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DER UNSICHTBARE

In der Dammerung ging ich auf den großen Platz in der Mitte der Stadt, und was ich

da suchte, waren nicht seine Buntheit und Lebendigkeit, die waren mir wohl vertraut,

ich suchte ein kleines, braunes Bundel am Boden, das nicht einmal aus einer Stimme,

das aus einem einzigen Laut bestand. Es war ein tiefes, langgezogenes, surrendes »-a-

a-a-a-a-a-a-a-«. Es nahm nicht ab, es nahm nicht zu, aber es horte nie auf, und hinter

all den tausendfaltigen Rufen und Schreien des Platzes war es immer vernehmbar. Es

war der unveranderlichste Laut der Djema el Fna, der sich im Verlauf eines ganzen

Abends und von Abend zu Abend immer gleich blieb.

Schon aus der Ferne horchte ich darauf. Eine Unruhe trieb mich hin, fur die ich keine

rechte Erklarung weiß. Ich ware auf alle Falle auf den Platz gegangen, so vieles dort

zog mich an; und ich zweifelte nie daran, daß ich ihn wieder vorfinden wurde, mit

allem, was zu ihm gehorte. Nur um diese Stimme, die zu einem einzigen Laut

reduziert worden war, verspurte ich etwas wie Bangen. Sie war an der Grenze des

Lebendigen; das Leben, das sie erzeugte, bestand aus nichts anderem als diesem

Laut. Ich horchte begierig und angstlich und dann erreichte ich immer einen Punkt

auf meinem Weg, genau an derselben Stelle, wo ich es plotzlich horte, wie das Surren

eines Insekts: »a-a-a-a-a-a-a-a-.« Ich spurte, wie eine unbegreifliche Ruhe sich durch

meinen Korper verbreitete, und wahrend mein Schritt bis jetzt etwas zogernd und

unsicher gewesen war, ging ich nun plotzlich mit Bestimmtheit auf den Laut los. Ich

wußte, wo er entstand. Ich kannte das kleine, braune Bundel am Boden, von dem ich

nie mehr gesehen hatte als ein dunkles und raues Stuck Stoff. Ich hatte nie den Mund

gesehen, dem das »a-a-a-a-a-« entstammte; nie das Auge; nie die Wange; keinen Teil

des Gesichts. Ich hatte nicht sagen konnen, ob dieses Gesicht das eines Blinden war

oder ob es sah.

Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakech, 1967