf Standarddifferenz) durchgeführt wird, sowie eine Analyse der Hörerurteilsdialektalität. Im Ergeb-nis zeigt sich, dass die Sprecherin einige schwäbische Varianten situationsunabhängig beibehält, andere Varianten situationsabhängig durch Standardvarianten austauscht, einige Varianten aber auch ebenfalls situationsabhängig durch moselfränkische austauscht. KATERBOW zeigt, wie mit einer gründlichen Analyse der Kompetenzabgleich in einer regionalsprachlichen Kontaktsituation abgebildet werden kann.

Der Titel des Beitrags von TIM KALLENBORN ist „Dialektgrenzen im Regiolekt? Zur Frage nach dem Erhalt dialektaler Strukturgrenzen in standardnahen Sprechlagen am Beispiel des Saarlandes.“ Der Beitrag widmet sich einem weiteren Element der Theorie der Sprachdynamik, nämlich der Frage, ob die Strukturgrenzen der großen Dialektverbände sich in der Entwicklung der modernen Regionalsprachen weiterhin als prägend erweisen. KALLENBORN geht dieser Frage auf Grundlage von Daten aus standardnahen Sprechlagen im Saarland nach und untersucht die Entwicklung im geographischen Umkreis der Isoglossen, die das Rhein- und das Moselfränkische trennen und somit die Strukturgrenze zwischen den Dialektverbänden darstellen. Als Daten werden Gesprächsbeiträge von Polizisten genutzt, die Notfallanrufe annehmen – ob das Beobachterpa-radoxon hier durch Gewohnheit an die obligatorische Aufnahme dieser Gespräche tatsächlich „ausgeschaltet“ (S. 72) werden kann oder doch das Bewusstsein einer Beobachtungssituation nur in den Hintergrund tritt, sei dahingestellt – und eine standardnahe, aber doch deutlich regi-onalsprachliche Sprechlage verwenden.

KALLENBORN führt eine Variablenanalyse bei Sprechern auf beiden Seiten der Strukturgrenze durch, die zum Ergebnis hat, dass bei zwei von drei untersuchten Variablen die Strukturgrenze zumindest tendenziell weiterhin bedeutsam ist. Phänomene breiten sich zwar über die Struktur-grenze hinweg aus, die Beherrschung ihrer Regeln (etwa der „Eifl er Regel“) jedoch ist weiterhin nur innerhalb der Strukturräume ersichtlich.

CHRISTOPH PURSCHKE wählt einen Zugang zur Erfassung regionalsprachlicher Kompetenz, der im Gegensatz zu den bislang vorgestellten vorwiegend produktionsbasierten Ansätzen seinen Ausgangspunkt in der sprachlichen Perzeption nimmt. In seinem Beitrag „Regionalsprachliches Wissen und Perzeption. Zur Konzeptualisierung des Hessischen“ zeigt PURSCHKE anhand eines gut defi nierten theoretischen Modells des regionalsprachlichen Wissens sowie einer Vielfalt methodischer Zugänge, wie komplex die Beschreibung von Sprachraumkonzepten ausgehend vom Hörerwissen ausfallen muss.

Als Beispiel dient die regionalsprachliche Variation im Bundesland Hessen. Zum einen wer-den Daten aus Kartierungsaufgaben untersucht, bei denen Personen aus verschiedenen Gebieten Hessens gebeten wurden, bekannte Sprachräume in großregionale (Großstädte-Karten der Bun-desrepublik) und kleinregionale (Kleinregionalkarten von Hessen) Karten einzuzeichnen. Zum zweiten wird die Verortung von Sprecherinnen und Sprechern analysiert, wie sie bei Aufnahmen standard- und dialektorientierten Sprechens vorgenommen wird.

Die Ergebnisse zeigen, dass die mentale Sprachraumgliederung keineswegs nur von sprachli-chen Charakteristika geprägt ist, sondern sich an politischen Grenzen und kulturellen Vorbildern orientiert. Wie feingliedrig eine Verortung vorgenommen werden kann, hängt stark vom indivi-duellen Erfahrungshintergrund ab (geographisches, regionalspezifi sches Wissen, Herkunft und Alter, Dialektkompetenz). Eine methodische Neuerung in der von PURSCHKE adäquat benannten „perzeptiven Variationslinguistik“ stellt die Nutzung der Dialektimitation durch nicht-hessische Sprecher dar, die eine Möglichkeit zur Beschreibung der prototypischen Merkmale von Sprachräu-men aus Hörersicht darstellt. Insbesondere hier zeigt sich, dass das Konzept Hessisch zumindest außerhalb Hessens stark mit der Stadt Frankfurt assoziiert wird.

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Auf Grundlage der vielfältigen Methoden kommt PURSCHKE zu einer „semantischen Skizze“ des Sprachraumkonzepts Hessisch (S. 120–122). Während es PURSCHKE gelingt, die aus der Methoden-vielfalt erwachsenden unterschiedlichen Ergebnisse mit dem notwendigen Einbezug individueller Faktoren überzeugend zu bündeln, fehlen bei der Methodenbeschreibung teilweise genauere Angaben zur Datengrundlage und zur Aufgabenstellung. So wird zum Beispiel keine Information darüber gegeben, welchen Inhalts, welcher Länge und welcher Qualität die Aufnahmen sind, die für die Verortungsaufgabe genutzt wurden, und wer sie eingesprochen hat.

In seinem Aufsatz „Sprachdynamik und syntaktische Variation“ wendet sich OLIVER SCHAL-LERT anhand von Übersetzungsdaten aus der Standardsprache in den Dialekt der Frage zu, wie sich syntaktische Variablen in der Sprachdynamiktheorie fassen lassen und welche Rolle dabei der areale Raum und soziale Gruppen spielen. Die Untersuchung erfolgt anhand von Daten aus Vorarlberg und Liechtenstein. Interessanterweise lassen sich hier neben einer Apparent time-Perspektive (gleichzeitige Datenerhebung bei älteren und jüngeren Menschen) auch Daten aus der Erhebung der Wenkersätze vom Beginn des 20. Jahrhunderts verwenden, die im Vergleich mit den neu erhobenen Daten eine Real time-Perspektive ergänzen.

Zwei syntaktische Variablen werden analysiert: Zum einen werden Ersatzinfi nitiv-Konstruk-tionen betrachtet, bei denen ein starker Rückgang der V1-V2-Serialisierung bei zweigliedrigen Konstruktionen (sie haben sie wollen verkaufen) festgestellt wird. Es fehlt jedoch eine Diskussion der Tatsache, dass dies nicht zugunsten der im Standard gebräuchlichen V2-V1-Serialisierung geschieht (sie haben sie verkaufen wollen) – gegenüber den älteren Sprechern und auch gegenüber den Wenkerdaten ergibt sich für die jungen Sprecher kein signifi kanter Unterschied bei dieser Variante –, sondern nicht näher dargestellte andere Alternativen genutzt werden. Bei dreigliedrigen Ersatzinfi nitiv-Konstruktionen setzt sich in zunehmendem Maße eine V3-V1-V2-Serialisierung durch (dass ich das Formular schon letzte Woche einreichen hätte sollen). Als weitere Variable wird die Abfolge von Objektspronomen in Hinblick auf die Kombinationen es/ihr sowie ihn/mir untersucht. Bei es/ihr ergibt sich eine Durchsetzung der Standardvariante AKK → DAT (Ich habe es ihr gestern gegeben) gegenüber der Variante DAT → AKK (Ich habe ihr es gestern gegeben).1 Bei der Kombination ihn/mir überwiegt hingegen stabil die Variante DAT → AKK (Du musst mir ihn aber morgen wieder zurückgeben, vs. Du musst ihn mir aber morgen wieder zurück geben).

SCHALLERT diskutiert ausgehend von den Ergebnissen ausführlich die Folgerungen für die Behandlung der Syntax in der Sprachdynamiktheorie. Schwierigkeiten bestehen in Hinblick auf horizontale Variation im fehlenden Wissen um syntaktische Isoglossen, in Hinblick auf vertikale Variation in der unklaren Operationalisierung (oder Operationalisierbarkeit) der gesprochenen Standardsprache. Eine eventuelle Lösung der Probleme sieht er in einer sprachnutzerzentrierten Herangehensweise, etwa durch Bestimmung der Salienz von syntaktischen Merkmalen.

Den mittelfränkischen Tonakzenten widmet sich BJÖRN KÖHNLEIN in seinem Beitrag „Gilt in Arzbach wirklich Regel B? Eine phonetisch-phonologische Analyse der Tonakzentopposition im rechtsrheinischen Regel B-Gebiet“. In Hinblick auf die lexikalische Distribution der Tonakzente wurde in früheren Arbeiten festgestellt, dass einem großen, zusammenhängenden Gebiet (Regel A) kleine Gebiete entgegenstehen, in denen die Tonakzente im Vergleich zum erstgenannten Gebiet in umgekehrter Distribution auftreten (Regel B). KÖHNLEIN geht der zunächst durch BACH (1921) geäußerten Vermutung nach, dass der Ort Arzbach einem Gebiet mit Regel B angehört. Hierzu führt er zunächst einen Perzeptionstest mit linguistischen Laien (von KÖHNLEIN irreführend als „naive Sprecher / Hörer“2 bezeichnet, zum Beispiel S. 170) durch, der zeigt, dass in Arzbach bei segmentell gleichlautenden Wörtern phonologische Distinktionen durch Tonakzente bewirkt werden – ein Tonakzentsystem also noch in der heutigen Regionalsprache aktiv ist (leider fehlt die auf S. 175 versprochene Tabelle 4 mit den Ergebnissen). Eine instrumentalphonetische Analyse

1 Hier fehlt die sonst jeweils mitgelieferte Statistik, jedoch können nach Durchführung der er-forderlichen Chi-Quadrat-Tests durch den Rezensenten jeweils signifi kante Unterschiede bestätigt werden.

2 Eine brauchbare Alternative – die hier sicherlich gemeint ist – wäre die Bezeichnung als „lin-guistisch naiv“, wie zum Beispiel bei KÜNZEL (1990).

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zeigt zudem, dass die Tonakzente tatsächlich nach Regel B verteilt sind, und stellt die typischen Intonationskurven und Dauerunterschiede der beiden Akzente heraus.

MAIKE PREHN widmet sich im Beitrag „Die langen fi nalen Nasale im Nordniedersächsischen. Ihre Phonetik und phonologische Repräsentation“ einem weiteren prosodischen Phänomen, nämlich der Opposition zwischen phonetisch kurzem Nasal und zwei Typen phonetisch langer Nasale. Phonetisch lange Nasale entstehen zum einen durch Apokope auslautenden Schwas (Typ A, vgl. /kann/ ‘Kanne’), zum anderen durch Synkope bei nasal auslautendem Stamm in Verbindung mit nasal auslautendem Flexiv (Typ B, vgl. /kann̩/ ‘Kannen’), und stehen phonetisch einfachem Konsonanten gegenüber (vgl. /kan/ ‘kann’, 3. Person Singular von können). Es stellt sich die Frage, ob phonetisch lange Konsonanten nach Kurzvokal einen prosodemisch-funktionalen Un-terschied begründen. Die Untersuchung erfolgt anhand vorhandenen Materials (Wenkersätze, freie Sprache) und eigener Aufnahmen von Minimalpaarlisten in variierenden Satzkontexten durch Informanten im Hamburger Raum. Der phonetischen Analyse werden 96 Wörter mit wortfi nalem langem Nasal zugrunde gelegt.

Eine phonetische Analyse von Minimalpaaren bzw. -tripeln in fokussiert fi nalem Satzkontext erbringt das Ergebnis, dass sich die langen Nasale in Hinblick auf Länge, Sonorität und Inten-sität deutlich von einfachen Nasalen unterscheiden – daneben zeigen sich Unterschiede in der Position der F0-Maxima. Bei den Wörtern mit langem Nasal kann kein prosodemischer Unter-schied in Hinblick auf die F0-Kurven festgestellt werden. Jedoch stellen sich Typ B-Nasale als syllabisch dar, während Nasale des Typs A dies nicht tun. Die phonetische Analyse wirkt sauber durchgeführt, jedoch bleibt unklar, ob in den Einzelanalysen in Abschnitt 3.1 und 3.2 Aufnahmen eines Informanten zugrunde gelegt werden oder zentrale Tendenzen aus den Aufnahmen aller Informanten ermittelt werden. Auch die Zusammensetzung der zugrunde liegenden Wörter wird nicht ausreichend erläutert: Dass in Hinblick auf die Sonoritätsmessungen auf Seite 197 berichtet wird, dass von 73,4 Prozent der untersuchten Formen mit eigenem Sonoritätsmaximum nur 7,25 Prozent Typ A angehören (der Rest Typ B) und die restlichen 26,6 Prozent ohne eigenes Sonori-tätsmaximum ausschließlich Typ B repräsentieren, macht stutzig – sind Typ A-Nasale wirklich zu einem so geringen Maß (insgesamt 5,3 Prozent) gegenüber Typ B-Nasalen (insgesamt 94,7 Prozent) repräsentiert? Warum wurde eine solche Überrepräsentation von Typ B-Nasalen hin-genommen, und ist eine Argumentation anhand von Prozentzahlen über das Gesamtmaterial bei dieser Zusammenstellung des Materials nicht irreführend? Man beachte, dass starke Schlüsse über Typ A-Nasale gezogen werden, die – sollten die Zahlen stimmen – auf lediglich fünf analysierten Wörtern mit Typ A-Nasal beruhen.

Davon ausgehend, dass hier entweder ein Darstellungsfehler im Text oder ein Deutungsfehler des Referenten vorliegt, vermag die folgende, auf der Morentheorie basierende phonologische Interpretation der Daten anhand von vier silbenstrukturellen Bedingungen zu überzeugen. Wörter mit Typ A-Nasalen werden abschließend als „tautosyllabisch ohne prosodemische Distinktion auf dem fi nalen langen Nasal“ (S. 204) charakterisiert, Wörter mit Typ B-Nasalen dagegen als „heterosyllabisch ohne prosodemische Distinktion auf dem fi nalen langen Nasal“ (S. 192).

Wie die Vielfalt der Beitragsthemen zeigt, hält der Band, was sein Titel verspricht: Moderne Regionalsprachen werden als multidimensionales Forschungsfeld präsentiert. Die sieben Studien geben einen äußerst vielfältigen Einblick in intelligente Forschungsarbeiten zu unterschiedlichen Bereichen der modernen Regionalsprachenforschung. Alle Artikel sind gut verständlich geschrie-ben und zeigen neue Richtungen für variationslinguistische Analysen auf. Ein kleines Manko des Bandes stellen gelegentliche Ungenauigkeiten bei der Dokumentation der Daten (wie sie bei den jeweiligen Artikeln aufgezeigt wurden) sowie kleinere Ungereimtheiten bei Formalia dar.

Der Band stellt das Feld der Regionalsprachenforschung nicht nur als multidimensionales, sondern auch als sehr dynamisches Forschungsfeld dar. Die Zusammenstellung der Artikel ist lehrreich in Hinblick auf Methoden der Datenerhebung (vgl. vor allem die innovativen Arbeiten von KATERBOW und PURSCHKE), saubere Analysemethoden (durchgängig werden moderne quanti-tative Verfahren genutzt, wobei aber notwendige qualitative Analyseschritte niemals übergangen werden) und die Interpretation und theoretische Auswertung der Analyseergebnisse – der Beitrag von SCHALLERT nimmt sich hier zum Beispiel der schwierigen Interpretation syntaktischer Vari-

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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ation im Theoriemodell der Sprachdynamik an. Insgesamt stellen KATERBOW und WERTH somit einen für die moderne Variationslinguistik des Deutschen sehr hilfreichen Band bereit, der die Vielfalt methodischer Entwicklungen und damit relevante Forschungsperspektiven aufzeigt und dadurch – so ist zu hoffen – zu weiteren Studien in diesem Bereich anzuregen vermag.

LITERATUR

BACH, ADOLF (1921): Die Schärfung in der moselfränkischen Mundart von Arzbach (Unterwes-terwaldkreis). In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 45, 266–290.

HERRGEN, JOACHIM / ALFRED LAMELI / STEFAN RABANUS / JÜRGEN ERICH SCHMIDT (2001): Dialektalität als phonetische Distanz. Ein Verfahren zur Messung standarddivergenter Sprechformen. Im Internet unter: URL: <http://www.archiv.ub.uni-marburg.de/es/2008/0007/pdf/dialektalita-etsmessung.pdf.>.

KÜNZEL, HERMANN J. (1990): Phonetische Untersuchungen zur Sprechererkennung durch lin-guistisch naive Personen. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 69).

LAMELI, ALFRED (2004): Standard und Substandard. Regionalismen im diachronen Längsschnitt. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 128).

LENZ, ALEXANDRA (2003): Struktur und Dynamik des Substandards. Eine Studie zum Westmit-teldeutschen (Wittlich/Eifel). Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 125).

SCHMIDT, JÜRGEN ERICH / JOACHIM HERRGEN (2011): Sprachdynamik. Eine Einführung in die mo-derne Regionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt. (Grundlagen der Germanistik. 49).

Erlangen-Nürnberg SEBASTIAN KÜRSCHNER

ROLAND KEHREIN (2012): Regionalsprachliche Spektren im Raum. Zur linguistischen Struktur der Vertikale. Stuttgart: Steiner. 389 S. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 152). € 60,–

ROLAND KEHREIN legt mit seiner Monographie Methoden und Ergebnisse mehrjähriger Untersu-chungen zur Struktur der regionalsprachlichen Spektren und ihrer diatopischen Unterschiede vor, wie sie im Rahmen des REDE-Projekts („Regionalsprache.de“) in Marburg durchgeführt werden.

Kapitel 1 präsentiert einleitend das Forschungsdesiderat und bettet Gegenstand und Ziel der Arbeit in die Geschichte der Dialektologie ein. Ausführlicher beschreibt der Autor dann im nächsten Kapitel die Entstehung der vertikalen Dimension im Deutschen und setzt sich mit der Terminologie des Forschungsbereichs auseinander, insbesondere mit der Frage, wo in der vertikalen Struktur die Grenze zwischen Standardsprache und Regionalsprache zu setzen ist. Er führt dabei die Sprachdynamiktheorie von SCHMIDT / HERRGEN (2011) ein, auf deren „Ansatz und Beschreibungsinstrumentarium“ (S. 33) seine Forschungsarbeit aufbaut.

Im dritten Kapitel, „Forschungsstand“, setzt sich der Autor mit der Entwicklung von verschie-denen Methoden und Interpretationsansätzen zur Erforschung der „sprachliche[n] Variation auf der Vertikale“ (S. 39) auseinander. Als aktuelle Umsetzungsbeispiele werden das Korpus „Deutsch heute“ des IDS in Mannheim, das Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SiN) und das eigene Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE) mit den jeweils einbezogenen Fragestellungen und Vorgehensweisen vorgestellt. Im zweiten Teil des Kapitels werden der bisherige Wissens-stand und die Hypothesen zur Struktur der Dialekt–Standard-Konstellationen in verschiedenen deutschsprachigen Regionen präsentiert.

Kapitel 4 ist der genauen Darstellung der eigenen empirischen Untersuchung gewidmet. Die Forschungsfragen werden entsprechend der diachronen, horizontalen und vertikalen Dimension im Detail aufgespannt. Sie ordnen sich alle der folgenden Vorbedingung unter:

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Wenn man die modernen Regionalsprachen des Deutschen als horizontal und vertikal gestaffelte Varietätenverbände begreift, welche Ergebnis (nicht aber Endpunkt!) einer bestimmten historischen Entwicklung sind, muss es das Ziel ihrer Erforschung sein, jede Sprechweise eines Sprechers hinsichtlich der genannten Dimensionen zu jeder Sprechweise anderer Sprecher in Beziehung zu setzen. (S. 73)

Die Untersuchung baut auf einem breit angelegten Datenkorpus auf. Sieben Ortspunkte repräsen-tieren die wichtigsten deutschen Dialektregionen: Westniederdeutsch (Alt Duvenstedt), Ostnie-derdeutsch (Stralsund), Westmitteldeutsch (Wittlich), Ostmitteldeutsch (Dresden), Ostfränkisch (Bamberg), Westoberdeutsch (Waldshut-Tiengen), Ostoberdeutsch (Trostberg). Pro Ort wurden Daten von vier ortsfesten Informanten aus drei verschiedenen Generationen mit unterschied-lichen berufl ichen Kommunikationsanforderungen erfasst: ein älterer Sprecher (über 65) mit manueller Arbeitstätigkeit; zwei Polizeibeamte aus der Generation der 45- bis 55-Jährigen, die im Gegensatz dazu einen kommunikationsorientierten Beruf ausüben, und ein 18- bis 20-jähriger Sprecher. Die Personenbezeichnungen sind nicht generisch zu verstehen, da es sich bis auf wenige Ergänzungen des Materials bei den REDE-Informanten ausschließlich um Männer handelt. Die standardisierte Erhebung von Daten erfolgte in insgesamt fünf oder sechs Situationen: 1. Stan-dardkompetenzerhebung (Übertragung der Wenkersätze); 2. Vorleseaussprache von „Nordwind und Sonne“; 3. Notrufannahmegespräche der Polizeibeamten; 4. Interview zu Sprachsozialisation, -kompetenz, -gebrauch und -einstellungen als eine Form der formellen freien Kommunikation; 5. Freundesgespräch als Form der informellen Kommunikation; 6. Dialektkompetenzerhebung (Übertragung der Wenkersätze in den individuell tiefsten Dialekt). Dies bildet die Basis für verschiedene Analysen: Dialektalitätsmessung in Form phonetischer Abstandsmessung, Variab-lenanalyse, perzeptive Experimente zur Dialektalität.

Im Kapitel 5 „Linguistische Struktur der Vertikale: Der Eichpunkt Wittlich“ prüft der Autor im Vergleich mit der Studie von LENZ (2003) die Repräsentativität der REDE-Informanten im Hinblick auf die Sprecher/Repertoiretypen. Dies unterstreicht einmal mehr, dass die Arbeit fest in der Marburger Tradition verwurzelt ist.

Ein Kernstück des empirischen Teils ist Kapitel 6, in dem eine REDE-Modellanalyse aus der Region Waldshut-Tiengen im hochalemannischen Dialektverband erfolgt. Mit objektsprachlichen Analysen (phonetischer Abstandsmessung plus Variablenanalyse) und Hörerurteils-Experimenten zeichnet KEHREIN unter Einbezug von ergänzenden Daten aus anderen Korpora ein Bild der Ent-wicklung von Dialekt und Regiolekt in einer Kombination von real und apparent time-Ansätzen. Er bedient sich einer Clusteranalyse, um die Sprechlagen innerhalb der Varietäten des vertikalen Spektrums zu identifi zieren und zu interpretieren. In der Beschreibung des regionalsprachlichen Spektrums nimmt die Unterscheidung von zwei verschiedenen Typen von regionalsprachlichen Varianten eine zentrale Rolle ein. KEHREIN setzt den „Varianten, die im Dialekt noch absolut stabil sind und bei der Oralisierung der Schriftsprache vollständig ersetzt werden können“ (Typ 1) diejenigen gegenüber, „die nicht ersetzt werden können, wenn Dialektsprecher ihr individuell bestes Hochdeutsch produzieren“ (Typ 2) (S. 203). Der Autor defi niert und operationalisiert da-mit das in der Dialektologie seit SCHIRMUNSKI (1928/1929) wiederkehrende Konzept, dass nicht alle Varianten beim Kontakt mit der Standardvarietät gleichermaßen schnell vom Wandel erfasst werden, auf der Basis seiner Daten neu. Die Variation beim Abbau dialektaler Variablen erklärt der Autor mit den Eigenschaften Kontrollierbarkeit, Auslösung von Kommunikationsproblemen und Verfestigung im Dialekt. Diese Merkmale sind auch zentral in der Beschreibung der Prozesse, die zur Entstehung des vertikalen Spektrums führen: Die Oralisierung der Schriftsprache wird als Basis für die Entstehung des Regiolekts (in der Form Regionalakzent) beschrieben, der dann in den kommunikativen Alltag eindringen kann. Parallel dazu kann eine Regionalisierung des Dia-lekts ablaufen. Insgesamt führen diese Prozesse zu einem Ausbau des variativen Spektrums nach oben in Richtung Standardsprache und können sogar zum Verlust des unteren Bereichs führen.

Vor dem Hintergrund dieser ausführlichen Analyse der alemannischen Daten im Hinblick auf sprachdynamische Prozesse und System- und Registerkompetenz bei Sprechern des westoberdeut-schen Gebiets wird die Ergebnispräsentation in Kapitel 7 auf die fünf verbleibenden Dialektregi-

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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onen Ostmitteldeutsch, Ostfränkisch, Ostoberdeutsch, West- und Ostniederdeutsch ausgeweitet. Der Autor folgt dabei in den einzelnen Unterkapiteln jeweils demselben Muster: Nach einer einleitenden dialektgeographischen Einordnung und Informationen zu den Informanten und den Sprachdaten folgen dann Ergebnisse und Interpretation der phonetischen Abstandsmessungen. Die Beschreibung der Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen leistet der Autor immer für Vokalismus, Konsonantismus und Nebensilben und rundet schließlich mit einer Zusammen-fassung ab.

Ein Perspektivenwechsel erfolgt im achten Kapitel, das sich mit Hörerurteilen zu den stan-dardnächsten Sprechlagen auseinandersetzt. KEHREIN deckt hier in der Verteilung der wahrge-nommenen Standardferne ein Süd–Nord- ebenso wie ein Ost–West-Gefälle auf: „Im größten Teil des mitteldeutschen Sprachraums und im gesamten Oberdeutschen fi nden sich die standardferner beurteilten Sprachproben, während die Sprachproben aus dem niederdeutschen Sprachraum als standardnäher beurteilt werden“ (S. 326). Die einzelnen Hörergruppen unterscheiden sich dabei mit ihren Urteilen nicht wesentlich in Abhängigkeit von ihrer Herkunftsregion (kein sogenannter proximity effect). Nach der Analyse der Restarealität in der Vorleseaussprache schließt das Ka-pitel mit einer Rekapitulation zum Standardbegriff, welche die Defi nition von Standardsprache gekennzeichnet durch „Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen“ nach SCHMIDT / HERRGEN (2011, 62) bestätigt.

In Kapitel 9 „Ergebnisse“ resümiert der Autor. Die verschiedenen regionalsprachlichen Spekt-ren der einzelnen Orte werden zunächst graphisch dargestellt und im Hinblick auf unterscheidende Punkte beschrieben: Abstand der alten Dialekte zur Standardsprache, Anzahl und Position der aktuellen Varietäten- und Sprechlagengrenzen und Relevanz der einzelnen spektralen Bereiche im kommunikativen Alltag. Es sollen hier nur einzelne Kontraste illustrierend hervorgehoben werden: die individuell größte Spanne zwischen dem minimalen und maximalen D-Wert fi ndet sich in der niederdeutschen Region. In der hochdeutschen Region fällt das vertikale Spektrum im Hochalemannischen am breitesten aus, während im Ostoberdeutschen der dialektale Pol, aber ebenso die standardnächsten Sprechlagen am weitesten vom Standard entfernt liegen. Aus den Ergebnissen leitet der Autor fünf Sprechertypen ab: 1. diglossisch: Dialekt für Alltagskommuni-kation, mündliche Umsetzung der Schriftsprache im Regionalakzent (typisch im Oberdeutschen); 2. bivarietär: auch regiolektale Sprechlagen in der Alltagskommunikation (westliches Hoch-deutsch und Oberfränkisch); 3. bivarietär mit Varietätenmix (nur im niederdeutschen Raum); 4. ohne Dialektkompetenz, monovarietär im Regiolekt (außer im mittelbairischen Erhebungsort in allen anderen Untersuchungsgebieten vertreten); 5. monovarietär in der Standardsprache. Die verschiedenen regionalsprachlichen Spektren werden „als Stadien eines Entwicklungsprozesses“ (S. 355) interpretiert:

Das „Anfangsstadium“ wird durch die Region Trostberg repräsentiert, eine erste Weiter-entwicklung fi nden wir in Bamberg und Waldshut-Tiengen, denn diglossische Sprecher sind noch vorhanden, aber bereits in der alten Generation in Waldshut hat Entdiglossierung eingesetzt und es sind bereits monovarietäre Regiolektsprecher vorhanden. In Wittlich sind bei den vergleichbaren Sprechergruppen keine diglossischen Sprecher mehr belegt, dafür bilden Sprecher mit monovarietärer Regiolektkompetenz bereits ein Schwergewicht. Den Abschluss bildet zunächst einmal Dresden, wo lediglich noch Regiolektsprecher vorhanden sind, die kaum intersituative Variation zeigen (S. 355).

Der Autor nennt drei zentrale Einfl ussfaktoren auf vertikale sprachdynamische Prozesse: sprach-liche Primärsozialisation, Verhältnis dialektale Basis zur Standardsprache, berufl iche und private Kommunikationsanforderungen. Dass es sich dabei um sehr unterschiedliche Faktoren und keinesfalls um eine erschöpfende Liste handelt, wird im abschließenden Fazit angedeutet. Nach dem Literaturverzeichnis sind in einem Anhang noch Häufi gkeitstabellen zur Variablenanalyse der Gespräche in Waldshut-Tiengen erfasst.

ROLAND KEHREIN präsentiert in seinem Buch in umfassender Weise Ergebnisse zur Struktur der Vertikale an verschiedenen Punkten des deutschen Dialektgebiets. Die Deutlichkeit der methodischen Erläuterungen macht die Datenerhebung und -analyse sehr nachvollziehbar. Die

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intensive Methodendiskussion macht es im Feld Unerfahreneren leichter, die Erhebung und Ana-lysen zu verstehen und schärft das Bewusstsein für methodische Stringenz im Allgemeinen und für Untersuchungen im Rahmen der Sprachdynamiktheorie im Besonderen. Bei dialektologisch interessiertem Fachpublikum wird sich der Fokus aber eher auf Ergebnisse und Schlussfolgerungen richten. In der Kombination von Betrachtungen unterschiedlicher Tiefe und aus unterschiedlichen Perspektiven über einen großen Raum hinweg ergibt sich hier ein interessantes und neues Ge-samtbild. Der Menge und der Dichte an Informationen, die der Autor präsentiert und bespricht, kann man in einer kurzen Besprechung aber nur schlecht gerecht werden. Nach einem Index sucht man leider vergebens; ein solcher wäre als Hilfe zum Wiederauffi nden von Informationen und für punktuelles Lesen – womit angesichts der Detailvielfalt und dem Gesamtumfang des Buches gerechnet werden muss – sicherlich sehr hilfreich. Die internationale Relevanz der vor-gelegten Ergebnisse wird zwar zu Beginn des Buches aufgeführt, spielt allerdings im Verlauf der Ergebnispräsentation keine Rolle mehr. Insgesamt bietet das Buch einen wertvollen, bis anhin nicht vorhandenen Überblick zur Struktur des regionalsprachlichen Spektrums in verschiedenen deutschen Dialekträumen. Die Ergebnisse zum Stand der Regionalsprachen und ihrer möglichen Weiterentwicklung werden sich für viele an Dialektologie und Variationslinguistik Interessierte als Fundus erweisen und zu weiteren Forschungen zu Wandel und Dynamik in der vertikalen Struktur inspirieren.

LITERATUR

LENZ, ALEXANDRA N. (2003): Struktur und Dynamik des Substandards. Eine Studie zum Westmit-teldeutschen (Wittlich/Eifel). Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 125).

SCHIRMUNSKI, VIKTOR M. (1928/1929): Die schwäbischen Mundarten in Transkaukasien und Südukraine. In: Teuthonista. Zeitschrift für deutsche Dialektforschung und Sprachgeschichte 5, 38–60 und 157–171.

SCHMIDT, JÜRGEN ERICH / JOACHIM HERRGEN (2011): Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt Verlag (Grundlagen der Ger-manistik. 49).

Fribourg/Freiburg (CH) ANDREA ENDER

ALISTAIR KNOTT (2012): Sensorimotor Cognition and Natural Language Syntax. Cambridge/London: The MIT Press. 392 S. £ 31,95

Is modern linguistics a successful discipline (a question recently raised by STOKHOF / VAN LAMBALGEN 2011 and STERNEFELD / RICHTER 2012)? In the face of ALISTAIR KNOTT’S book one might be tempted to respond in the affi rmative. KNOTT claims that “the syntactic structure of a sentence reporting a concrete event in the world can be understood, at least in part, as a description of a sensorimotor process – namely the process involved in experiencing the event”, as replayed in working memory (p. 2). The syntactic structure he has in mind is the Logical Form (LF) within “a version of the Minimalist theory of Chomsky (1995)” (p. 9).1 The sensorimotor processes encompass all the attentional, perceptual, categorization, and motor processes involved in experiencing an event and in replaying them in working memory, respectively. KNOTT’S guiding hypothesis – and at the same time a strong theoretical commitment – is the “Shared Mechanisms Hypothesis”, according

1 “While I adopt a Minimalist model of LF, my account of the mapping between LF and PF will be very different from the standard Minimalist account.” (p. 16). At a closer look, however, the model rather makes use of components of a late GB model, including the traditional X-Bar theory and split INFL. There is not reference at all, for instance, to Merge.

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to which there is an “interface language […] that allows transmission of information from lin-guistic to sensorimotor modalities” (p. 3) because it embraces “mechanisms” that are operative in both “modalities”. LF serves as this interface which means that it must be interpretable not only in linguistic terms but also in terms of sensorimotor processes. His example is the sentence The man grabbed a cup. In order to make the LF interface work, KNOTT takes the X-Bar schema and associates each of its (linguistically motivated) components with sensorimotor processes, as illustrated in Figure 1. The processes from the perspective of someone observing the man grabbing a cup are roughly the following. Cycle 1: Attention to the man when initiating movement. Cycle 2: Attention to the cup, towards which the man moves. Cycle 3: Attention to the man, simulation of the grasp motor program. Cycle 4: Attention to the cup, simulated haptic establishment of cup. On the syntactic side, I and Agr describe the attentional actions of attending to the agent and then to the cup before a grasp action can be established between the two, i. e., their representations are evoked. This is equated with the need of the DPs for abstract case. DPs move out of their VP-in-ternal positions towards Spec,IP (the man) and Spec,Agr (a cup) in order to create a multimodal concept (visual from I/Agr, motion and haptics from V) for the observer. The movement of V out of VP describes “a planned sensorimotor action […]. It is a reference to the currently active plan representation” of the agent, either retrospectively or prospectively (p. 193).

Fig. 1: Assumed correspondences between sensorimotor and syntactic processes

On the basis of this basic idea (the working of which could only be adumbrated here), large parts of the book (chapters 2 and 3, covering about 130 pages) are dedicated to the detailed2 explication of the sensorimotor processes from a cognitive psychological, neurophysiological, and neuroanatomical perspective. The syntactic framework, called “Minimalism” is presented rather briefl y in chapter 4 (about 30 pages). Chapter 5 (about 30 pages) constitutes the attempt to establish the relationship between LF and sensorimotor structure. Chapter 6 (about 60 pages) broadens the perspective by reviewing current (computational) models of language processing and development and by asking where the proposed processes are localized in the brain, reaching from phonemes to syntactic processing. This chapter stands in the service of chapter 7 in which KNOTT develops his own computational model of language development and production (about 60 pages). It goes even beyond any prevalent production model as concerns the alleged extent of correspondence between assumed cognitive processes and neuroanatomical localization.

2 These sections are deep in the sense that KNOTT draws on a wealth of studies and computa-tional models to lend support to his assumptions. On the other hand, competing models and studies on the manifold topics are not always taken into account and the selection criteria are not made explicit. To the reviewer the most important criterion seemed to be the possibility of computational implementation.

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Given the scope and complexity of the topic, the book is easily comprehensible and very well written. There is some degree of redundancy in the book, but its structure helps keep track of the overall agenda. The intention of the book – bridging the gap between empirical research in cognitive and neurosciences and modern linguistic theory – is doubtlessly an important and honorable one, even more, if we call to mind the recent debate about the possible failure of mo-dern linguistics. Despite the fact that neuroscientifi c and cognitive psychological studies on the relationship between perception and action on the one hand and linguistic structures on the other hand are fl ourishing like never before (for example, PECHER / ZWAAN 2005), few studies in this fi eld use the full-fl edged machineries of “mainstream” Generative theories as their descriptive tool. Often enough only useful subparts of theories (like the X-bar theory) are extracted from the full-fl edged frameworks and borrowed for specifi c descriptive purposes. Other researchers avoid too strong theoretical commitments altogether (for example, BORNKESSEL-SCHLESEWSKY / SCHLE-SEWSKY 2009).3 Concerning the reasons for this development STOKHOF / VAN LAMBALGEN (2011, 3) note, “with regard to psycholinguistic investigations and research into the neurophysiological processes that underlie language and language use, it appears that modern linguistics [in particular mainstream Generative Grammar – SK] in general is unable to come up with leading questions and hypotheses.” Accordingly, one aspect of the question of whether modern linguistics might be a failed discipline is the lack, necessity, or impossibility of appropriate hypotheses bridging the massively idealized, abstract, and decontextualized subject-matter of theoretical linguistics, i. e., theories of grammar, with the concrete phenomena investigated in the cognitive and neurosciences.

If KNOTT’S enterprise fi nds our approval, we can lean back and state that modern linguistics is not only not failed but an especially successful discipline. The bridging hypothesis called for is provided by the way in which KNOTT interprets the LF level. At a closer look, however, a number of questions remain open which might reasonably be considered determinative of the scientifi c value of the proposal as a whole.

(i) What exactly does one show when establishing correspondences between an abstract, idealized, and static-functional rather than procedural-psychological syntactic description (LF) and schematized sensorimotor processes in time? In other words, does not one fall victim to a category mistake, when establishing “real” correspondences between a meta-level construct and object-level phenomena?

(ii) Does an idiosyncratic reinterpretation of a sub-part of the “Minimalist” (or GB) architecture (LF) not mean a loss of restrictiveness (and consistency) of the theory? How much restrictiveness (and hence falsifi ability) is there left, if the Generative framework is used as a toolkit from which some components are picked out for the purpose at hand (demonstrate “shared mechanisms”) and others left out? For example, what would the inclusion of the functional categories in “Mini-malism” (instead of just IP and AgrP) mean for the number of corresponding attentional or other sensorimotor processes for a given sentence?

(iii) Can restrictive, i. e., testable hypotheses about the correspondence between specifi c components and operations at LF and specifi c sensorimotor processes be given? For example, why is it that “[t]he principle that ‘DPs must raise to get Case’ can be understood as an expres-sion of the sensorimotor constraint that an object must be attended to before it can participate in cognitive routines.” (p. 190)?

(iv) Obviously, KNOTT’S approach is strongly infl uenced by his academic history in computa-tional linguistics and the goal to implement syntactic and sensorimotor processes computation-ally. His focus on computationally implementable models in both domains bears witness to this. Actually, KNOTT puts the very idea of interpreting LF in terms of sensorimotor processes in the service of implementing it computationally.4 Importantly, this practical – and technological –

3 Compare STERNEFELD / RICHTER (2012) on the question – and the problem – of why bridging the gap between mainstream Generative Grammar and the cognitive and neurosciences does not work.

4 See the information on KNOTT’S book on his homepage: URL: <http://www.cs.otago.ac.nz/staffpriv/alik/publications.php>, accessed 28.11.13; and his TedX talk: URL: <http://tedxtalks.ted.com/video/Teaching-Computers-To-Talk-Alis>, accessed 28.11.13.

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purpose of his model absolves him from the need for philosophical and methodological refl ection which becomes necessary when claiming psychological plausibility for it. However, using the same model as a model f o r a talking computer and as a model o f human competence is highly problematic. With prospects of technical usability, KNOTT’S model is remarkable in its breadth and promising with regard to its implementation. As a model of human competence, it simply ignores too many caveats concerning philosophy of science, for example by not clarifying ontological and epistemological prerequisites and by blending different levels of description (see [i] above).

Is this a symptom of modern linguistics being a successful or a failed discipline? It seems that this question can only be answered if modern linguists are clear about the purposes they pursue. Only in relation to an autonomously set purpose can some enterprise, or the means to the purpose, i. e., theories, be judged successful or failed. Maybe that is a considerable part of the problem.

REFERENCES

BORNKESSEL-SCHLESEWSKY, INA / MATTHIAS SCHLESEWSKY (2009): Processing syntax and morphol-ogy. A neurocognitive perspective. Oxford: Oxford University Press.

CHOMSKY, NOAM (1995): The Minimalist Program. Cambridge: MIT Press.PECHER, DIANE / ROLF A. ZWAAN (2005): Grounding cognition. The role of perception and action

in memory, language and thinking. Cambridge: Cambridge University Press.STERNEFELD, WOLFGANG / FRANK RICHTER (2012): Wo stehen wir in der Grammatiktheorie. Be-

merkungen anlässlich eines Buchs von Stefan Müller. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 31, 263–291.

STOKHOF, MARTIN / MICHIEL VAN LAMBALGEN (2011): Abstractions and idealizations. The construc-tion of modern linguistics. In: Theoretical Linguistics 37, 1–26.

Marburg/Lahn SIMON KASPER

KONRAD KUNZE / DAMARIS NÜBLING (Hg.) (2013): Deutscher Familiennamenatlas. Band 4: Fami-liennamen nach Herkunft und Wohnstätte. Von CHRISTIAN BOCHENEK, KATHRIN DRÄGER, FABIAN FAHLBUSCH, JESSICA NOWAK. Berlin/Boston: De Gruyter Mouton. XLIII, 1051 S. € 299,–

Die bisher erschienenen drei Bände dieses Werkes wurden in der ZDL bereits besprochen.1 Die Bände eins bis drei behandeln grammatische Probleme, solche des Vokalismus im ersten Band, solche des Konsonantismus im zweiten Band und solche der Morphologie im dritten Band. In weiteren drei Bänden sollen lexikalische Phänomene der Familiennamen Thema sein. Im ersten Band dieser Gruppe, der hier besprochen wird, geht es um Familiennamen, deren Benennungs-motivation in irgendeiner Weise mit geographischen Gegebenheiten, das heißt mit der Herkunft, dem Wohnort der Person zu tun hat. Wobei trotz des Umfangs von über tausend Seiten nur eine Auswahl, dessen, was man darstellen könnte, gegeben werden kann. Die empirische Basis stellt wie schon in den ersten Bänden, eine Datenbank dar, die die privaten Einträge sämtlicher Telekom-Telefonbücher Deutschlands des Jahres 2005 enthält. Insgesamt 850.000 verschiedene Namen. Das Hauptkriterium für die Behandlung eines Namens in diesem Werk stellt seine Häu-fi gkeit dar. Dabei kommen auch solche Namen zum Zuge, die bei insgesamt vielen Typen eine geringe Frequenz bei den Einzeltypen aufweisen. Solche fi elen zum Beispiel beim „DUDEN Familiennamenlexikon“ (vgl. KOHLHEIM / KOHLHEIM 2008) durchs Raster. Im Kern aller Artikel stehen Verteilungskarten der Namen. Das ist auch der Mehrwert, den der Atlas gegenüber einer rein lexikalisch-historischen Behandlung bringt. Diese Informationen zur Geographie sind nicht

1 Vgl. ZDL 77 (3) 2010, 363–365; 78 (3) 2011, 355–356 und 80 (1) 2013, 98–101.

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nur für sich schon interessant, sondern sie bieten Neues zur historischen Wortgeographie des Deutschen. Oft hilft die areale Verteilung auch bei der Deutung eines Namens.

Die Kapitel sind nach einem einheitlichen Schema aufgebaut. Ich erläutere das am Abschnitt, der die aus der Herkunftsregion Schwaben abgeleiteten Namen beschreibt (S. 105–109). Zunächst wird unter der Überschrift „Fragestellung“ die historische Herkunft des Wortes beschrieben, er-läutert, dass das Wort nicht nur die Herkunft einer Person spiegelt, sondern auch eine besondere Beziehung des Namensträgers zu Schwaben thematisieren kann. Es wird hier auch dargestellt, welche Schreibtypen es zu diesem Namen gibt (Schwabe, Schwab, Schwaabe, Schwaab sowie Diminutive dazu) und welche Typen hier behandelt werden, nämlich auf der Hauptkarte Schwab/Schwabe und auf der Nebenkarte Verkleinerungsformen wie zum Beispiel Schwöbel, Schwabel oder Schwäble. Damit ist defi niert, was man zu erwarten hat in diesem Artikel, dass hier der Name Schwob, der im „DUDEN Familiennamenlexikon“ ebenfalls als Herkunftsname zu Schwaben fi rmiert, nicht im Fokus der Betrachtung stehen wird. Man fi ndet dazu aber etwas im Abschnitt vier „Details und Ergänzungen“, nämlich, dass der Typ Schwob (inklusive Nebentypen) über ganz Deutschland (außer Nordosten) verstreut ist, mit leichter Häufung am unteren Main zwischen Aschaffenburg und Mainz, was dann die DUDEN’sche Herkunftstheorie bestätigen würde. In diesem Abschnitt fi nden sich noch Hinweise zum Vorkommen weiterer Varianten wie Schwaf oder Schwaben und vor allem eine Tabelle, die die Häufi gkeitsverhältnisse der in der Hauptkarte dargestellten Typen Schwab und Schwabe aufgegliedert nach zweistelligen Postleitzahlenberei-chen beschreibt, also die konkreten Zahlenwerte angibt, die zu den Farbfl ächen auf der Karte geführt haben. Die Tortendiagramme auf der Karte beziehen sich auf die kleineren dreistelligen Postleitzahlenbereiche und stellen das zahlenmäßige Verhältnis der auf der Karte thematisierten Varianten dar.

Im fünften Kapitel „Historische Sondierung“ gibt es Belege aus einer Anzahl von historischen Ortsnamenbüchern, die sich über den ganzen Untersuchungsraum verteilen. Mit ihrer Hilfe las-sen sich Einblicke in historische Entwicklungen gewinnen. Im sechsten Abschnitt „Hinweise“ fi nden wir Informationen zu den Verhältnissen in den Nachbarländern sowie zur Literatur, die zum Thema vorhanden ist.

Im Zentrum des ganzen Artikels aber stehen die Karten. Die Hauptkarte (S. 104) stellt dar, wie sich die beiden Typen Schwab und Schwabe verteilen: Vor allem in einem Kranz um das Zentralgebiet herum. Das leuchtet ein, ist doch dort mit der größten Zuwanderung zu rechnen und dort die Sprache als primäres Erkennungsmerkmal einer Region für die meisten Leute leicht zuordenbar. Auffallend ist aber, dass die Region um Tübingen ebenfalls so hohe Durchschnitts-werte des Namens zeigt, dass dieser Teil genauso eingefärbt ist wie die Gebiete, von denen der hohe Anteil des Namens zu erwarten ist. Hier kommt wohl eine Fehlerquelle ins Spiel, die der verwendeten Methode geschuldet ist. Da der Postleitzahlenbezirk um Tübingen weit ins Badische hineinreicht, wo der Name Schwab sicher sehr häufi g entstanden ist, wird es wohl so sein, dass dieser badische Anteil den Durchschnitt im ganzen Postleitzahlenbezirk so weit erhöht, dass die defi nierte Anzeigeschwelle von 0,56 Promille überschritten wird. Vergleichbares ist im Osten, im Postleitzahlengebiet von Augsburg der Fall, auch da gibt es weit im Schwäbischen noch viele Schwab. Da hätte man sich Detailkarten gewünscht, um diese „Sonderbarkeit“ zu erklären, kann man doch mit dem freiburg-mainzischen Softwaresystem „aufl ösen“ bis in den fünfstelligen Postleitzahlenbereich. Das Ergebnis solcher Analysen wäre ein relativ geschlossenes Gebiet mit scharfen Außengrenzen, die darstellen, welche Regionen man im Mittelalter als schwäbisch betrachtete. Denn nur außerhalb des Schwäbischen macht so eine Namengebung Sinn. Was vielleicht etwas irritiert, ist, dass der ganze Bodenseeraum frei von „Schwaben“ ist, gehört der doch nach Auffassung der Dialektologen zum Alemannischen und politisch heute zu Baden. Aber offensichtlich hat sich dieser Raum im späten Mittelalter als schwäbisch gefühlt, vielleicht auch deshalb, weil alle Deutschen in der nahen Schweiz als „Schwaben“ bezeichnet wurden. So ist dieser Atlas auch geeignet, mentalitätsgeschichtliche Fragen aufzuwerfen bzw. zu beantworten.

Die Nebenkarte auf Seite 107 stellt Diminutivformen des Schwabennamens dar. Den Schwabl gibt es nur im Bairischen, das Schwäble ist in der Region Ulm wohl ein Ausreißer, sonst kommt

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es eher im Südbadischen Rheinknie vor, Schwöbel und Schwebel sind vor allem im Nordbadi-schen bis Frankfurt zu Hause. Und für Schwäblein gibt es an der Werra in Thüringen ein Nest.

In Abschnitt zwei erfahren wir etwas zur quantitativen Datenbasis. Fünf Typen (Schwa[a]-b[e], Schwap) mit insgesamt 13.369 Einzelbelegen sind hier behandelt, wobei der Typ mit -p nur zweimal vorkommt, die anderen Typen haben folgende Vorkommenshäufi gkeiten: Schwab (9.242), Schwaab (518), Schwabe (3.581) und Schwaabe (26). Im Kapitel drei „Qualitative Da-tenbasis“ wird dargestellt, welch andere Etyma dem behandelten Namentyp eventuell ebenfalls zugrunde liegen können.

Der Band ist nach semantisch-morphologischen Gesichtspunkten geordnet. Er geht vom Großen zum Kleinen, von den europäischen Völkern (beginnend mit Deutsch) zu den Stämmen, Territorien und Regionen (Gebirge und Flüsse), dann zu Siedlungsnamen, die nach Typen wie die auf -heim, -ingen oder -büttel und -hagen geordnet sind. Es gibt ein eigenes Kapitel, das den Namen slawischen Ursprungs gewidmet ist wie Bülow oder Görlitz. Dann wird es wieder allge-meiner bei den Ortsangaben wie bei Orientierungsangaben (Westermayer), oder Namen nach der Oberfl ächengestalt der Landschaft, nach Bäumen und Pfl anzen, Flurbezeichnungen, Wegen und Bauten. Die Fülle der behandelten Namen ist im Prinzip nicht mehr überschaubar. Man kann da nur mehr mit einem Register hindurchfi nden. Das gibt es aber erst nach Abschluss der Bände, genauso wie das Literaturverzeichnis, man wünscht dem Werk ein schnelles Erscheinen.

Das Schönste, das es in diesem Zusammenhang hier zu vermelden gibt, ist, dass das Kartie-rungssystem und die ihr zugrundeliegende Datenbank nunmehr der wissenschaftlichen Öffent-lichkeit zur Verfügung steht (Fußnote 3 in der Einleitung, Kontakt über Uni Mainz). Das ist das beweglichste und differenzierteste Programm und die wohl beste Datenbank für die deutschen Familiennamen, die trotz der bald sechs Bände des Freiburg-Mainzer Atlasses bei weitem noch nicht vollständig ausgewertet ist. Versteht sich doch dieser Atlas „weniger als abschließendes Resultat denn als Anfang und Anregung weiterer Forschung“(S. XXVII). Das kann man nicht genug betonen, hat doch jeder Mensch einen Namen, mit dem er eine besondere Beziehung hat und bei dem er besonders motiviert sein dürfte, mehr über ihn erfahren zu wollen. Besonders wenn man unser Fach studiert. Ein Faktum, das sich treffl ich für (Haupt-)Seminare nutzen lässt, um Studenten für die historische Sprachwissenschaft, insbesondere für die historische Namen-forschung zu begeistern.

LITERATUR

KOHLHEIM, ROSA / VOLKER KOHLHEIM (2008): DUDEN. Lexikon der Familiennamen. Herkunft und Bedeutung von 20.000 Nachnamen. 2. Aufl age. Mannheim [u. a.]: Dudenverlag.

Augsburg WERNER KÖNIG

Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Begründet von A. LASCH und C. BORCHLING. Mit Un-terstützung der BAT-Stiftung der Universität Hamburg. Hg. von DIETER MÖHN. Neumünster: Wachholtz. – Bd. III, Lfg. 35 (2007): tâ bis telderen. Bearbeitet von KAY W. SÖRENSEN. Sp. 741–868. € 20,–. Lfg. 36 und 37 (2013): u bis undernēmen. Bearbeitet von JÜRGEN MEIER und DIETER MÖHN. Sp. 1–270. € 40,–

Das auf vier Bände angelegte „Mittelniederdeutsche Handwörterbuch“ setzt mit diesen circa 4.000 Stichwörter enthaltenen drei Lieferungen die Arbeiten am dritten Band fort. Wie dem Nachwort des Herausgebers zur Doppellieferung 36/37 zu entnehmen ist, ist die Hamburger Arbeitsstelle bemüht, den „Abschluss des Wörterbuchs im nächsten Jahrzehnt zu erreichen und damit auch seine volle Gebrauchsfähigkeit als Gesamtwerk“. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, wenn man die Personaldecke der Arbeitsstelle kennt und um die Nachwuchssituation in der Niederdeutschen

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Philologie an den norddeutschen Universitäten weiß (nach Schließung traditionsreicher Aus-bildungsstätten und der tiefgreifenden Reform des Germanistikstudiums im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts).

Die anzuzeigenden Lieferungen führen wieder in vorbildlicher Weise vor, was ein solches Sprachstadienwörterbuch leisten kann und leisten muss. Um die ein Sprachstadium, hier das Mittelniederdeutsche, kennzeichnenden Veränderungen im Gegenstand des Wörterbuches dar-zustellen, genügt es nicht, Belege zu präsentieren, kontextuell einzuordnen und zu übersetzen. Gerade die diese Lieferungen prägenden langen Wortartikel wie tāfele, têiken oder die ümme-, un-, under-Bildungen machen das mittelniederdeutsche Wörterbuch zu viel mehr als zu einem Nachschlagewerk für die Bedeutungserschließung und die Verständnisklärung. Die semantische Gliederung von tāfele in zehn (zum Teil noch weiter untergliederte) Bedeutungen ist auch eine kulturgeschichtliche Darstellung mit erhellenden Einsichten, etwa in die Sozialarbeit mittel-alterlicher Städte; unsere heutigen sozialen „Tafeln“ gehen auf diese Tradition zurück. Einer syntaktischen Studie kommen Artikel wie der zu üm/ümme gleich. In der lexikographischen Be-wältigung solcher Synsemantika (vgl. dazu mein Vorwort im achten Band des „Niedersächsischen Wörterbuches“ mit Bezug auf die lexikographische Darstellung von mit in seiner präpositionellen und adverbiellen Vielfalt) leistet das Wörterbuch einen immensen Beitrag zur niederdeutschen Syntaxforschung. Da liegt es nahe, Studierende auf solche lexikographischen Auskunfteien hin-zuweisen und in ihren Gebrauch einzuführen. Dazu sollte auch gehören, ein großes Wörterbuch einmal systematisch zu lesen. Nur so sind lehrreiche sprachliche und kulturelle Informationen zur mittelniederdeutschen Sprache und ihrer Zeit zu erlangen. Einige Beispiele: sprachgeogra-phische Variation für das ‘Ziel, die Zielscheibe’ mit den Heteronymen tēl, tê(i)ken, mâl; die ostfälische Varianz von ome (Göttingen) gegenüber van eme (Hildesheim); Sprachspott, wenn für schwer verständliche Sprache uckerwendisch gebraucht wird und ûlennest ein Übername für die ostfälische Stadt Peine ist; Redensarten mit Geschichtsbezug wie im Artikel ümmekōmen: He is mit keiser Frederich in den barch gegan ‘er ist gestorben’; Zahlensymbolisches im Artikel teyn ‘zehn’; Volksmedizinisches ist aus dem Artikel tappe sub Gliederungspunkt 8 zu erfahren; Rechtsbräuche bei der Güterübertragung wie das tasten ‘berühren’ von Kopf oder Kopfbedeckung des Bürgermeisters; mit der ostfriesischen Genossenschaft tēlacht wird bekannt gemacht und schließlich erfährt die Geschichte des Kochens und der Küche Neues mit der Präsentation eines braunschweigischen Rezepts für eine Eierspeise im Artikel ümmeslûten. Aus den zahlreichen Stellen, wo zwischensprachliche Beziehungen (zu romanischen, westslawischen und anderen germanischen Sprachen) dokumentiert sind, sollen die Stichwörter tas ‘Scheunenseitenraum’ und underkö̂ tich ‘untereitert’ herausgegriffen werden. Beide gelten in der niederdeutschen Wortgeo-graphie als sogenannte Neerlandica, bei tas wird dem mit einem Verweis auf HERMANN TEUCHERTS (1972) „Sprachresten“ Rechnung getragen; bei underkö̂ tich wäre ein Hinweis auf OTTO KIESERS (1972, § 183) „Diatopik eines Wortschatzes“ angebracht gewesen.

Abkürzungen in Belegen wie darinne is under anderen vormeldet, wo ko. werde to Dennemar-ken by key. ma. gans mergliken aver de stede (Wortartikel unacht) oder up dat gii unangeholden juwe kopmenschop vor ko. mt. triven und bruken moget (Wortartikel unangeholden) erschweren das Verständnis und hätten ohne den Beleg zu korrumpieren aufgelöst werden sollen. Verschreibungen sind in den Artikeln ümmehelsen („Weisheit“ statt „Weiheit“), ümmestülpen (im Interpretament „umstülpen“ statt „ümstülpen“), unbegēven („beevreth“ statt „beerveth“). Abschließend bleibt zu hoffen, dass den für das „Mittelniederdeutsche Handwörterbuch“ Verantwortlichen weiterhin die Möglichkeiten gegeben werden, das große Werk der mittelniederdeutschen Lexikographie in gewohnter Qualität abzuschließen.

LITERATUR

KIESER, OTTO (1972): Diatopik eines Wortschatzes nach Sachgruppen. Dialektuntersuchung des Kreises Liebenwerda. Textband. Gießen: Wilhelm Schmitz (Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. 6.1).

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STELLMACHER, DIETER (2011): Vorwort zum 8. Band des Niedersächsischen Wörterbuches. Neu-münster: Wachholtz.

TEUCHERT, HERMANN (1972): Die Sprachreste der niederländischen Siedlungen des 12. Jahr-hunderts. 2. Aufl age mit Würdigung und Bibliographie des Verfassers. Köln/Wien: Böhlau (Mitteldeutsche Forschungen. 70).

Göttingen DIETER STELLMACHER

WOLFGANG MÜLLER (2013): Wörterbuch deutscher Präpositionen. Die Verwendung als Anschluss an Verben, Substantive, Adjektive und Adverbien. Mit Unterstützung von KLAUS-RAINER MÜLLER und HEIDRUN MÜLLER-BRAUN bei der Internetrecherche sowie von GERTRAUT SNOEI bei der Sammlung von Belegen. 3 Bände. Berlin/Boston: Walter de Gruyter. 3.116 S. € 549,–

Präpositionen bilden als Synsemantika eine geschlossene Klasse von Wörtern mit dem ihr eigenen Charakteristikum der Rektion. Eine Gruppe der Präpositionen kann mehrere Kasus fordern. Die hochfrequenten, primären Präpositionen wie an, auf, in, von und zu können in der Nominalphrase viele unterschiedliche Bedeutungen tragen. Sie sind ein zentraler Bereich der Grammatikalisie-rungsforschung (EROMS 1991; DI MEOLA 2001; HUNDT 2001): Es besteht die Möglichkeit der Rektionsänderung (DI MEOLA 1999; ELTER 2005) und es gibt gar nicht so wenige neu entstande-ne, sekundäre Präpositionen (DI MEOLA 2001), insbesondere aus Präpositionalphrasen wie auf Grund > aufgrund, mit Hilfe > mithilfe, was sie zu einem orthographischen Problem und auch zu einem dankbaren Gegenstand der Sprachpfl ege und Sprachkritik hat werden lassen. Gerade in den letzten Jahren erschienene Publikationen zur deutschen Sprache zeigen, dass sie nicht nur ein Problem im Fremd- und Zweitspracherwerb darstellen. Die Breite der Forschung zeigt sich in den sprachübergreifenden Titeln der „Bibliographie-Datenbank: Präpositionen“ des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim, in die bis zum Jahr 2007 1.145 Titel eingepfl egt wurden. Im Prinzip ist es ein Zugewinn, nach der „Grammatik der Präpositionen“ (KLAUS 1999), die sich mit von Verben geforderten Präpositionalphrasen beschäftigt, nun auch auf ein „Wörterbuch deutscher Präpositionen“ zugreifen zu können.

Das substantivische, adjektivische, verbale und adverbiale Lemmata enthaltende „Wörterbuch deutscher Präpositionen“ ist ein „Ein-Mann-Unternehmen“ (S. LV), das Deutschlernenden und -lehrenden im weitesten Sinne als Nachschlagewerk bei Unsicherheiten im privaten und berufl i-chen Gebrauch dienen soll. Das Wörterbuch umfasst drei Bände (Bd. 1: S. I–LV, 1–1042, Bd. 2: S. 1043–2066, Bd. 3: S. 2067–3116). Makrostrukturell besteht das stattliche Werk aus einem eine Seite umfassenden „Kurzvorwort“ und einer „Einführung in den Gegenstandsbereich“ mit Infor-mationen zur Genese, zum Aufbau des „über 5.500“ (S. IX) Artikel umfassenden Wörterbuchs mit insgesamt „mehr als 24.000“ mit einer Präposition eingeleiteten „Anschlussmöglichkeiten und Anschlusskombinationen“ (S. IX).

Das „Kurzvorwort“ (S. IX) hat rein werbende Funktion. Es informiert über die potentiellen Benutzer beziehungsweise die Zielgruppen (Nichtmuttersprachler, Muttersprachler, Lerner, Lehrer, Linguisten, Lexikographen, Autoren, Übersetzer, Redakteure). Später weist der Verfasser dezidiert darauf hin, dass das Wörterbuch nicht als ein Lernerwörterbuch (und auch nicht als ein Bedeutungswörterbuch) im engeren Sinn gedacht ist (S. XXVII). Anhand weniger Beispiele werden Desiderate in der Wörterbuchlandschaft aufgeführt. Das vorliegende Werk wird den deskriptiven Wörterbüchern zugewiesen, was mit dem Hinweis auf die Belegbeispiele gestützt wird. Ohne weitere Erläuterungen folgt ein exemplarischer Wörterbuchartikel (Fundgrube, die).

Im einführenden Teil werden alle Aspekte des „Kurzvorwortes“ noch einmal aufgegriffen und erweitert. Einleitend äußert sich MÜLLER sehr ausführlich zur Darstellung präpositionaler Anschlüsse in ausgewählten ein- und zweisprachigen Wörterbüchern der deutschen Gegenwarts-sprache. Ein wesentlicher Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, ist die Frage

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des Standards. Es wird moniert, dass diese „in der Sprachdidaktik noch nicht angekommen zu sein scheint“ (S. XIII). Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es sowohl für Muttersprachler als auch für Fremdsprachenlerner sei, nicht nur Informationen über die Sprachnorm, sondern auch Informationen zum Sprachgebrauch in Nachschlagewerken, wie eben in Wörterbüchern, vermittelt zu bekommen. Die Notwendigkeit der eigenen Arbeit untermauert der Verfasser mit Zitaten aus der Sekundärliteratur zu Lernerschwierigkeiten im Bereich Deutsch als Fremdsprache und weiter mit der Diskrepanz zwischen den gut dokumentierten Anschlüssen bei Verben und Adjektiven im Gegensatz zu der unzureichenden Darstellung bei Substantiven. Dies ist sicherlich dadurch erklärbar, dass die von Verben und Adjektiven geforderten Elemente den Status von Satzgliedern haben, die Elemente, die im substantivischen Umfeld hinzukommen aber stets Satzgliedteil-, also Attributstatus haben. Adverbien werden nicht gesondert angespro-chen. Mit Bezug auf ULRICH ENGEL nennt MÜLLER die nach semantischen Kriterien ermittelbaren Attributtypen und Präpositionalergänzungen (S. XI–XII), bevor er auf das in der Theorie zu verortende Problem der Unterscheidung von Präpositionalattributen und (freien adverbialen) Angaben eingeht, das empirisch aufgrund des (weiteren) Kontextes nur in Ausnahmefällen re-levant sein dürfte (S. XVI). Es befremdet, dass ein Autor, der sich für seine Darstellung explizit auf die Valenztheorie bezieht, Missverständliches, zum Teil grotesk Fehlerhaftes formuliert: „Präpositionalattribute können Ergänzungen oder Angaben sein.“ (S. XI) und später: „‚Angabe‘ wird in diesem Wörterbuch nicht im linguistischen Sinne gebraucht, sondern in seiner allgemei-nen Bedeutung. Es verbindet die linguistischen Termini Ergänzung und Angabe“ (S. XV). Sehr begrüßenswert hingegen ist, dass in einem Print-Wörterbuch ein großer Raum für Belegbeispiele vorgesehen ist, wovon ein erster Eindruck bereits im „Kurzvorwort“ vermittelt wird. Damit hält MÜLLER sein Versprechen, im Gegensatz zu vielen anderen Wörterbüchern die Sprachwirklichkeit abzubilden und von erfundenen Verwendungsbeispielen abzusehen.

Allerdings fehlt eine Refl exion darüber, wie Sprachgebrauch angemessen abgebildet werden kann. Wird ein fünf-, zehn- oder fünfzigmaliges Vorkommen genauso bewertet wie ein hundert- und tausendfaches? Weisen mehr Belege zu einer Präposition darauf hin, dass diese häufi ger verwendet wird? MÜLLER gibt, leider nur in ausgewählten Artikeln, insofern einen Hinweis, als er die am häufi gsten vorkommende Verbindung durch einen Asterisk markiert (zum Beispiel S. 9 abfassen *in). Was bedeutet es, wenn bei bestimmten Präpositionen nur Belege aus Tageszeitun-gen und diese gegebenenfalls nur für einen bestimmten Zeitraum (zum Beispiel S. 9 Abenteuer, gegen, 1996–2002), bei anderen Präpositionen Belege aus mehreren Kommunikationsformen/Textsorten angegeben werden? Man könnte etwa vermuten, dass Lexeme in Kombination mit spezifi schen Präpositionen dem „Zeitungsstil“ vorbehalten sind. Was bedeutet es, wenn der Ver-fasser nur „Kompetenzbeispiele“ anführt, so bei abgucken und abkucken (S. 18, 21), was mit den Symptomwerten „landschaftlich“ bzw. „landschaftlich, norddeutsch“ kategorisiert ist? Impliziert „umgangssprachlich“ bzw. „landschaftlich“ „norddeutsch“? Was bedeutet in Abgrenzung dazu der Symptomwert „mundartlich“ (zum Beispiel S. 518)? Handelt es sich bei den Verbvarianten mit einer bei- und einer von-Phrase immer um verschriftete/verschriftlichte Mündlichkeit? Die Schwierigkeiten, die sich nicht nur bei der Interpretation der Wörterbuchartikel ergeben, sondern auch beim Verfassen derselben mögen im Vergleich die Informationen des „Online-DUDENS“ demonstrieren: Unter (ab)gucken wird zum Gebrauch „umgangssprachlich“ angegeben, unter (ab)kucken „norddeutsch“. Weder das eine noch das andere Wörterbuch helfen dem Ratsuchenden, der sich überlegt, wie weit „landschaftlich“ greift bzw. für welche Landschaft(en) der Symp-tomwert Gültigkeit hat, noch, für welche Rezipienten die gucken- oder die kucken-Varianten adäquater sind. Dass es keinen Bedeutungsunterschied gibt, zeigen im DUDEN die Verweise von abkucken und kucken auf abgucken und gucken, bei MÜLLER die „Kompetenzbelege“ in den Artikeln abgucken und abkucken, die sich nur in Einzellexemen unterscheiden. Die Beispiele weisen auf einen privaten, mündlichen Gebrauch. Artikel zu den Verben gucken und kucken hat der Verfasser des vorliegenden Wörterbuchs nicht, obwohl zu erwarten ist, dass gucken und kucken dieselben Präpositionen wie schauen fordern, für das ein Artikel vorliegt, nämlich auf, nach und zu (S. 1610–1611). Bei schauen wird „mehr süddeutsch oder gehoben im Unterschied zu sehen/

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gucken/kucken“ (S. 1610) angegeben, was indirekt dafür spricht, dass gucken und kucken Arti-kelstatus hätten bekommen können, vielleicht sogar sollen. Bei sehen (S. 1726–1728) wird auf keines der drei anderen Verben verwiesen oder nur hingewiesen. An sich sind Verweisstrukturen vorhanden, so bei fi ckerig und fi ckrich auf fi ckrig (S. 518).

Eine Grundsatzfrage, die sich stellt, ist, ob die Google-Belege das Wörterbuch nicht eher abwerten als bereichern. Alle anderen Teilkorpora, auch die eigenen Exzerpte (die laut S. XX bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgehen), erscheinen insofern als deutlich bessere Quellen, als damit die Belege mehr oder weniger gut Textsorten oder Kommunikationsformen zugewiesen werden können, was alleine mit der Angabe „Google“ nicht gewährleistet ist. Die Kritik an Internet-Belegen und ihrer Validität wird zu Recht immer wieder geäußert (so SCHULZ 2011). Ein weiteres Manko, das alle Belegbeispiele betrifft, ist, dass der Verfasser sich dazu entschlossen hat, „[v]ereinzelte Rechtschreib-,Zeichensetzungs- [sic] oder Grammatikfehler in den Zitaten/Corpusbelegen [… zu] korrigier[en], damit die BenutzerInnen einen einwandfreien Text bekommen“ (S. XXVIII): Einerseits sind nun alle Belege nicht mehr als Originalbelege zitierbar, andererseits – und das wiegt im vorliegenden Fall besonders schwer – ist durch die Begründung das Konzept des Deskriptiven zu hinterfragen: Sollte nicht als „einwandfreier Text“ jeder Text gelten, der für einen spezifi schen Rezipienten(kreis) mit einem spezifi schen Ziel produziert worden ist? Was bedeutet beispielsweise die Korrektur von „Grammatikfehlern“? Ist darin die „Korrektur“ von Rektionen impliziert? Gerade bei einem so erfahrenen Lexikographen wie MÜLLER verwundert eine solche Entscheidung. Es ließe sich weiter fragen, ob nicht sogar die „Fehlerhaftigkeit“ von Beispielen ein Indiz dafür sein könnte, aus welchen Kontexten die Belege stammen (eher inoffi ziell als offi ziell, eher privat als öffentlich). Bei Einzelentscheidungen fehlen zum Teil hinreichende Begründungen. So wird zur Aufnahme von als und wie erklärt: „Berücksichtigt werden auch Anschlüsse mit ‚als‘ […] und ‚wie‘ […], denn ‚als‘ und ‚wie‘ werden in manchen Grammatiken auch unter präpositionalem Aspekt gesehen. Vom eigentlichen Thema abweichend wird ‚wie‘ auch als Vergleichspartikelanschluss aufgenommen – wegen der interessanten Bildhaftigkeit“ (S. XVI).

Die Ausführungen zur Erarbeitung der Wörterbuchartikel sind ausführlich und zeichnen die Einzelschritte der Artikelerstellung detailliert nach, wobei keine Informationen zur Lemmafä-higkeit gegeben werden. Die Artikel sind nach einem einfachen Schema aufgebaut, nämlich: Stichwort (Lemma); „Leitpräposition“ �Valenzangabe�; Bedeutungserklärung, Kompetenz- und/oder Belegbeispiele �Zitate� (S. XXIV). „Kompetenzbeispiel“ scheint ein Synonym für „Verwen-dungsbeispiel“ zu sein (S. XVIII: „Kompetenzbeispiele sind gekürzte, normierte Belegbeispiele.“). „Leitpräpositionen, korrelierende und präpositionsähnliche Verbindungen“ (S. XVIII, Anm. 16) sind unter anderem im/in Hinblick auf und in Richtung. Das ist insofern inkonsequent, als der Verfasser wenige Seiten vorher die Aufnahme von „präpositionalen Präpositionalphrasen (mit Rücksicht auf, in Hinsicht auf […])“ (S. XX) ausschließt, wobei er relativierend hinzufügt, dass das kein Dogma sei. Damit stellt sich nun aber die Frage, aufgrund welcher Kriterien Ausnahmen zugelassen sind. Mehrere Bedeutungen für ein Stichwort werden aus pragmatischen Gründen nicht differenziert, sondern zusammengefasst dargestellt. Unterschieden wird hingegen bei mehreren Bedeutungen im präpositionalen Bereich, erst hinsichtlich der Valenz, dann hinsichtlich der Be-deutung. Symptomwerte werden angegeben, aber nicht systematisch, entweder zur Bedeutung des Lemmas (zum Beispiel S. 7 abblitzen) oder aber zu einer/mehreren Bedeutung(en) des Lemmas in Verbindung mit einer/mehreren Präposition/en (zum Beispiel S. 7–8 abdrücken an/für „um-gangssprachlich“, abdrücken in/von ohne Symptomwert, abdrücken zum „Fußballjargon“ – zur Obligatorik der klitischen Form zum werden keine Informationen gegeben). Es ist grundsätzlich angestrebt, auf Besonderheiten hinzuweisen, was sich auch in den Angaben zur Normgerechtheit spezifi scher präpositionaler Verbindungen zeigt oder zur Rektion zweigliedriger Komposita, wenn diese nicht vom Zweit-, sondern vom Erstelement ausgeht (zum Beispiel S. 15 Abgabeverbot an).

Die Einführung wird mit mehreren Verzeichnissen beschlossen. Das Abkürzungs- und Siglen-verzeichnis ist für den Wörterbuchteil unabdingbar: Unter „Abkürzungen“ erscheinen allerdings nur neun Einträge, wovon vier die Abkürzungen der deutschen Kasus sind; Abkürzungen anderer

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grammatischer Termini werden nicht aufgelöst. „MM“ (Mannheimer Morgen) wäre wohl besser bei den Siglen zu verorten. Ein Verzeichnis der Symptomwerte fehlt. MÜLLER fügt drei Statistiken mit prozentualen Anteilen zur Verteilung der präpositionalen Anschlüsse auf die Buchstaben des Alphabets ein, die aber nicht näher erläutert werden, und ein Literaturverzeichnis, das sowohl Angaben zu Primärtexten, die nicht abgekürzt sind, als auch Sekundärliteratur zur „Einführung“ enthält. Ein Dank und Schlussworte leiten zum Wörterbuchteil über.

Die Lemmata reichen vom Adverb ab bis zum Substantiv Zyklus. Um einen Eindruck von der Gestaltung des Wörterbuchteils zu bekommen, soll der Artikel ab (S. 3) vorgestellt werden: Er ist nach dem Vorkommen mit unterschiedlichen präpositionalen Anschlüssen in sieben Ab-schnitte nach den „Leitpräpositionen“ (S. XXIV) an, auf, hinter, in, nach, vor, zu untergliedert. Jeder dieser Abschnitte beginnt mit Angaben zur syntaktischen Konstruktion, zu ab „ab an etwas (Akk.)“. Darauf folgen eine Paraphrase und unterschiedlich viele Belege, in denen die relevante Präposition mittels Fettdruck hervorgehoben ist. Beim Beleg Ab an die Wärme aus dem St. Galler Tagblatt mag man sich fragen, ob es einen Bedeutungsunterschied zu Ab in die Wärme gibt und auch, ob ab mit an + X besonders im schweizerdeutschen Raum verbreitet ist. Die Auffällig-keit, dass die Konstruktion immer satzartigen Charakter hat und dass sie in eher inoffi ziellen Kontexten vorkommt, kann sich der Benutzer aus der Lektüre aller Beispiele erschließen, aber sicherlich nur, wenn er bereits über ein hohes Maß an Sprachkompetenz verfügt. Auch das nächste Stichwort, abarbeiten, weist sowohl mit der Präposition an als auch mit der Präposition für in den inoffi ziellen oder mündlichen Bereich der Sprache, ohne dass darauf explizit hingewiesen würde, die Beispiele mit dem Anredepronomen Sie oder mit direkter Redewiedergabe spiegeln dies sehr wohl wider.

MÜLLER hat sein Ziel, ein deskriptives Wörterbuch vorzulegen, im besten Sinne erreicht, al-lerdings zu Lasten der potentiellen Benutzer: Diese müssen, wie schon gesagt, über eine hohe bis sehr hohe Sprachkompetenz bzw. ein gutes Sprachgefühl verfügen. Aufgrund der dem Leitprinzip der Deskription geschuldeten, recht ungefi ltert in das Wörterbuch aufgenommenen Sprachdaten wären mehr und teilweise auch deutlichere Hinweise und Hilfen für Benutzer vonnöten, die das Nachschlagewerk aufgrund von stilistischen Unsicherheiten konsultieren.

Da MÜLLER in den „Schlussworten“ explizit formuliert, dass er „hofft und wünscht, dass innovative Kritiker in Rezensionen Kritikpunkte sachlich nennen werden“ (S. LV), soll an die-ser Stelle angemerkt sein, dass Rezensionen ebenso wie die zugrunde liegenden Primärwerke nicht frei von Subjektivem, vom individuellen wissenschaftlichen Arbeiten geprägt sind, so dass manches erwähnenswerter angesehen wird als anderes, abgesehen davon, dass es nicht um die Gunst der Rezensenten, sondern allein um die Zufriedenheit der Benutzer gehen kann. Viele der unbeantworteten Fragen sollen nicht als Kritik gelten und eher dazu anregen, bei einer Neuauf-lage zumindest im einführenden Teil Antworten zu geben: Es liegt auf der Hand, dass in einem beschränkten Umfang in einem begrenzten Zeitraum nicht alles Erdenkliche, nicht einmal alles Wünschenswerte angemessen bedacht werden kann.

MÜLLERS großer, nicht zu überschätzender Verdienst ist es, ein Wörterbuch zu einer schwierigen Wortart vorzulegen, die in den bisher zur Verfügung stehenden Wörterbüchern nicht hinreichend behandelt wird. Es bietet (Beleg-)Beispiele in einer Quantität, die selbst in umfangreichen ge-druckten Allgemeinwörterbüchern nicht unbedingt zu erwarten ist. Aber: Aufgrund des Umfangs, der sich auch im Preis widerspiegelt, erscheint es recht unrealistisch, dass es von der Mehrheit der angedachten Benutzer(gruppen) erworben wird. Für eine wünschenswerte Studienausgabe des „Wörterbuchs der Präpositionen“, insbesondere für Lerner des Deutschen als Fremd- und Zweit-sprache, sollte es ausreichen, standardsprachliche Kombinationen aufzunehmen. Noch Lernern auf C1-Niveau dürfte es schwer fallen, allein aufgrund der vielen Belegbeispiele alle Feinheiten der Diasysteme des Deutschen zu erfassen und insbesondere für den eigenen Sprachgebrauch nutzbar zu machen. Sehr hilfreich, gerade auch mit Blick auf die „Grammatik der Präpositionen“, wäre ein Register aller im Wörterbuch behandelten Präpositionen, gegebenenfalls nach den re-gierenden Wortarten und der Semantik der Präpositionen differenziert. Des Weiteren wären mehr Verweisstrukturen zwischen den einzelnen Artikeln wünschenswert.

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LITERATUR

Bibliographie-Datenbank: Präpositionen. URL: <http://www1.ids-mannheim.de/gra/projekte/konnektoren/p-anfrage.html>, Stand: 01.02.2014.

DI MEOLA, CLAUDIO (1999): Entgegen, nahe, entsprechend und gemäß. Dativpräpositionen mit Genitivrektion. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 27, 344–351.

DI MEOLA, CLAUDIO (2001): Vom Inhalts- zum Funktionswort: Grammatikalisierungspfade deut-scher Adpositionen. In: Sprachwissenschaft 26, 59–83.

DUDEN online. URL: <http://www.duden.de/rechtschreibung/>, Stand: 01.02.2014.ELTER, IRMGARD (2005): Genitiv versus Dativ. Die Rektion der Präpositionen wegen, während,

trotz, statt und dank in der aktuellen Zeitungssprache. In: SCHWITALLA, JOHANNES / WERNER WEGSTEIN (Hg.): Korpuslinguistik deutsch: synchron – diachron – kontrastiv. Würzburger Kolloquium 2003. Tübingen: Niemeyer, 125–135.

EROMS, HANS-WERNER (1991): Valenzgebundene Präpositionalkonstruktionen im Deutschen. In: HARWEG, ROLAND / SHOKO KISHITANI / MAXIMILIAN SCHERNER (Hg.): Die deutsche Sprache – Ge-stalt und Leistung. Hennig Brinkmann in der Diskussion. Zu seinem neunzigsten Geburtstag. Münster: Nodus, 39–54.

HUNDT, MARKUS (2001): Grammatikalisierungsphänomene bei Präpositionalobjekten in der deut-schen Sprache. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 29, 167–191.

KLAUS, CÄCILIA (1999): Grammatik der Präpositionen. Studien zur Grammatikographie. Mit einer thematischen Bibliographie. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang (Linguistik International. 2).

SCHULZ, MATTHIAS (2011): Rezension zu QUASTHOFF, UWE (2007): Deutsches Neologismenwör-terbuch. Neue Wörter und Wortbedeutungen in der Gegenwartssprache. Berlin/New York: Walter de Gruyter. In: Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Sprachwissenschaft 3, 109–113.

Bonn CLAUDIA WICH-REIF

TOM F. H. SMITS (2011): Strukturwandel in Grenzdialekten. Die Konsolidierung der niederländisch-deutschen Staatsgrenze als Dialektgrenze. Stuttgart: Steiner. 360 S. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 146). € 53,–

Der deutsch-niederländische Grenzraum hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem fruchtbaren Laboratorium für die Erforschung des Einfl usses der Staats- und damit Standardsprachen-Grenze auf die Dialekte eines ehemaligen grenzüberschreitenden Dialektkontinuums entwickelt. Die ein-schlägigen Titel in dem umfangreichen Literaturverzeichnis des hier besprochenen Buches legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Folgt man der traditionellen dialektgeographischen Gliederung, kann man sogar drei ehemals grenzenlose Dialekträume unterscheiden, die von der deutsch-niederländischen Grenze zwischen Emden und Aachen durchschnitten werden: ein niederdeutscher im nördlichen, ein niederfränkischer im mittleren und ein mittelfränkischer im südlichen Teil des Grenzgebiets. Die vorliegende Antwerpener Dissertation ist im Süden des niederdeutschen Gebiets zu situieren, genauer in den beiden Orten Winterswijk im so genannten geldrischen Achterhoek und Vreden im Westmünsterland. TOM SMITS schließt damit geographisch und auch thematisch an die drei Jahrzehnte zuvor erschienene Dissertation seines Doktorvaters LUDGER KREMER an, der mit seinen „Grenzmundarten und Mundartgrenzen. Untersuchungen zur wortgeographischen Funktion der Staatsgrenze im ostniederländisch-westfälischen Grenzgebiet“ (1979) einen der ersten Meilensteine in der deutsch-niederländischen Sprachgrenzforschung gesetzt hatte. Hatte KREMER anhand des mundartlichen Wortschatzes das Auseinanderwachsen der Dialekte beiderseits der Grenze nachgewiesen, so liefert nun SMITS in seiner Studie erstmals umfangreiche Zahlen für den „Strukturwandel bzw. -verlust auf der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ebene“ (S. 18). Neben diesen strukturlinguistischen Aspekten werden aber auch Fragen nach dem Funktionswandel und -verlust der Mundart untersucht, die zu wichtigen soziolinguistischen Ergebnissen führen.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Überlegung, dass die fortwährende Interferenzwirkung übergeordneter Varietäten „zu dauerhafter Transferenz, d. h. Strukturverlust“ führt (S. 45). Mit Blick auf den unterschiedlichen strukturellen Abstand zwischen Standardsprache und Dialekt auf beiden Seiten werden drei „linguistische Haupthypothesen“ formuliert, wonach zu erwarten ist, dass erstens der dialektale F u n k t i o n s v e r l u s t auf deutscher Seite größer ist als auf der niederländischen, dass aber umgekehrt zweitens der dialektale S t r u k t u r v e r l u s t auf deutscher Seite geringer ausfällt als auf der niederländischen. Drittens wird damit die Staatsgrenze auf der Ebene der Dialekte zu einer strukturellen Bruchlinie. Den beiden ersten Haupthypothesen werden jeweils zwei „soziolinguistische Pendants“ zur Seite gestellt, die besagen, dass der dialektale Funktionsverlust (Hypothese 1 a+b) wie auch der dialektale Strukturverlust (Hypothese 2 a+b) bei den älteren bzw. männlichen Informanten jeweils geringer ist als bei den jüngeren bzw. weiblichen Informanten. Die Daten basieren auf der schriftlichen und mündlichen Befragung von 40 „routinierten“ Dialektsprecherinnen und -sprechern, von denen jeweils 20 die Merkmale „aus Vreden/aus Winterwijk, männlich/weiblich, jung (45−)/alt (55+)“ (vgl. S. 47–50) besitzen. Besonders wichtig ist die Unterscheidung in zwei Altersgruppen, die im Durchschnitt 30 Jahre auseinanderliegen und damit eine Apparent-Time-Wahrnehmung von Sprachwandel möglich machen.

Basis der linguistischen Analyse sind 27 Variablen (neun phonologische, zehn morphologi-sche und acht syntaktische), in denen sich die untersuchten Dialekte entweder von beiden oder von einer der beiden Standardsprachen unterscheiden. So unterscheiden sich beispielsweise beide Dialekte bei Wörtern mit wgm. ū von den Standardsprachen (muus im Dialekt stehen standardsprachlich muis bzw. Maus gegenüber), bei der e-Apokope stehen beide Dialekte mit der deutschen Standardsprache dem Niederländischen gegenüber (Lampe vs. lamp), bei der Artikulation von anlautendem g in Wörtern wie Geld oder gut/goed nehmen beide Dialekte die Position des Niederländischen mit einem geriebenen Anlaut gegenüber dem standardsprachlichen Verschlusslaut im Deutschen ein.

Die detaillierte Analyse der 27 Variablen nimmt in drei zentralen Kapiteln mit über 180 Sei-ten mehr als die Hälfte des Buches ein. Dabei handelt es sich in jedem einzelnen Fall um eine vorbildliche Detailstudie, die mit einer Beschreibung der Problemstellung und der laut- bzw. formgeschichtlichen Entwicklung beginnt sowie die Belege aus allen einschlägigen Dialekt-grammatiken, -wörterbüchern und -atlanten mitteilt, bevor sie zu einer sorgfältigen Vorstellung und Bewertung der eigenen Erhebungsdaten kommt. Auch wenn man das eigentliche Ziel der Arbeit sicherlich in der noch zu besprechenden Überprüfung der Hypothesen und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen sehen wird, so kommt diesem Mittelteil der Wert eines überaus nützlichen grammatischen Kompendiums zu.

Die Überprüfung der strukturellen Hypothesen liefert im siebten Kapitel eine Zusammen-schau der zuvor herausgearbeiteten Einzelbefunde für die strukturbezogenen Hypothesen. Dabei überrascht es nicht, dass die meisten der zu Beginn formulierten Thesen durch die Untersuchung bestätigt werden. Der vorhergesagte altersbedingte Strukturverlust (Hypothese 2a) erweist sich in allen drei Bereichen als statistisch signifi kant, wobei „sich die Phonologie als die stabilste der drei Sprachebenen“ mit dem geringsten Apparent-Time-Rückgang (drei Prozent) erweist (S. 250). Als besonders anfällig für Strukturverlust erweist sich dagegen der Bereich der Mor-phologie, in dem der Anteil der dialektalen Marker im Generationenvergleich um neun Prozent abnimmt. Die Syntax nimmt mit einem Strukturverlust von fünf Prozent eine Mittelstellung ein. Anders als beim Kriterium „Alter“ kann die genderbezogene Hypothese 2b, die einen stärkeren Strukturverlust bei Frauen als bei Männern vorhergesagt hatte, nicht statistisch signifi kant be-legt werden. Demgegenüber trifft die Haupthypothese 2, dass auf deutscher Seite ein geringerer Strukturverlust als auf der niederländischen anzunehmen ist, wiederum zu.

Die Beschreibung und Überprüfung der funktionalen Hypothesen zeigt, dass sich auch diese in den meisten untersuchten Situationen als zutreffend erweisen. Das heißt der Funktionsverlust des Dialekts ist im Allgemeinen bei den Älteren geringer als bei den Jüngeren, bei den Männern geringer als bei den Frauen und auf niederländischer Seite geringer als auf der deutschen.

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Die Tatsache, dass die strukturelle und die funktionale Haupthypothese bestätigt wurden, führt SMITS zu dem Schluss, „dass die Mundart in der Grenzstadt Winterswijk zwar strukturell stärker beeinträchtigt ist als die ursprünglich sehr verwandte Mundart jenseits der Grenze, dass aber der Vredener Dialekt trotz seiner größeren Stabilität funktional eingeschränkter ist“ (S. 296). Als Grund für diesen zunächst vielleicht paradox anmutenden Befund sieht SMITS zutreffenderweise die unterschiedliche Varietätenstruktur auf beiden Seiten der Grenze. Während wir es auf der niederländischen Seite mit einem nahtlosen Übergang vom Dialekt bis zum strukturell nah ver-wandten Standard zu tun haben, impliziert die Kombination des niederdeutschen Dialekts mit der hochdeutschen Standardsprache auf deutscher Seite die Notwendigkeit eines Sprach- oder Kodewechsels. Die strukturelle Distanz schmälert aber die Interferenzmöglichkeiten und sorgt damit auch für eine höhere Stabilität des Vredener Dialekts gegenüber dem der Nachbarstadt Winterswijk. Damit wird auch die dritte Haupthypothese, dass sich die Staatsgrenze auch auf dialektaler Ebene zu einer Bruchstelle entwickelt, verifi ziert und die im Untertitel dieser vor-bildlichen Studie postulierte „Konsolidierung der niederländisch-deutschen Staatsgrenze als Dialektgrenze“ nachdrücklich bestätigt.

LITERATUR

KREMER, LUDGER (1979): Grenzmundarten und Mundartgrenzen. Untersuchungen zur wortgeogra-phischen Funktion der Staatsgrenze im ostniederländisch-westfälischen Grenzgebiet. Köln/Wien: Böhlau (Niederdeutsche Studien. 28).

Duisburg-Essen HEINZ EICKMANS

DANIEL SOLLING (2012): Zur Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibung von Substantiv-komposita im Deutschen (1550–1710). Uppsala: Elanders. 338 S. (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Germanistica Upsaliensia. 57).

Das Problem der graphischen Darbietung von benachbarten Substantiven (dies gilt in abgewan-delter Form auch für andere Wortarten) durch Getrennt- und Zusammenschreibung verbunden mit der Frage nach der kognitiven Deutung als grammatische Konstruktion beziehungsweise als Kompositum sowie die auffällig infl ationäre Nutzung von Bindestrich-Formen im 16. Jahr-hundert wird seit Langem in der Forschung diskutiert. Insofern ist das Thema der Uppsalaer Dissertation keineswegs überraschend neu, wohl aber der gewählte Zugriff auf das Thema und dessen Behandlung. Bisherige Aussagen zu dem oben genannten Komplex basieren eher auf Zufallsbeobachtungen anhand geringer Datenmengen. Eine Darstellung des Gegenstandes auf der Basis eines breit angelegten und zeit-räumlich strukturierten Korpus war überfällig. Hier schließt die Studie eine große Lakune.

Die Datenbasis ist mit 249 Predigten aus rund 170 Jahren (1545–1716) beachtlich. Dass der Verfasser ausschließlich auf Originaldrucke zurückgreift, kann bei einer graphematisch ausge-richteten Studie zwar als selbstverständlich betrachtet werden, ist aber dennoch hervorzuheben, da sich die Arbeit mit Originalen immer noch nicht als allgemeiner Standard historischer Sprach-forschung durchgesetzt hat. Die Beschränkung auf eine Textsorte (Predigten in Postillen) und dabei – enger noch – auf Predigten jeweils zum ersten/vierten Advent ist methodisch für einen ersten Zugriff gut; sie erleichtert die diachrone und diatopische Vergleichbarkeit der Texte, da zunächst von Einfl üssen der Textsorte abstrahiert werden kann. Die Korpusstruktur unterscheidet sechs Großräume (Ost-, West- und Nordoberdeutsch; Ost-, Westmitteldeutsch und Norddeutsch), wobei die Einbeziehung des häufi g ausgeschlossenen Norddeutschen besonders erfreulich ist. Die diachrone Struktur enthält sechs Zeitschnitte, wobei „Schnitt“ hier nicht „Zeitraum“ bedeutet,

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sondern feste Jahresdaten mit einem Streubereich von circa ± 10 Jahren bezeichnet: 1550, 1570, 1600, 1620, 1660, 1710.

Methodisch geschickt grenzt der Verfasser den Gegenstand „Substantivkomposita“ ein und folgt dabei der inzwischen weithin akzeptierten, aber wohl kaum je zu beweisenden Vorstellung, dass auch (noch) getrennt geschriebene Substantivkomplexe unter bestimmten Voraussetzungen bereits als Komposita aufgefasst werden können. Untersuchungen zum Übergang von Getrennt- und Zusammenschreibungen von Substantiven stoßen dabei immer auf das Problem der ambi-valenten Formen bei nicht zusammengeschriebenen Komplexen: Handelt es sich noch um eine Konstruktion mit einem pränominalen Genitivattribut oder bereits um ein Kompositum (wie zum Beispiel der sunnen schein)? SOLLING minimiert solche ambivalenten Formen („Zweifelsfälle“) mit Hilfe eines zweistufi gen Verfahrens im Anschluss an VLADIMIR PAVLOV (1983): 1. formalgramma-tisch (wie die Rahmenkonstruktion von Determinator und Zweitglied) und 2. kontextsemantisch

wenn sich das Erstglied des aktuellen substantivischen Wortkomplexes auf eine Gattung von Objekten (sprich: eine semantische Verallgemeinerung) bezieht, wird dieser Fall als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum gewertet. Bezieht sich das Erstglied dagegen auf einen Einzelgegenstand oder mehrere Einzelgegenstände, wird der Fall als ein vorangestelltes Genitivattribut betrachtet (S. 65).

Die (wenigen) verbleibenden Fälle werden für die weitere Untersuchung ausgeschlossen.Das Datenmaterial von über 6.400 Belegen wird ausführlich unter diachronen, diatopischen,

konfessionellen, graphematischen (Groß-/Kleinschreibung), fl exionsmorphologischen und onomasiologischen Gesichtspunkten analysiert und dargestellt. An späterer Stelle wird die Ent-wicklung ausgewählter Komposita detailliert vorgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze: Zusammenschreibung bei eigentlichen Komposita ist von Beginn des Untersuchungszeitraums an mit weit über 90 Prozent dominant; die uneigentlichen Komposita werden ebenfalls häufi ger zusammengeschrieben, aber deutlich seltener als die eigentlichen. Die diachrone Entwicklung zeigt eine Zunahme der Zusammenschreibung zumindest bis in die 1620er Jahre (danach gibt es eine wichtige Veränderung, siehe unten). Die regionalen und konfessionellen Unterschiede sind eher gering ausgeprägt. Die Schreibung einzelner Substantivkomposita ist in den jeweiligen Zeitschnitten relativ stabil und die verschiedenen Drucke desselben Textes zeigen nur geringe Varianz. Die Ergebnisse bestätigen, differenzieren und variieren die bisherigen Annahmen leicht und stellen unser Wissen in diesem Bereich auf eine solidere Basis.

In einem Fall sind die Ergebnisse der Untersuchung jedoch geeignet, bisheriges Wissen um ein gutes Stück zu erweitern. Die diachrone Darstellung zeigt deutlich, dass der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts infl ationär ansteigende Gebrauch des Bindestrichs (in der Regel als Fraktur-Doppelbindestrich) nicht nur – wie bisher meist vermutet – eine Übergangsform zur späteren Zusammenschreibung darstellt. Die Bindestrichschreibung steht offensichtlich nicht nur für den Übergang, für Kompromiss und vorsichtige Halbherzigkeit, denn dann dürften die Bindestrich-Belege ausschließlich auf Kosten der Getrenntschreibungen zunehmen. Sie nehmen vielmehr, wie Tabelle 18 (S. 123) und die Darstellung deutlich zeigen, weitaus stärker auf Kosten der Zusammenschreibungen zu. Dies bedeutet, dass – aus welchen Gründen auch immer – eine zumindest graphisch symbolisierte Re-Analyse im wörtlichen Sinne stattfi ndet, wobei die unei-gentlichen Zusammensetzungen jeweils einen weit höheren Anteil an Bindestrichschreibungen aufweisen als die eigentlichen. Dass es sich hierbei nicht (nur) um eine Verzerrung der Ergebnisse durch zunehmende Belegzahlen an uneigentlichen und neuen ungewöhnlichen Komposita handelt, sondern die Entwicklung durchaus auch die seit Jahrhunderten vorhandenen und lexikalisierten Komposita einschließt, zeigen die Daten der Einzelwortstudien (etwa zu Schuchriemen oder Predigampt).

Diesen sehr interessanten Befund vertieft der Verfasser leider nicht, sondern verbleibt weit-gehend auf der Oberfl äche und arbeitet mehr mit bisherigen Vermutungen als mit handfesten Ergebnissen über die Ursachen („Faktoren“) dieser Entwicklung. Die Annahmen sind: 1. Über-nahme des Doppel-Bindestrichs aus dem Französischen als Modeerscheinung, 2. Hervorhebung von Einzelwörtern durch die weit verbreitete Stammwort-Diskussion und 3. noch nicht festgelegte

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Zusammenschreibung uneigentlicher Komposita. Zumindest die drittgenannte Ursache ist isoliert betrachtet vor dem Hintergrund der zusammengestellten Daten wenig überzeugend, da nicht nur die uneigentlichen, sondern (wenn auch in etwas geringerem Maße) auch die eigentlichen Komposita von der Entwicklung erfasst werden. Die beiden anderen Erklärungsversuche sind – insbesondere, wenn sie, wie von SOLLING vermutet, zusammenspielen – ernster zu nehmen. Einfl uss des Französischen wurde bereits von VIRGIL MOSER (1949, 440) im Anschluss an MAX HERMANN JELLINEK (1896, CXLIX) angenommen, doch bemerkt SOLLING zu Recht, dass es lediglich um die grundsätzliche Übernahme des Bindestrichs als Verfahren geht, da die Substantivkomposita im Französischen erst viel später ihre Ausgestaltung erfahren und der von JELLINEK als Entleh-nungsinstanz angeführte PAUL SCHEDE MELISSUS nur 33 Substantivverbindungen mit Bindestrich versieht (von 312 Belegen mit Bindestrich insgesamt). Für den Einfl uss der Stammwort-Diskussion gibt es zwar ebenfalls keine belastbaren Hinweise, da – wie SOLLING wiederum zu Recht betont – die Grammatikographie jener Zeit häufi g lediglich Formulierungen eines bereits gut belegten Usus vornimmt. Dennoch spricht einiges für die Vorstellung, dass die Bindestriche (einmal als Mittel bekannt) genutzt werden, um die relative Selbständigkeit der einzelnen Bestandteile von Komposita zu markieren, etwa zur Unterstützung des Leseverstehens (dazu besonders JOHANNES ERBEN 2007). Und hier dürften wohl wiederum mehrere Faktoren zusammenspielen, die zum Teil auch bereits bekannt sind: die systematischere Trennung am Zeilenende, die systematische Großschreibung der Substantive (hier verhindert die Bindestrichschreibung die Binnengroß-schreibung [HofHaltung]), die Tendenz zu Reihungen, wobei dann das letzte Kompositum ebenfalls mit Bindestrich versehen wird (ein Augustiner= vnd Nonnen=Closter, Haubt= oder Pfarr=Kirchen, Liebes=Stats=Helden= und Hirten=Geschichten), die Markierung von Ad-hoc-Bildungen (Wunder=Nasen) sowie die Möglichkeit, die Einzelglieder durch Trennung der Komposita zu betonen, etwa in Wortspielen (ein verteuffelter=Scherg, ein verschergter=teuffel, ein Teuffels=Scherg, Ein mit=einen=Schergen=besessener Teuffel. HANS MICHAEL MOSCHEROSCH, Gesichte, Straßburg 1650, 12).

Was die Studie in diesem Zusammenhang vermissen lässt, ist eine kritische Refl exion der zugrunde gelegten Textsorte „Predigt“. Predigten sind auch in geschriebener, selbst in gedruckter Form, niemals ganz aus ihrer konzeptionellen Mündlichkeit zu lösen. Gerade in der Mündlichkeit tritt das intentionale Element der Beschwerung des Erstgliedes einer Komposition deutlich zutage. Hier erscheint eine Markierung bei der Verschriftlichung beziehungsweise bei der Drucklegung für das Leseverstehen besonders wichtig. Deshalb wäre es nicht uninteressant, die jeweiligen Kontexte der Bindestrichschreibungen bei ihrer Bewertung stärker zu berücksichtigen.

Wenn zu dem Thema der Studie auch noch nicht das letzte Wort gesprochen ist – SOLLING selbst entwirft im Ausblick ein ganzes Spektrum von Themen für weitere Forschungen – ver-mittelt sie doch einen erheblichen Wissensfortschritt, an dem sich die zukünftige Forschung zu orientieren hat.

LITERATUR

ERBEN, JOHANNES (2007): Die Tendenz zum Aufbau mehrgliedriger Wörter im Deutschen und Versuche, die wortinterne Gliederung lautlich oder graphisch zu verdeutlichen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126, 111–118.

JELLINEK, MAX HERMANN (Hg.) (1896): Die Psalmenübersetzung des Paul Schede Melissus (1572). Halle: Niemeyer (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 144–148).

MOSCHEROSCH, HANS MICHAEL (1650): Gesichte. Straßburg 1650.MOSER, VIRGIL (1949): Deutsche Orthographiereformen des 17. Jahrhunderts. II. Teil. In: Beiträge

zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 71, 386–404.PAVLOV, VLADIMIR M. (1983): Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich

der Wortbildung (1470–1730). Von der Wortgruppe zur substantivischen Zusammensetzung. Berlin: Akademie Verlag (Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. 56. 6).

Bochum KLAUS-PETER WEGERA

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THOMAS STOLZ / CORNELIA STROH / AINA URDZE (2011): Total Reduplication. The Areal Linguistics of a Potential Universal. Berlin: Akademie Verlag. XVI, 620 S. (Studia Typologica. 8). € 128,–

The focus of this rich volume is total reduplication, that is, reduplicative constructions where one fi nds two copies of the same element appearing adjacent to each other in a way prescribed by the grammar of a language, as opposed to representing mere repetition.1 To pick one example, in Swahili, total reduplication of an adjective can be used to code plurality of the noun it modifi es (p. 3) rather than merely emphasizing its semantics. The book’s title both oversells and undersells its content. On the one hand, its areal focus is limited to Europe. While examples are drawn from languages beyond the continent, one will not fi nd a global-scale survey of the sort that has become familiar since the publication of HASPELMATH et al. (2005). On the other hand, there is much more than areal linguistics here. Extensive attention is given to methodological issues, the literature review brings interesting older work to light, and, most importantly, the book convin-cingly demonstrates that the understudied phenomenon of total reduplication should be brought solidly into the fold of linguistic patterns worthy of descriptive and typological attention as part of grammatical “canon”. This last point is especially signifi cant given that recent decades have seen much more attention paid to partial reduplication than total reduplication.

The structure of the book largely mirrors the stages of investigation and discovery that take place over the course of a multi-year project rather than emphasizing specifi c research results, giving it more the feel of a (massively) extended project report than a typical academic mono-graph. Its overall orientation is strongly functional-typological, though the richness of its coverage will mean that linguists of any theoretical persuasion should fi nd something of interest here, as well those specializing in morphology, syntax, semantics, and historical linguistics, among other subdisciplines.

The presentation is divided into four parts, some consisting of multiple chapters. The fi rst part, comprising about a third of the book, is devoted to the question of how to approach total reduplication from an analytical perspective, and the discussion is far ranging. There is good reason for this. On the one hand, compared to other grammatical phenomena, total reduplication superfi cially appears trivial in nature, and the authors take great care to explain its importance. Indeed, there has been a historical prejudice against the phenomenon as something characte-ristic of “simple” societies or less educated speakers (p. 98–99). On the other hand, the lack of clear-cut formal coding associated with total reduplication makes it diffi cult to pin down just what counts as an instance of it. For instance, should the fi rst two words in a phrase like “very very bright” (p. 22) in English count as an instance of total reduplication or just as a double application of a modifi er? Ultimately, the authors invoke fl exible devices, such as prototypes (p. 69) and grammaticalization chains (p. 147) to delineate the phenomenon in a manageable way. The discussion in this part of historical approaches to reduplication (stretching back to the nine-teenth century) and of how reduplication fi ts into models of grammaticalization are particularly valuable additions to the literature. The tone here, as well as in much of the rest of the book, is often quite critical but, at the same, the authors consistent presentation of novel observations helps to offset any negativity.

The second part of the book is an extended investigation into total reduplication in Maltese, serving as a case study that provides context for the typological investigation to follow. The choice of language is largely practical in nature: It exhibits enough instances of total reduplication, with varying analytical complications, to make it informative, and the authors also have signifi cant previous experience with the language. The study is divided into two major sections, a relatively short one giving a quantitative overview of the patterning of total reduplication as found in a Maltese corpus, and a longer one covering the distribution of total reduplication across word

1 In terms of coverage, this book is unusually expansive, and it is impossible to fully address the whole range of its content in a single review. Interested readers will fi nd discussion of additional points in several other reviews that have already been published in KIM (2012), KALLERGI (2013), and ZRIBI-HERTZ (2013).

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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classes, the extent to which there is evidence for phonological or morphosyntactic constraints on its appearance, and its various functions.

The third, and longest, part of the book investigates the distribution of total reduplication in Europe, contrasting its results with those of the typological study of RUBINO (2005), which found much less reduplication in Europe than reported here. As with the Maltese case study, the discus-sion is divided into quantitative and non-quantitative sections. The primary database from which the results are derived involves parallel corpora based on existing translations of “Le Petit Prince” and the fi rst book in the “Harry Potter” series. Parallel text typology represents a relatively new method of exploring cross-linguistic patterns (see CYSOUW / WÄLCHLI 2009), and its application is especially appropriate here given that discussion of total reduplication is not a standard part of grammatical descriptions and that it is relatively easy to detect on the basis of textual data alone. A truly impressive amount of data was considered. For instance, over 100 European languages were part of the “Le Petit Prince” corpus, including many nonstandard varieties (p. 342).

The quantitative results of the typological investigation show signifi cant variation in type and token frequency of total reduplication across languages in the sample, but there is still a clear gene-ral pattern: Total reduplication is avoided, if not entirely absent, in the north and center of Europe, especially in Germanic and Baltic, and, to a lesser extent, Slavic. Total reduplication is prominent in the east and south of Europe (which, in this survey, includes languages found outside of the area that is most often treated as “European”, such as Kurdish, Kazkah, and Udmurt). Romance is noteworthy for being divided across the two classes with, for instance, French avoiding total reduplication, but not Italian (p. 416). The quantitative fi gures are not subjected to sophisticated statistical testing, but the extent of the descriptive statistics presented is nevertheless impressive.

Parallel to the Maltese cast study, the non-quantitative part of this section considers how total reduplication is distributed across word classes, constraints on where it is employed, and the functions it encodes, which include, for instance, intensifi cation and extension in time and space (p. 458). The empirical basis of this discussion is expanded beyond parallel texts to include, among other things, information from available descriptions.

The comparatively short fi nal section of the book situates its empirical results in a wider the-oretical and analytical context. Among other things, total reduplication is compared to construc-tions involving coordination of identical conjuncts, and the issue of whether or not reduplication should be considered an instance of copying or doubling of two like elements is given attention. Possible explanations for the areal patterning of total reduplication in Europe are also considered, with HEINE / KUTEVA’S (2006) model of contact-induced language change singled out as useful for explaining its specifi c grammatical character (p. 536) and languages of the Middle East sug-gested as being responsible for its spread into the southern and eastern parts of Europe (p. 534). In addition, a theme from the fi rst section is reconsidered: how does total reduplication fi t into existing notions of language universals? The authors examine the intriguing possibility that the phenomenon represents a new category, the latent universal, describing a grammatical pattern which could be realized straightforwardly in any language, even if it happens not to be (p. 540).

It seems necessary to conclude this review with some warnings about the book’s readability. The discussion often feels somewhat circuitous, giving the impression that the authors attempted to write down everything they discovered about total reduplication rather than paring down the treatment to the essential points. Editorial aspects also leave much to be desired. Typos and uni-diomatic English are not uncommon, tables are not always clearly explained, maps lack captions and are presented as language name abbreviations scattered on the page rather than being overlaid onto an outline of Europe, and passages are given in various languages other than English without translations (though, fortunately, their core content is usually discernible from the following discussion). At the same time, there is a sense in which the lack of “tight” editing is a strength of this book. Too often, scholarly outputs focus on the showcase results of a project, and we never learn of the many interesting intellectual meanderings that researchers had to undertake to arrive at those results. While this expansive format would not be appropriate in all cases, it seems fi tting here, since this is a work that seeks not merely to explore the relatively narrow topic of the

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areality of total reduplication but also to establish that it is a grammatical phenomena meriting much more serious consideration in the future. It does this quite convincingly.

REFERENCES

CYSOUW, MICHAEL / BERNHARD WÄLCHLI (2009): Parallel texts: Using translational equivalents in linguistic typology. In: Sprachtypologie und Universalienforschung 60, 95–99.

HASPELMATH, MARTIN / MATTHEW DRYER / BERNARD COMRIE / DAVID GIL (eds.) (2005): The World Atlas of Language Structures. Oxford: Oxford University Press.

HEINE, BERND / TANIA KUTEVA (2006): The Changing Languages of Europe. Oxford: Oxford University Press.

KALLERGI, HARITIMI (2013): Review of STOLZ, THOMAS / CORNELIA STROH / AINA URDZE: Total Reduplication. The Areal Linguistics of a Potential Universal. In: Linguistics 51(3), 653–662.

KIM, YUNI (2012): Review of STOLZ, THOMAS / CORNELIA STROH / AINA URDZE: Total Reduplication. The Areal Linguistics of a Potential Universal. In: Studies in Language 36 (2), 440–448.

RUBINO, CARL (2005): Reduplication. In: HASPELMATH, MARTIN / MATTHEW DRYER / BERNARD COM-RIE / DAVID GILL (eds.): The world Atlas of Language Structures. Oxford: Oxford University Press, 114–117.

ZRIBI-HERTZ, ANNE (2013): Review of STOLZ, THOMAS / CORNELIA STROH / AINA URDZE: Total Re-duplication. The Areal Linguistics of a Potential Universal. In: Language 89 (2), 375–377.

Buffalo, NY JEFF GOOD

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