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Mythos und Denken bei den Griechen

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Jean-Pierre Vernant

Mythos und denken bei den Griechen

historisch-psychologische studien

Aus dem Französischen von Horst Brühmann

Konstanz University Press

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titel der für die Übersetzung verwendeten Ausgabe: Mythe et pensée chez les Grecs. Études de psychologie historique, Paris 1996.© 1996 Éditions La découverte, Paris.

die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden band wurde vom deutschen Literaturfonds mit einem Arbeitsstipendium gefördert.

die beiträge »hestia – hermes. Über den religiösen Ausdruck von raum und bewegung bei den Griechen« sowie »raum und politische organisation im antiken Griechenland« erschienen auf deutsch zuerst in der Übersetzung von horst Günther in: Der maskierte Dionysos. Stadtplanung und Geschlechterrollen in der griechischen Antike, berlin 1996. © 1996 Verlag klaus Wagenbach, berlin, mit freundlicher Genehmigung. – die Übersetzungen wurden für den vorliegenden band behutsam überarbeitet.

bibliografische information der deutschen nationalbibliothekdie deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische daten sind im internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle rechte, auch die des auszugsweisen nachdrucks, der foto- mechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner textabschnitte, Zeichnungen oder bilder durch alle Verfahren wie speicherung und Übertragung auf Papier, transparente, Filme, bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 urhG ausdrücklich gestatten.

© 2016 konstanz university Press, konstanz (konstanz university Press ist ein imprint der Wilhelm Fink Gmbh & co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, d-33098 Paderborn)www.fink.de | www.k-up.de

einbandgestaltung: eddy decembrino, konstanz Printed in Germany herstellung: Ferdinand schöningh Gmbh & co. KG, PaderbornISBN 978-3-86253-053-3

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Inhalt

Vorwort zur Ausgabe von 1985 7einführung 11

erSter teIl · StruKtureN deS mythoS

der hesiodsche Mythos der Geschlechter. Versuch einer strukturalen Analyse 21

der hesiodsche Mythos der Geschlechter.Über den Versuch einer klarstellung 51

strukturale Methode und Mythos der Geschlechter 89

zweIter teIl · mythISche aSpeKte voN GedächtNIS uNd zeIt

Mythische Aspekte des Gedächtnisses 115der Fluß Améles und die meléte thanátou 145

drItter teIl · dIe orGaNISatIoN deS raumeS

hestia – hermes. Über den religiösen Ausdruck von raum undbewegung bei den Griechen 165

Geometrie und sphärische Astronomie in der frühengriechischen kosmologie 213

Geometrische struktur und politische begriffe in derkosmologie Anaximanders 227

raum und politische organisation im antiken Griechenland 249

vIerter teIl · arBeIt uNd techNIScheS deNKeN

Prometheus und die technische Funktion 275Arbeit und natur im antiken Griechenland 287Psychologische Aspekte der Arbeit im

antiken Griechenland 309bemerkungen über die Formen und Grenzen des

technischen denkens bei den Griechen 317

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füNfter teIl · vom doppelGäNGer zum BIld

bildliche darstellung des unsichtbaren und psychologische kategorie des doppelgängers: der kolossós 341

Von der Vergegenwärtigung des unsichtbaren zur nachahmung der erscheinung 355

SechSter teIl · dIe perSoN IN der relIGIoN

Aspekte der Person in der griechischen religion 373

SIeBter teIl · vom mythoS zur verNuNft

die herausbildung des positiven denkens im archaischen Griechenland 393die ursprünge der Philosophie 423

register 433

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Vorwort zur Ausgabe von 1985

Zwanzig Jahre sind seit dem ersten Erscheinen von Mythe et pensée chez les Grecs vergangen. Dieses Buch, das in Frankreich die historisch-psychologi-schen Forschungen auf dem Gebiet der griechischen Antike eröffnete, wurde 1965 von François Maspero in der von Pierre Vidal-Naquet herausgegebenen Reihe »Textes à l’appui / histoire classique« veröffentlicht.

1971 kam eine zweibändige, korrigierte und erweiterte Neuausgabe in der Taschenbuchreihe »Petite collection Maspero« heraus. Diese Ausgabe bedeu-tete gleichsam eine Verjüngung für ein Werk, dessen neun aufeinanderfol-gende Nachauflagen (drei der Erstausgabe, sechs der Taschenbuchausgabe) über diese zwanzig Jahre hinweg für kontinuierliche Lieferbarkeit gesorgt haben.

In der Einführung von 1965 gab ich dem Wunsch Ausdruck, mein Unter-nehmen möge nicht isoliert bleiben, sondern den Anstoß zu zahlreichen Untersuchungen geben, die sich auf dem Weg, der von dem Gräzisten Louis Gernet und dem Psychologen Ignace Meyerson eröffnet wurde, der inneren Geschichte des griechischen Menschen, seiner geistigen Organisation und den Veränderungen widmen, die zwischen dem achten und vierten Jahrhun-dert vor unserer Zeitrechnung das Gesamtbild seiner psychischen Tätigkeiten und Funktionen betreffen: die Strukturen von Raum und Zeit, Gedächtnis, Einbildungskraft, Person, Willen, symbolische Praktiken und Behandlung der Zeichen, Argumentationsweisen, Denkkategorien. Mein Wunsch wurde erfüllt, und ich könnte zahlreiche Namen von Gelehrten anführen, die diese Aufgabe glänzend übernommen haben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die historische Anthropologie des alten Griechenland Bürgerrecht sowohl in den klassischen Altertumswissenschaften als auch bei den komparatistisch interessierten Historikern, Soziologen und Anthropologen erhalten.

Die jetzige Ausgabe von 1985 knüpft an die erste insofern an, als sie sämt-liche Stücke der Sammlung in einem einzigen Band vorlegt. Sie führt die zweite fort, indem sie drei neue Beiträge hinzufügt, die ich seither verfaßt habe und deren Anbindung an das Ganze mir geboten schien.

Für die Studie, die sich dem Hesiodschen Mythos der fünf Geschlechter widmet, versteht sich die Präsenz im vorliegenden Band gewissermaßen von selbst. Die Erzählung Hesiods hatte mir anfangs als Beispiel gedient, um zu zeigen, was die strukturale Analyse eines mythischen Texts leisten könnte und in meinen Augen leisten müßte. In die zweite Ausgabe hatte ich meine Antwort auf Einwände aufgenommen, die dieser Essay bei einem Philologen hervorgerufen hatte. Diesmal habe ich mich veranlaßt gesehen, als Echo auf

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Victor Goldschmidt – von dem ich mich hatte inspirieren lassen, ohne ihm auf allen Wegen zu folgen, und der in seinen letzten Schriften auf unsere jeweiligen Lesarten zurückkam, um das Problem der strukturalen Deutung in der Geschichte des Denkens in seiner ganzen Allgemeinheit zu formulie-ren – meinerseits auf meine Arbeit zurückzublicken und mich zu fragen, in welcher Weise der moderne Interpret, wenn er exakt bestimmen will, was Goldschmidt »die Absichten des Autors« nennt, strukturale Analyse und historische Perspektive verknüpfen und gleichsam kreuzen muß. Im Falle des Geschlechtermythos haben mir die neuen, von der Archäologie geliefer-ten Daten zum Erscheinen und zur Entwicklung des Heroenkults im Laufe des achten Jahrhunderts Gelegenheit geboten, meine früheren Analysen wiederaufzugreifen, um sie an wichtigen Punkten zu modifizieren.

Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß inzwischen die Methode der strukturalen Analyse in Frankreich und anderswo von mehreren Gelehrten, Marcel Detienne insbesondere, erfolgreich auf andere griechische Mythen und Mythenensembles angewandt wurde. Müßte ich heute aus meinen eige-nen Schriften das charakteristischste Beispiel für dieses Entzifferungsver-fahren auswählen, würde ich mich gern auf meine Deutung des Prometheus-Mythos beziehen, so wie ich sie zuerst in Mythe et société en Grèce ancienne1 und dann in einer präziseren und weiterentwickelten Form in La cuisine du sacrifice en pays grec unter dem Titel »A la table des hommes«2 dargestellt habe.

Die zweite neu aufgenommene Studie, die den Übergang in der griechi-schen Bildhauerei von der Bemühung, das Unsichtbare bildlich darzustellen, zu einer Kunst der Nachahmung der Erscheinung markiert, führt das Kapi-tel über die psychologische Kategorie des Doppelgängers und den kolossós unmittelbar fort. Oder erläutert es vielmehr, indem sie seine Bestrebungen und seine Tragweite klärt. In der Tat bestimmt sie den Platz, den die Katego-rie des Doppelgängers in einem geistigen Wandel einnimmt, der zum Auftau-chen des Bildes im eigentlichen Sinne in der griechischen Kultur des fünften Jahrhunderts führt: Vom eídolon, einem schattenhaften Doppelgänger, der irdischen Präsenz einer übernatürlichen Wirklichkeit, geht man zum eídolon als nachahmendem Artefakt über, zum falschen Schein im Platonschen Ver-ständnis. Diese beiden Texte bilden ein Ganzes mit einer weiteren Studie, die zuerst im Journal de Psychologie unter dem Titel »Imitation et apparence dans

1 Paris: François Maspero 1974 (deutsch: Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987).2 Marcel detienne und Jean-Pierre Vernant, La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris: Gallimard 1979.

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Vorwort zur Ausgabe von 1985 9

la théorie platonicienne de la mimesis« veröffentlicht und in den Abschnitt »Naissance d’images« des Bandes Religions, histoires, raisons3 aufgenommen wurde. Auf diese Frage, die mir am Herzen liegt und der ich den größten Teil meiner Lehre am Collège de France gewidmet habe, hoffe ich bei nächster Gelegenheit ausführlicher zurückzukommen.

Die letzte Erweiterung – über die Ursprünge der Philosophie – faßt nuan-ciert und mit leicht abgewandelter Orientierung das mäandernde Vorgehen im letzten Teil des Werkes zusammen: »Vom Mythos zur Vernunft«.

In diesem Bild des griechischen Menschen und seiner inneren Erlebnisse – wo selbst das, was mir beinahe gesichert scheint, zum Vorläufigen gehört, wie ich wohl weiß – gibt es Leerstellen, weiße Flecken. Einige davon habe ich an anderer Stelle und später auszufüllen versucht. So die Frage des Willens, die ich in diesem Buch nicht behandle, die ich aber in dem zusammen mit Pierre Vidal-Naquet veröffentlichten Band Mythe et tragédie en Grèce ancienne untersucht habe.4 Dort habe ich gezeigt, wie in der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts die ersten, noch zögernden Skizzen des Menschen als verantwortlicher Akteur, als Herr und Meister seines Handelns, als Inhaber eines Willens hervortreten. Unter einem allgemeineren Gesichtspunkt wird das Problem in dem Artikel »Catégories de l’agent et de l’action en Grèce ancienne« wiederaufgenommen, der in dem Band Religions, histoires, raisons enthalten ist.

Vom Mythos zur Vernunft: das waren die beiden Pole, zwischen denen sich – in einem Panoramablick am Ende des Buches – das Schicksal des grie-chischen Denkens abgespielt zu haben scheint. Seither haben wir, Marcel Detienne und ich, in einer gemeinsamen Untersuchung über die métis die Wandlungen dieser besonderen, so typisch griechischen Form einer hinter-hältigen Klugheit zu verfolgen versucht, die aus List, Schlauheit, Durchtrie-benheit, Betrügerei und Gewitztheit jeglicher Art besteht; ein praktisches Denken, das sich mit dem Hindernis herumschlägt und seinem Gegner in einer entscheidenden Kraftprobe mit offenem Ausgang gegenübersteht. Dem gewieften, durch tausend Erfahrungen klug gewordenen Menschen lie-fert die métis selbst dort den Erfolg, wo er anfangs unmöglich schien. Diese ins Handeln eingebundene Intelligenz verfügt über ihre eigenen Funktions-regeln, Zweckbestimmungen, Verfahrensmodelle. Von der archaischen Zeit bis in die hellenistische Epoche hinterläßt sie in der griechischen Kultur neben oder am Rande der großen theoretischen Wissensbestände und der Philosophie eine deutliche und durchgängige Spur. Ob man sie Hinterlist,

3 Paris: François Maspero 1979.4 bd. 1, Paris: François Maspero 1972.

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Gerissenheit, Raffiniertheit, Einfallsreichtum oder Vorsicht nennt  – diese griechische métis, deren Wortführer und Held Odysseus ist, folgt einem eige-nen Weg, von dem ich heute anzunehmen geneigt wäre, daß er weder ganz dem Mythos noch ganz der Vernunft zugehört.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei François Lissarrague, der das Register dieser Ausgabe korrigiert und ergänzt hat.

J.-P. V.

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Einführung

Wenn wir uns entschlossen haben, Studien mit scheinbar recht unterschied-licher Thematik zu einem Band zusammenzustellen, so deshalb, weil wir sie als Stücke ein und derselben Forschungsarbeit konzipiert haben. Seit mehr als zehn Jahren bemühen wir uns, Untersuchungen zur historischen Psycho-logie, wie sie in Frankreich zuerst von Ignace Meyerson1 in Angriff genom-men wurden, auf das Gebiet der griechischen Antike anzuwenden. Das Material unserer Studien sind die Dokumente, an denen die Spezialisten – Gräzisten und Historiker des griechischen Altertums – arbeiten. Unsere Per-spektive ist jedoch eine andere. Ob es sich um religiöse Tatsachen handelt – Mythen, Rituale, bildliche Darstellungen –, um Philosophie, Wissenschaft, Kunst, soziale Institutionen, technische oder ökonomische Fakten: Stets betrachten wir sie als von Menschen geschaffene Werke, als Ausdruck einer organisierten geistigen Tätigkeit. Auf dem Weg über diese Werke suchen wir nach dem, was der Mensch selbst war, nach jenem antiken griechischen Menschen, der sich nicht von dem sozialen und kulturellen Rahmen trennen läßt, dessen Schöpfer und zugleich dessen Produkt er ist.

Ein schwieriges Unternehmen wegen seines notwendigerweise indirekten Vorgehens, das zudem Gefahr läuft, nicht immer richtig verstanden zu wer-den. In der Auseinandersetzung mit den Texten, den bildlichen Dokumenten, den realia, auf die wir uns stützen müssen, haben die Spezialisten ihre eige-nen Probleme und Techniken; das Studium des Menschen und seiner psychi-schen Funktionen erscheint ihnen zumeist als etwas ihrem Gebiet Fremdes. Die Psychologen und Soziologen wiederum sind wegen der Gegenwartsbezo-genheit ihrer Forschungen zu sehr der zeitgenössischen Welt verhaftet, als daß sie sich für das klassische Altertum interessierten, das sie der – in ihren Augen ein wenig obsoleten – Neugier der klassischen Philologen überlassen.

Und doch, wenn es eine Geschichte des inneren Menschen gibt, die mit der Geschichte der Zivilisationen fest verbunden ist, müssen wir die Devise wie-deraufgreifen, die Zevedai Barbu in seinen Problems of Historical Psychology2 vor einigen Jahren in die Debatte geworfen hat: Back to the Greeks! Aus der Sicht einer historischen Psychologie scheint uns die Rückkehr zu den Grie-chen in der Tat aus mehreren Gründen geboten. Der erste ist praktischer Art. Das Quellenmaterial, das Griechenland betrifft, ist zugleich umfassender, differenzierter und besser ausgearbeitet als das für andere Zivilisationen.

1 Meyerson, Les fonctions psychologiques et les œuvres, Paris 1948. 2 Zevedai Barbu, Problems of Historical Psychology, New York: Grove Press 1960.

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12 Einführung

Ob Sozialgeschichte, politische Geschichte, Religions-, Kunst- oder Geistes-geschichte – in all diesen Bereichen verfügen wir über zahlreiche solide und präzise Arbeiten. Zu diesem Vorteil kommen grundsätzliche Überlegungen hinzu. Die Werke, die das antike Griechenland geschaffen hat, sind von denen, die unser geistiges Universum bilden, hinreichend »verschieden«, um bei uns ein Gefühl der Fremdheit zu wecken und uns mit dem Empfinden der historischen Distanz das Bewußtsein einer Veränderung des Menschen zu vermitteln. Gleichzeitig sind sie uns nicht so fremd wie andere. Sie sind ohne Abbruch der Überlieferung auf uns überkommen. Sie sind noch lebendig in den kulturellen Traditionen, an die wir immer wieder anknüpfen. Weit genug von uns entfernt, um sie als Objekt untersuchen zu können, als ein ande-res Objekt, auf das unsere heutigen psychologischen Kategorien nicht exakt passen, ist uns der griechische Mensch andererseits nahe genug, um es uns ohne allzu viele Hindernisse zu ermöglichen, mit ihm in Kommunikation zu treten, die Sprache zu verstehen, die er in seinen Werken spricht, und über Texte und Dokumente hinaus mit den geistigen Gehalten, den Denk- und Empfindungsformen, den Organisationsweisen des Wollens und Handelns, kurz: mit einer ganzen Architektur des Geistes in Verbindung zu treten.

Schließlich gibt es einen letzten Grund, der den Historiker des inneren Menschen auf das klassische Altertum hinlenkt. In einem Zeitraum weniger Jahrhunderte hat Griechenland in seinem sozialen und geistigen Leben ent-scheidende Umwandlungen erfahren: die Geburt der Polis und des Rechts; die Entstehung einer rationalen Denkweise bei den ersten Philosophen sowie die Herausbildung einer Organisation des Wissens zu einem Korpus diffe-renzierter positiver Disziplinen – Ontologie, Mathematik, Logik, Naturwis-senschaften, Medizin, Moral, Politik; die Schaffung neuer Kunstformen und die dabei erfundenen neuen Ausdrucksweisen, die dem Bedürfnis entspra-chen, bis dahin verkannte Aspekte der menschlichen Erfahrung zu artikulie-ren – epische Dichtung und tragisches Theater in den Künsten der Sprache, Bildhauerei und Malerei, als Schaffung nachahmender Artefakte verstanden, in den bildenden Künsten.

Diese Neuerungen auf allen Gebieten markieren einen so tiefgreifenden Mentalitätswandel, daß man darin gleichsam den Geburtsakt des abendlän-dischen Menschen sehen konnte, das wahrhafte Auftauchen des Geistes mit den Werten, die wir diesem Begriff zuerkennen. Tatsächlich betreffen die Transformationen nicht nur die Verfahrensweisen des Verstandes oder die Mechanismen des Argumentierens. Dieser Wandel vom homo religiosus der archaischen Kulturen zu jenem politischen und vernünftigen Menschen, auf den die Aristotelischen Definitionen zielen, stellt die großen Rahmen des Denkens und das gesamte Tableau der psychischen Funktionen in Frage:

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Einführung 13

Die symbolischen Ausdrucksformen und die Behandlung der Zeichen, Zeit, Raum, Kausalität, Gedächtnis, Einbildungskraft, Organisation der Handlun-gen, Wille, Person – all diese mentalen Kategorien erfahren eine Transforma-tion in ihrer inneren Struktur und ihrem allgemeinen Verhältnis zueinander.

Zwei Themen waren es, die mehr als alle anderen die Aufmerksamkeit der Gräzisten im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts in Anspruch genom-men haben: der Übergang vom mythischen Denken zur Vernunft und die fortschreitende Herausbildung der Person. Wir haben uns diesen beiden Problemen auf unterschiedliche Weise genähert. Das erste bildet das Thema einer umfassenden Studie; was das zweite angeht, haben wir uns auf einen besonderen Aspekt beschränkt. Doch um Mißverständnisse zu vermeiden, erscheint es uns notwendig, zu jedem der beiden unsere Position zu erläu-tern. Wenn wir die abschließende Studie des vorliegenden Bandes unter den Titel »Vom Mythos zur Vernunft« gestellt haben, so beanspruchen wir damit nicht, das mythische Denken im allgemeinen zu behandeln, sowenig wir damit die Existenz eines unveränderlichen rationalen Denkens vorausset-zen. Vielmehr betonen wir auf den letzten Zeilen, daß die Griechen nicht die Vernunft, sondern eine Vernunft erfunden haben, die an einen historischen Kontext gebunden ist, der sich von dem des heutigen Menschen unterschei-det. Ebenso gibt es, wie wir glauben, im sogenannten mythischen Denken verschiedene Formen, vielfache Ebenen, Organisationsweisen und gleich-sam unterschiedliche Typen von Logik.

Im Falle Griechenlands schien uns die geistige Entwicklung, die von Hesiod zu Aristoteles führt, im wesentlichen einem zweifachen Weg zu fol-gen: Erstens stellt sich eine klare Unterscheidung zwischen der Welt der Natur, der Welt des Menschen und der Welt der sakralen Kräfte her. Diese drei unterschiedlichen Welten werden stets mehr oder weniger vermischt oder einander angenähert durch die mythische Einbildungskraft, die sie bald ineinander verschwimmen läßt, bald gleitende Übergänge von einer Ebene zur anderen ermöglicht, bald zwischen all diesen Sektoren des Realen ein Spiel systematischer Entsprechungen herstellt. Zweitens ist das »rationale« Denken bestrebt, all die polaren und ambivalenten Vorstellungen zu beseiti-gen, die im mythischen Denken eine wichtige Rolle spielen; es verzichtet dar-auf, kontrastierende Assoziationen zu verwenden, gegensätzliche Elemente zu koppeln oder zu vereinen, auf dem Wege sukzessiver Verkehrungen ins Gegenteil voranzuschreiten; im Namen eines Ideals der Widerspruchsfrei-heit und Eindeutigkeit meidet es jede Argumentationsweise, die vom Dop-pelsinnigen oder Uneindeutigen ausgeht.

In dieser allgemeinen Form haben unsere Schlußfolgerungen vorläufigen Charakter. Sie zielen vor allem darauf ab, ein Untersuchungsprogramm zu

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14 Einführung

skizzieren, und verlangen nach begrenzteren, doch präziseren Studien: über einen bestimmten Mythos bei einem bestimmten Autor, über einen bestimm-ten Mythenkomplex mit all seinen Varianten in den verschiedenen griechi-schen Traditionen. Einzig konkrete Forschungen, welche die Entwicklung des Vokabulars, der Syntax, der Kompositionsweisen, der Themenwahl und Themenanordnung von Hesiod und Pherekydes bis zu den Vorsokratikern festmachen, werden es erlauben, die Wandlungen des geistigen Instrumen-tariums, der Techniken des Denkens, der logischen Prozeduren zu verfolgen. Insofern ist unsere abschließende Studie mit Blick auf diejenige zu lesen, die diesen Band eröffnet: Indem wir die strukturale Analyse eines bestimmten Mythos, des Hesiodschen Mythos der Geschlechter, so weit vorangetrieben haben, wie es uns irgend möglich war, wollten wir eine Form des Denkens beschreiben, die nichts weniger als inkohärent ist, der jedoch eine eigene, charakteristische Bewegung, Strenge und Logik zukommt, wobei die mythi-sche Konstruktion in ihrem Gesamtplan wie im Detail der verschiedenen Komponenten auf dem Gleichgewicht und der Spannung polarer Begriffe beruht. Aus der Sicht des Mythos drücken diese Begriffe die Polarität der sakralen Kräfte aus, die einander entgegengesetzt und zugleich miteinander verknüpft sind. So finden wir im Werk Hesiods ein »Modell« des Denkens wieder, das in vielen Hinsichten demjenigen verwandt ist, das unserer Auf-fassung nach in Gestalt des Paares Hestia–Hermes die älteste religiöse Erfah-rung beherrschte, die die Griechen vom Raum und von der Bewegung hatten.

Vielleicht wird man erstaunt sein, daß wir der Analyse der Person kei-nen größeren Platz in der Ökonomie dieser Sammlung eingeräumt haben. In der Tat, wenn es einen Bereich gibt, zu dem die Gräzisten im Verlauf ihrer Forschungen gleichsam von selbst hingeführt wurden, um psychologische Probleme zu behandeln, so ist es gewiß der der Person. Vom homerischen Menschen – ohne wirkliche Einheit, ohne psychologische Tiefe, durchströmt von jähen Impulsen, von Inspirationen, die als göttliche empfunden wer-den, in gewisser Weise sich selbst und seinen Handlungen fremd – bis zum griechischen Menschen der klassischen Ära scheinen die Wandlungen der Person tiefgreifend. Die Entdeckung der inneren Dimension des Subjekts, die Distanznahme gegenüber dem Körper, die Vereinigung der psychischen Kräfte, das Auftauchen des Individuums oder zumindest bestimmter Werte, die mit dem Individuum als solchem verbunden sind, der Fortschritt des Gefühls der Verantwortung, die präzisere Haftbarkeit des Handelnden für seine Handlungen  – all diese Entwicklungen der Person waren unter den Fachleuten Gegenstand von Forschungen und Diskussionen, die unmittelbar die historische Psychologie betreffen. Dennoch wollten wir keine Gesamtbi-lanz dieser Forschungen und Diskussionen ziehen, und zwar nicht nur, weil

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Einführung 15

ein Psychologe bereits vor uns eine solche zu liefern versucht hat. Aus einer Perspektive, die der unsrigen nahesteht, hat Zevedai Barbu nachgezeichnet, was er »The Emergence of Personality in the Greek World« nennt.3 Auch wenn wir viele seiner Analysen teilen und sie dem Leser zur Lektüre emp-fehlen, wären wir versucht, gegenüber seinen Schlußfolgerungen zweierlei Vorbehalte zu äußern. Erstens scheint es uns, daß der Autor das Bild, das er von der Entwicklung der Person zeichnet, ein wenig verzerrt: Da er nicht sämtliche Kategorien von Dokumenten berücksichtigt und sie vor allem nicht detailliert genug betrachtet, deutet er sie gelegentlich in einem allzu modernen Sinne und projiziert auf die griechische Person gewisse Merkmale, die unserer Ansicht nach erst in einer jüngeren Epoche auftreten. Zweitens ist seine Studie, wenngleich sie unter einem historischen Gesichtspunkt durchgeführt wurde, nicht gänzlich frei von normativen Vorannahmen. Nach Zevedai Barbu haben die Griechen die wahre Person entdeckt, indem sie ihr inneres Wesen auf dem Gleichgewicht zwischen zwei gegensätzlichen psy-chischen Prozessen errichteten: einerseits dem der »Individuation«, welche die Integration der inneren Kräfte des einzelnen um ein einziges Zentrum herum realisiert, und andererseits dem der »Rationalisierung«, welche die Individuen in eine höhere (soziale, kosmische, religiöse) Ordnung einbettet. Auf diese Weise hätten die Griechen die vollkommene Form der Person, ihr Modell, erarbeitet. Die Einwände, die sich unserer Auffassung nach gegen die Arbeiten bestimmter Gräzisten gerade unter psychologischem Gesichts-punkt erheben lassen, rühren eben daher, daß sie die Komplexität einer psy-chischen Kategorie wie der der Person in ihrer Vieldimensionalität ebenso wie ihre historische Relativität verkennen. Indem sie sie als eine vollendete Form betrachten, von der man eine einfache und allgemeine Definition geben könnte, neigen sie manchmal dazu, ihre Untersuchung so zu führen, als ginge es um die Klärung der Frage, ob die Griechen die Person gekannt oder nicht gekannt haben beziehungsweise wann genau sie sie entdeckt haben. Für den historischen Psychologen ließe sich das Problem in solchen Begriffen nicht stellen: Es gibt keine Person, die als Modell dienen könnte, und außerhalb des Verlaufs der menschlichen Geschichte mit ihren Wechselfällen, lokalen Varietäten und zeitlichen Transformationen kann es auch keine geben.4 Die Untersuchung hat also nicht festzustellen, ob die Person in Griechenland existiert oder nicht, sondern müßte klären, was die Person im antiken Grie-chenland ist, in welchen ihrer vielfältigen Merkmale sie sich von der heutigen

3 ebd., 4. kapitel, s. 69–144.4 Vgl. Meyerson, Les fonctions psychologiques et les œuvres, a. a. o., 3. kapitel, »L’histoire des fonctions«, besonders die der Geschichte der Person gewidmeten seiten 151 bis 185.

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16 Einführung

Person unterscheidet, welche Aspekte zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr oder weniger deutlich – und in welcher Form – hervorgetreten, welche unbe-achtet geblieben sind, welche Dimensionen des Ichs sich bereits in einem bestimmten Typus von Werken, Institutionen und menschlichen Tätigkeiten äußern – und wieweit sie sich entfaltet haben –, welchen Entwicklungslinien, welchen Hauptrichtungen die psychischen Funktionen jeweils folgen, aber auch welche tastenden, gescheiterten, aussichtslosen Versuche sie unter-nommen haben, schließlich inwieweit sie funktional systematisiert sind, was gegebenenfalls in ihrem Mittelpunkt steht und welches charakteristi-sche Aussehen sie besitzen.

Eine solche Untersuchung setzt voraus, daß man zuvor in der Gesamt-heit der zivilisatorischen Tatsachen, die uns Griechenland bietet, diejeni-gen herausgefunden hat, die spezieller diesen oder jenen Aspekt der Person betreffen, daß man die Typen von Werken oder Tätigkeiten zu bestimmen vermochte, mittels deren der griechische Mensch die Bereiche seiner inneren Erfahrung gerahmt hat, so wie er mittels Naturwissenschaft und Technik die Bereiche seiner Erfahrung der materiellen Welt gerahmt hat. Die Forschung hätte also ein sehr weites und sehr heterogenes Feld abzudecken: Tatsachen der Sprache und der Veränderungen des Vokabulars, insbesondere des psy-chologischen Vokabulars; Sozialgeschichte, insbesondere Rechtsgeschichte, aber auch Geschichte der Familie und Geschichte der politischen Institu-tionen; große Kapitel der Geschichte des Denkens, etwa derjenigen, die die Vorstellungen von der Seele, vom Körper, von der Individuation betreffen; Geschichte der moralischen Ideen: Scham, Schuld, Verantwortlichkeit, Ver-dienst; Geschichte der Kunst, insbesondere die Probleme, die das Auftau-chen neuer literarischer Gattungen aufwirft: epische Dichtung, tragisches Theater, Biographie, Autobiographie und Roman, sofern diese letzteren drei Begriffe ohne Anachronismus auf die griechische Welt anwendbar sind; Geschichte der Malerei und Bildhauerei mit dem Aufkommen des Porträts; schließlich Religionsgeschichte.

Da sich all diese Fragen nicht im Rahmen einer knappen Studie behan-deln lassen, haben wir es vorgezogen, uns auf die religiösen Tatsachen zu beschränken. Zudem betrachten wir nur die Religion der klassischen Epoche, ohne zu berücksichtigen, was die hellenistische Zeit an Neuerungen gebracht haben mag. Die Untersuchung mußte um so anspruchsvoller geführt werden, je engere Grenzen ihr zu Beginn gezogen waren. Auf den religiösen Bereich beschränkt, mußte sie dessen verschiedene Ebenen sorgsam unterscheiden und für jede von ihnen erforschen, in welchem Maße sie die Geschichte der Person betrifft, inwieweit Glaubensüberzeugungen und religiöse Praktiken aufgrund ihrer psychologischen Implikationen den inneren Zustand des

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Einführung 17

Subjekts berühren und an der Entwicklung eines »Ichs« beteiligt sind. Man wird sehen, daß unsere Schlußfolgerungen, aufs Ganze gesehen, negative sind und daß wir schließlich dahin gelangt sind, vor allem die Unterschiede zu markieren, die Distanzen zu unterstreichen, die im religiösen Leben den Griechen des fünften Jahrhunderts von der Person des heutigen Gläubigen unterscheiden.

Unsere Untersuchung widmet sich zum größten Teil psychologischen Kate-gorien, die mangels einer Verbindung zwischen Gräzisten und Psychologen noch nicht Gegenstand von Forschungen in einer historischen Perspektive gewesen sind: Gedächtnis, Zeit und Raum, Arbeit und technische Funktion, Bild und Doppelgänger.

Unsere komplexesten Kapitel beziehen sich auf die Arbeit und den Raum. Die Arbeit hat das heutige soziale Leben und den zeitgenössischen Men-schen so tief geprägt, daß man ganz natürlich zu der Annahme neigt, sie habe diese einheitliche und organisierte Form, die wir von ihr heute kennen, von jeher besessen. Wir hatten dagegen zu zeigen, daß die Bedeutung des Arbeitsverhaltens, seine Rolle in der Gruppe und beim Individuum sich stark gewandelt haben. Für eine historische Studie des Raumes erschienen uns die griechischen Tatsachen besonders erhellend. Nicht nur das wissenschaftli-che Denken der Griechen, sondern auch ihr soziales und politisches Denken sind von einer Geometrik gekennzeichnet, die stark mit den alten Raumvor-stellungen kontrastiert, wie sie in den Mythen und den religiösen Praktiken belegt sind. Es bot sich uns also die Gelegenheit, an einem in gewisser Weise privilegierten Beispiel die Transformation der Rahmen der Raumvorstellung zu verfolgen. Wir glaubten die Faktoren ausmachen zu können, die im Falle Griechenlands den Übergang von einem religiösen, qualitativen, differen-zierten, hierarchisierten Raum zu einem homogenen und reversiblen Raum geometrischen Typs determiniert haben.

Unsere Studie über den kolossós und die psychologische Kategorie des Doppelgängers ist als ein erster Beitrag zu einer weiterreichenden Untersu-chung zu lesen, die sich mit dem Erscheinen des Bildes im eigentlichen Sinne, dem Auftauchen einer bildschöpferischen Tätigkeit beschäftigen soll (han-dele es sich um künstliche Gegenstände von rein »nachbildendem« Charakter oder um geistige Erzeugnisse in »imaginativer« Absicht), mit der Erarbeitung einer psychischen Funktion des Imaginären.

Bei dem Bemühen, den gesamten Bereich der Gräzistik für Untersuchun-gen der historischen Psychologie zu erschließen, verhehlen wir uns weder die Schwierigkeiten eines Unternehmens, das unsere Kräfte weit übersteigt, noch die Unzulänglichkeit der Resultate, die wir beibringen können. Unsere

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Absicht war es, einen Weg zu bahnen, Probleme aufzuwerfen, Forschungen anzuregen.

Wenn unser Versuch dazu beitragen konnte, eine kollektive Arbeit in Gang zu bringen, die Gräzisten, Historiker, Soziologen und Psychologen versam-melt, wenn er es als wünschenswert erscheinen läßt, einen gemeinsamen Plan für das Studium der psychischen Transformationen zu entwerfen, wel-che die griechische Erfahrung seit der Wende, die sie in der Geschichte des inneren Menschen bedeutete, nach sich zog, wird dieses Buch nicht vergeb-lich gewesen sein.

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erster teil

strukturen des Mythos

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Der Hesiodsche Mythos der GeschlechterVersuch einer strukturalen Analyse1

Hesiods Epos Werke und Tage beginnt mit zwei mythischen Erzählungen. Nachdem er mit wenigen Worten an die Existenz zweier verschiedener Éris (zweier Arten des Wettstreits) erinnert hat, erzählt Hesiod die Geschichte von Prometheus und Pandora und läßt ihr sogleich eine andere folgen, die – wie er sagt – die erste »krönt«: den Mythos der Menschengeschlechter. Beide Mythen sind miteinander verknüpft. Beide beschwören eine alte Zeit, in der die Menschen vor Leiden, Krankheit und Tod geschützt lebten; jeder erklärt auf seine Weise die Übel, die seither von der conditio humana nicht zu tren-nen sind. Der Prometheus-Mythos enthält eine so klare Moral, daß sie für Hesiod keiner Erläuterung bedarf; es genügt, die Erzählung für sich spre-chen zu lassen: Nach dem Willen des Zeus, der, um den Diebstahl des Feuers zu rächen, dem Menschen sein Leben – das heißt seine Nahrung – verbarg, sind die Menschen fortan zur Arbeit verdammt; sie müssen sich diesem har-ten göttlichen Gesetz fügen und dürfen es an Mühe und Anstrengung nicht fehlen lassen. Aus dem Mythos der Geschlechter zieht Hesiod eine Lehre, die er insbesondere seinem Bruder Perses, einem armen Teufel, erteilt; sie gilt aber auch den Großen der Erde, denjenigen, deren Aufgabe es ist, Strei-tigkeiten durch Schiedsspruch zu regeln, den Königen. Diese Lektion faßt Hesiod in der Formel zusammen: Höre auf Díke, die Gerechtigkeit; nähre nicht Hýbris, die Vermessenheit.2 Hält man sich jedoch an die gängige Deu-tung des Mythos, ist eigentlich nicht recht zu sehen, inwiefern er eine der-artige Lehre enthält.

Tatsächlich erzählt die Geschichte die Abfolge der verschiedenen Men-schengeschlechter, die uns auf der Erde vorangegangen sind, die eines nach dem anderen auftraten und wieder verschwanden. Inwiefern ist eine solche Erzählung geeignet, zur Gerechtigkeit zu ermahnen? Sämtliche Geschlech-ter, die besten wie die schlimmsten, mußten gleichermaßen, wenn der Tag gekommen war, das Licht der Sonne verlassen. Und unter denen, die die Menschen ehrfürchtig im Gedächtnis bewahren, seit die Erde sie wieder bedeckt, sind auch solche, die sich im Leben durch eine abscheuliche Hýbris

1 in: Revue de l’histoire des religions, 1960, s. 21–54.2 hesiod, Werke und Tage, 213 (Theogonie / Werke und Tage. Griechisch-deutsch, übersetzt von Albert von schirnding, düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 32002). Über die stellung und die bedeutung der beiden Mythen im Ganzen des epos vgl. Paul Mazon, »hésiode: la composition des travaux et des Jours«, in: Revue des Études anciennes 14, 1912, s. 328–357.

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22 Strukturen des Mythos

hervortaten.3 Zudem scheinen die Geschlechter einander gemäß einer Ord-nung des fortschreitenden und stetigen Niedergangs abzulösen. In der Tat ähneln sie den Metallen, deren Namen sie tragen und deren Hierarchie vom Edleren zum weniger Edlen, vom Höheren zum Niederen verläuft: an erster Stelle das Gold, dann das Silber, die Bronze und schließlich das Eisen. Der Mythos scheint somit einer Götterwelt, in der seit dem Sieg des Zeus die Ordnung unveränderlich festgelegt ist, eine Menschenwelt entgegenstellen zu wollen, in welche nach und nach die Unordnung einzieht, eine Welt, die schließlich ganz und gar in Ungerechtigkeit, Unglück und Tod versinkt.4 Doch dieses Bild einer Menschheit, die einem fatalen und unumkehrbaren Verfall geweiht ist, scheint kaum geeignet, Perses oder die Könige von den Tugenden der Díke und von den Gefahren der Hýbris zu überzeugen.

Diese erste Schwierigkeit hinsichtlich der Beziehungen zwischen dem Mythos, wie er uns erscheint, und der Bedeutung, die Hesiod seinem Epos beilegt, verdoppelt sich um eine zweite, die die Struktur des Mythos selbst berührt. Die Geschlechter des goldenen, silbernen, bronzenen (ehernen) und eisernen Zeitalters ergänzt Hesiod um ein fünftes, das der Heroen, das keine metallische Entsprechung mehr hat. Eingefügt zwischen die bronze-nen und die eisernen Generationen zerstört es den Parallelismus zwischen Geschlechtern und Metallen; darüber hinaus unterbricht es die Stetigkeit des Niedergangs, die durch eine Stufenleiter von Metallen mit regelmäßig abnehmendem Wert symbolisiert wird: Tatsächlich vermerkt der Mythos, daß das Geschlecht der Heroen dem bronzenen, das ihm voranging, überle-gen sei.5

Angesichts dieser Anomalie notierte Erwin Rohde, Hesiod müsse mäch-tige Motive gehabt haben, um in die Architektur der Erzählung ein Element einzufügen, das dem ursprünglichen Mythos offenkundig fremd ist und des-sen Einschaltung das logische Schema des Mythos zu zerbrechen scheint.6 Ihm fiel auf, daß das eigentliche Interesse Hesiods im Fall der Heroen nicht ihrer irdischen Existenz, sondern ihrem postumen Geschick gilt. Zu jedem der anderen vorangegangenen Geschlechter gibt Hesiod an, wie dessen Leben auf Erden beschaffen war und was aus ihm wurde, nachdem es das Licht der Sonne verlassen mußte. Dem Mythos ginge es demnach um zweierlei:

3 das ist der Fall des silbernen Geschlechts; vgl. Werke und Tage, 143.4 Vgl. René Schaerer, L’homme antique et la structure du monde intérieur d’Homère à Socrate, Paris: Payot 1958, S. 77–80.5 Werke und Tage, 158.6 erwin rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2 bde., nachdruck der 2. Auflage (1898) in einem band: darmstadt: Wissenschaftliche buchgesellschaft 1980, bd. 1, s. 93 ff.

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Der Hesiodsche Mythos der Geschlechter 23

Zunächst führt er den zunehmenden moralischen Verfall der Menschheit vor Augen; sodann verkündet er ihr dann das Schicksal der aufeinander-folgenden Generationen nach dem Tode. Das Auftreten der Heroen neben den anderen Geschlechtern mag im Hinblick auf das erste Ziel verfehlt sein, erhält jedoch seine volle Rechtfertigung hinsichtlich des zweiten. Im Falle der Heroen wäre die Nebenabsicht zur zentralen geworden.

Ausgehend von diesen Beobachtungen schlägt Victor Goldschmidt eine weiterreichende Erklärung vor.7 Das Schicksal der metallischen Geschlechter nach ihrem Verschwinden aus dem irdischen Leben besteht diesem Autor zufolge in einer »Beförderung« in den Rang göttlicher Mächte. Die Menschen der goldenen und der silbernen Ära werden nach ihrem Tod zu Geistern (daí-mones); die des bronzenen Geschlechts bilden das Totenvolk im Hades. Ein-zig die Heroen brauchen nicht in den Genuß einer Transformation zu kom-men, die ihnen nur bringen könnte, was sie schon besitzen: Heroen sind sie, Heroen bleiben sie. Doch ihre Einbettung in die Erzählung wird erklärlich, wenn man beachtet, daß ihre Präsenz unentbehrlich ist, um das Tableau der göttlichen Wesen zu vervollständigen, das gemäß der traditionellen Klas-sifikation neben den theoí  – den eigentlichen Göttern, die in dem Bericht unerwähnt bleiben  – die folgenden Kategorien unterscheidet: Dämonen, Heroen, Tote.8 Hesiod hätte demnach seine mythische Erzählung ausgear-beitet, indem er zwei verschiedene, ursprünglich wohl voneinander unab-hängige Traditionen zusammenführte und die eine der anderen anpaßte: einerseits einen genealogischen Mythos der Geschlechter, bezogen auf eine Symbolik der Metalle, die vom moralischen Verfall der Menschheit erzählt; andererseits eine strukturale Unterteilung der Götterwelt, für die es eine Erklärung zu liefern galt, eine Erklärung, für die er das primitive mythische Schema revidieren mußte, um Platz für die Heroen zu schaffen. Der Mythos der Zeitalter würde uns demnach das älteste Beispiel einer Versöhnung des Aspekts der Genese mit dem der Struktur liefern, eines Versuchs, Punkt für Punkt die Stadien einer zeitlichen Serie und die Elemente einer dauerhaften Struktur in Entsprechung zu setzen.9

Die Interpretation von Victor Goldschmidt hat das große Verdienst, die Einheit und innere Kohärenz des Hesiodschen Mythos der Menschenge-schlechter zu betonen. Der These, daß die Erzählung in ihrer ursprünglichen Form das Geschlecht der Heroen nicht einschloß, wird man gern zustimmen

7 Victor Goldschmidt, »Theologia«, in: Revue des études grecques 63, 1950, s. 33–39.8 Zu dieser klassifikation vgl. Armand delatte, Études sur la littérature pythagoricienne, Paris: e. champion 1915, s. 48; Goldschmidt, »Theologia«, a. a. o., s. 30 ff.9 Goldschmidt, »Theologia«, a. a. o., s. 37, Anm. 1.

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können.10 Hesiod hat jedoch das mythische Thema insgesamt aus der Per-spektive seiner eigenen Besorgnisse neu durchdacht. Wir müssen also die Erzählung so nehmen, wie sie sich in Werke und Tage präsentiert, und uns fragen, welche Bedeutung sie in dieser Form hat.

In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung vorauszuschicken. Man kann im Falle Hesiods nicht von einer Antinomie zwischen genetischem Mythos und strukturaler Unterteilung sprechen. Für das mythische Denken ist jede Genealogie ebensowohl und ebensogut die Entfaltung einer Struktur, und es gibt keine andere Weise, von einer Struktur Rechenschaft zu geben, als sie in der Form einer genealogischen Erzählung darzustellen.11 Der Mythos der Zeitalter bildet in keinem seiner Teile eine Ausnahme von dieser Regel. Und die Ordnung, nach der die Geschlechter auf der Erde einander ablö-sen, ist strenggenommen keine chronologische. Wie könnte es anders sein? Hesiod verfügt nicht über den Begriff einer einzigen und homogenen Zeit, in der die verschiedenen Geschlechter einen definitiven Platz einnähmen. Jedes Geschlecht hat seine eigene Zeitlichkeit, jedes verfügt über seine Epo-che, die seine besondere Natur zum Ausdruck bringt und die – ebenso wie seine Lebensweise, seine Tätigkeiten, seine Vorzüge und Mängel – seine Stel-lung definiert und es den anderen Geschlechtern gegenüberstellt.12 Wenn das goldene Geschlecht als »das erste« bezeichnet wird, heißt das nicht, daß es eines schönen Tages vor den übrigen in einer linearen und unumkehrba-ren Zeit erschienen wäre. Im Gegenteil, wenn Hesiod es an der Spitze seiner Erzählung auftreten läßt, so deshalb, weil es – symbolisiert durch das Gold – Tugenden verkörpert, die den höchsten Punkt einer Stufenleiter zeitloser Werte einnehmen. Die Abfolge der Geschlechter in der Zeit reproduziert eine dauerhafte hierarchische Ordnung des Weltalls. Was die Konzeption eines

10 Zugegeben sei auch, daß der Mythos ursprünglich nur drei oder vier Geschlechter umfaßte. Vgl. hingegen die Vorbehalte Paul Mazons, der an eine gänzlich eigenständige schöpfung hesiods glaubt (»hésiode: la composition des travaux et des Jours«, a. a. o., s. 339), und Martin P. nilssons Geschichte der griechischen Religion, bd. 1, München: beck 21955, s. 622. das Thema eines goldenen Zeitalters, von Menschheiten, die nacheinander von den Göttern vernichtet wurden, ist wohl orientalischen ursprungs. siehe zu diesem Punkt die diskussion zwischen J. G. Griffiths und h. c. baldry in: Journal of the History of Ideas 17, 1956, s. 109–119 und s. 533–554, sowie 19, 1958, s. 91–93.11 in der Theogonie dienen die Generationen von Göttern und die kosmogonischen Mythen dazu, die organisation des kosmos zu begründen; sie erklären die trennung der kosmischen ebenen (himmlische, unterirdische, irdische Welt) sowie die Verteilung und das Gleichgewicht der verschiedenen elemente, die das universum ausmachen.12 die Zeitalter unterscheiden sich nicht nur durch eine längere oder kürzere Lebensdauer; ihre zeitlichen eigenschaften, der rhythmus des Zeitablaufs und die richtung des Zeitflusses sind nicht dieselben; vgl. unten, s. 43–45.

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Der Hesiodsche Mythos der Geschlechter 25

fortschreitenden und ständigen Niedergangs angeht, welche die Kommen-tatoren einmütig in dem Mythos erkennen wollen,13 so ist sie nicht nur mit der Episode der Heroen unvereinbar (man wird kaum annehmen, daß dies Hesiod entgangen wäre), sie paßt auch nicht zu dem Begriff einer Zeit, die bei Hesiod nicht linear, sondern zyklisch ist. Die Zeitalter folgen einander, um einen vollständigen Kreis zu bilden, der – einmal vollendet – von neuem beginnt, sei es in derselben oder – wie im Platonischen Mythos im Politikos – in umgekehrter Reihenfolge, derart, daß die kosmische Zeit abwechselnd in der einen und dann in der anderen Richtung verläuft.14 Hesiod klagt darüber, selbst dem fünften und letzten Geschlecht anzugehören, dem eisernen; bei dieser Gelegenheit drückt er das Bedauern aus, nicht früher gestorben oder später geboren zu sein,15 eine Bemerkung, die in der Perspektive einer ständig zum Schlechteren hin strebenden menschlichen Zeit unverständlich wäre, die sich aber klärt, wenn man annimmt, daß die Serie der Zeitalter – ebenso wie die Folge der Jahreszeiten – einen erneuerbaren Zyklus bildet.

Im Rahmen dieses Zyklus scheint die Sukzession der Geschlechter – nicht nur im Fall der Heroen – keineswegs einer Ordnung des beständigen Nieder-gangs zu folgen. Das dritte Geschlecht ist nicht »schlechter« als das zweite, und Hesiod sagt nichts dergleichen.16 Der Text charakterisiert die Menschen des silbernen Geschlechts durch ihre Maßlosigkeit und ihre mangelnde Ehr-erbietung gegenüber den Göttern, die des bronzenen Geschlechts durch ihre vermessenen Werke.17 Worin hier ein Fortschritt des Niedergangs liegen soll, ist kaum zu erkennen. Ja, es ist gerade das silberne Menschengeschlecht, dessen Makel den göttlichen Zorn erregen und das Zeus seiner Frevel wegen vernichtet. Die bronzenen Menschen sterben, wie die Heroen, im Getümmel des Krieges. Wenn Hesiod einen Wertunterschied zwischen zwei Geschlech-tern festhalten will, formuliert er ihn ausdrücklich und immer in gleicher Weise: Die beiden stehen einander gegenüber wie Díke zu Hýbris. Ein solcher Kontrast wird einerseits zwischen dem ersten und dem zweiten, andererseits zwischen dem dritten und dem vierten Geschlecht betont. Genauer gesagt,

13 Vgl. Friedrich solmsen, Hesiod and Aeschylus, ithaca, ny: cornell university Press 1949, s. 83, Anm. 27.14 Platon, Politikos, 269c ff. (übersetzt von Friedrich schleiermacher, in: Sämtliche Werke. Griechisch und deutsch, hg. von karlheinz hülser, Frankfurt am Main und Leipzig: insel 1992, bd. Vii; dieser Ausgabe folgen alle Platon-Zitate in diesem band). Mehrere Merkmale des Mythos im Politikos erinnern an den Mythos der Geschlechter.15 Hesiod, Werke und Tage, 175.16 im Gegensatz zu der behauptung Friedrich solmsens, der schreibt: »The third generation […] has travelled much farther on the road of Hýbris than the second.« trotz des Verweises auf die Verse 143–147 ist diese behauptung unbegründet.17 Vgl. Werke und Tage, 134 ff. mit 145 f.

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verhält sich unter dem Gesichtspunkt des »Wertes« das erste zum zweiten wie das vierte zum dritten. In der Tat erläutert Hesiod, das silberne Geschlecht sei »ein viel geringeres« gegenüber dem goldenen  – wobei diese Unterle-genheit in einer Hýbris besteht, von der die ersten Menschen vollkommen frei sind;18 zudem erklärt er, die Heroen seien »gerechter und besser« als das bronzene Geschlecht, das ebenfalls der Hýbris verfallen ist.19 Hingegen stellt er zwischen dem zweiten und dem dritten Geschlecht keinerlei Wert-vergleich an; von dem bronzenen heißt es ganz einfach, es sei dem silbernen »ungleich«.20 Was die Verhältnisse zwischen den ersten vier Geschlechtern angeht, legt der Text also die folgende Struktur nahe: Es werden zwei Ebenen unterschieden, Gold und Silber einerseits, Bronze und Heroen andererseits. Jede Ebene, nach zwei gegensätzlichen Gesichtspunkten unterschieden, einem positiven und einem negativen, weist somit zwei miteinander ver-bundene, notwendig komplementäre Geschlechter auf, die jeweils wie Díke und Hýbris kontrastieren.21

Was die Ebene der ersten beiden Menschengeschlechter von der der beiden folgenden unterscheidet, ist  – wie wir sehen werden  – ihr Bezug auf unterschiedliche Funktionen; sie repräsentieren Typen menschlicher Akteure, Handlungsformen und soziale und »psychologische« Positionen, die jeweils in Opposition zueinander stehen. Wir werden diese verschie-denen Elemente präzisieren müssen, doch man kann sogleich eine erste Asymmetrie festhalten. Auf der ersten Ebene ist es Díke, die den domi-nanten Wert ausmacht: sie steht am Beginn; die Hýbris ist sekundär und bildet das Gegenstück. Auf der zweiten Ebene verhält es sich umgekehrt: der Hýbris-Aspekt steht im Vordergrund. Obwohl also die beiden Ebenen in gleicher Weise einen gerechten und einen ungerechten Aspekt umfassen, kann man sagen, daß sie zusammengenommen in Gegensatz zueinander stehen wie Díke zu Hýbris. Genau dies erklärt das unterschiedliche Schick-sal, das nach dem Tode die ersten beiden Geschlechter den beiden folgen-den gegenüberstellt. Die Menschen des goldenen und silbernen Geschlechts erfahren gleichermaßen eine echte Beförderung: Aus vergänglichen Men-schen werden sie zu daímones, »Geistern«. Die Komplementarität, die sie in

18 ebd., 127.19 ebd., 158.20 ebd., 144.21 eduard Meyer hat das band zwischen dem goldenen und silbernen Geschlecht einerseits, zwischen dem bronzenen und dem heroengeschlecht andererseits wohl erkannt. doch er inter-pretiert dieses band im sinne einer Filiation: im ersten Falle als Verfall, im zweiten als Verfeine-rung; vgl. »hesiods erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern«, in: Genethliakon. Carl Robert zum 8. März 1910 (Festschrift), berlin: Weidmann 1910, s. 131–165.

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der Gegenüberstellung verbindet, prägt sich im Jenseits ebenso wie in ihrer irdischen Existenz aus: Die ersten werden zu epichthonischen, die zweiten zu hypochthonischen Geistern.22 Die Menschen erweisen ihnen, den einen wie den anderen, »Ehre«: königliche (basíleion) den einen, geringere Ehre den anderen, weil sie »zweiten Ranges« sind, aber doch Ehre, die sich nicht mit Tugenden oder Verdiensten rechtfertigen läßt – die die Menschen des silbernen Geschlechts gar nicht haben  –, sondern einzig mit ihrer Zuge-hörigkeit zu derselben Realitätsebene wie die Menschen des goldenen Zeitalters: damit, daß sie – wenngleich unter negativem Aspekt – dieselbe Funktion repräsentieren. Ganz anders das postume Schicksal des bronze-nen Menschengeschlechts und der Heroen. Keines von beiden erfährt, als Geschlecht, eine Beförderung. Denn als solche läßt sich das gänzlich banale Schicksal der bronzenen Menschen nicht bezeichnen: Im Kriege gefallen, werden sie im Hades zu »namenlos[en]« Toten.23 Die Mehrzahl derer, die das Heroengeschlecht ausmachen, teilt dieses gewöhnliche Schicksal. Nur ein paar Privilegierte dieses gerechteren Geschlechts entgehen der gewöhnli-chen Anonymität des Todes und bewahren dank der Gnade des Zeus, der sie mit diesem besonderen Vorzug belohnt, einen Namen und eine individuelle Existenz im Jenseits: Auf die Inseln der Seligen versetzt, führen sie ein von allen Sorgen unbelastetes Leben.24 Doch sind sie nicht Gegenstand irgendei-ner Verehrung, irgendeiner Ehrung von seiten der Menschen. Rohde hat mit Recht die »vollständige Abgeschiedenheit« ihres Aufenthalts in einer Welt, die der unseren entrückt zu sein scheint, hervorgehoben.25 Im Gegensatz zu den daímones haben die toten Heroen keine Macht über die Lebenden, und die Lebenden erweisen ihnen keinerlei Ehre.

Diese sehr deutlich markierten Symmetrien zeigen, daß in der Hesiod-schen Fassung des Mythos das Geschlecht der Heroen nicht etwa ein schlecht integriertes Element darstellt, das die Architektur der Erzählung verböge, sondern einen wesentlichen Bestandteil, ohne den das Gleichge-wicht des Ganzen zerbräche. Hingegen scheint das fünfte Geschlecht ein

22 Vgl. 123 und 141: §pixyÒnioi und ÊpoxyÒnioi.23 ebd., 154: n⋲numnoi.24 die symmetrie zwischen dem postumen schicksal des bronzenen und des heroischen Menschengeschlechts ist nicht geringer als die zwischen dem schicksal des goldenen und silbernen. die bronzenen Menschen verschwinden im tod, ohne einen namen zu hinterlassen; die heroen setzen ihr Leben auf der insel der seligen fort, und ihre namen, von den dichtern gerühmt, überleben auf immer im Gedächtnis der Menschen. die ersten verschwinden in der nacht und im Vergessen; die zweiten gehören zum bereich des Lichts und des Gedenkens (vgl. Pindar, Olympische Oden, ii, 109 ff.25 Rohde, Psyche, a. a. O., Bd. 1, S. 105.

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Problem aufzuwerfen: Es führt eine neue Dimension ein, eine dritte Rea-litätsebene, die sich im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden nicht in zwei antithetische Aspekte verdoppelt, sondern sich in Gestalt eines ein-zigen Geschlechts darstellt. Der Text zeigt jedoch, daß es in Wirklichkeit nicht ein eisernes Zeitalter gibt, sondern zwei Typen menschlicher Existenz, die einander strikt entgegengesetzt sind und von denen der eine der Díke den gebührenden Platz einräumt, während der andere nichts als die Hýbris kennt. Tatsächlich lebt Hesiod in einer Welt, in der die Menschen jung geboren werden und alt sterben, in der es »natürliche« Gesetze gibt (das Kind ähnelt dem Vater) und »sittliche« (man muß den Gast, die Eltern, den Eid achten und ehren). Sie kündigt das Kommen eines anderen Lebens an, das in allen Punkten das Gegenteil des ersten sein wird26 – die Menschen werden mit grauen Schläfen geboren, das Kind wird keine Ähnlichkeit mit seinem Vater haben, man wird weder Freunde noch Brüder, noch Eltern oder Eidestreue kennen; einzig das Faustrecht wird gelten, und diese Welt der Unordnung und der Hýbris wird dem Menschen für seine Leiden keinen Ausgleich mehr bieten. Man sieht also, wie die Episode des eisernen Zeital-ters in ihren beiden Aspekten an die vorhergegangenen Themen anknüpfen kann, um die Gesamtstruktur des Mythos zu vervollständigen. Während die erste Ebene im engeren Sinne das Walten der Díke betraf (in den Beziehun-gen der Menschen untereinander und zu den Göttern), die zweite Ebene die Manifestation der physischen Kraft, der körperlichen Gewalt, die mit der Hýbris verbunden sind, bezieht sich die dritte auf eine ambivalente menschliche Welt, die durch das Nebeneinander von Gegensätzlichem defi-niert ist. In ihr hat alles Gute sein komplementäres Übel: Männliches und Weibliches, Geburt und Tod, Jugend und Alter, Überfluß und Mühe, Glück und Unglück bedingen einander, sind voneinander untrennbar. Díke und Hýbris, nebeneinander präsent, bieten dem Menschen zwei gleichermaßen mögliche Optionen, zwischen denen er wählen muß. Diesem Universum der Vermischung, das Hesiods eigene Welt ist, setzt der Dichter die erschrek-kende Aussicht auf ein menschliches Leben entgegen, in dem die Hýbris völlig triumphiert, eine verkehrte Welt, in der es nur noch pure Unordnung und pures Unglück gibt.

Der Zyklus der Zeitalter würde sich damit schließen, und die Zeit hätte nur noch in umgekehrter Richtung zurückzulaufen. Im goldenen Zeitalter war alles Ordnung, Gerechtigkeit und Glück: Es war die Herrschaft der reinen Díke. Am Ende des Zyklus, im späten eisernen Zeitalter, wird alles der Unord-nung, der Gewalt und dem Tod ausgeliefert sein: Es wird die Herrschaft der

26 Vgl. Werke und Tage, 184: nichts wird so sein, »wie’s früher gewesen«, …w tÚ pãrow per.

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reinen Hýbris sein. Die Reihe der Zeitalter von einer Herrschaft zur ande-ren ist nicht durch fortschreitenden Niedergang gekennzeichnet. Anstelle einer kontinuierlichen zeitlichen Folge gibt es alternierende Phasen, die in Oppositions- und Komplementaritätsbeziehungen zueinander stehen. Die Zeit verläuft nicht in chronologischer Sukzession, sondern folgt den dialek-tischen Beziehungen eines Systems von Antinomien, deren Korrespondenz mit bestimmten dauerhaften Strukturen der menschlichen Gesellschaft und der Götterwelt wir noch herausarbeiten müssen.

Die Menschen des goldenen Zeitalters sind unzweideutig königlichen Geschlechts (basilées), die außerhalb des Bereichs der Souveränität keiner-lei Tätigkeit kennen. Tatsächlich sind es zwei Merkmale, die ex negativo ihre Lebensweise definieren: Sie kennen den Krieg nicht und leben friedlich, »still« (¥suxoi)27 – was sie in Gegensatz zu den Menschen des bronzenen Geschlechts und zu den Heroen bringt, die zum Kampf bestimmt sind. Sie kennen auch nicht die Arbeit; der Acker trägt »unbestellt« Güter in Fülle28 – was sie diesmal den Menschen des eisernen Geschlechts entgegensetzt, deren Existenz der Mühsal (pónos) geweiht ist und die gezwungen sind, den Boden zu bebauen, um für ihre Ernährung zu sorgen.29

Das Gold, dessen Namen das Geschlecht trägt, ist – wie man gezeigt hat – selbst ein königliches Symbol.30 In der platonischen Version des Mythos hebt es unter den verschiedenen Arten von Menschen diejenigen heraus, die zum Herrschen (árchein) bestimmt sind.31 Die Epoche des goldenen Geschlechts fällt in die Zeit, in der Kronos im Himmel herrschte, §mbas¤leuen.32 Kro-nos ist ein souveräner Gott, der mit der Königsfunktion in Beziehung steht: In Olympia opferte ihm ein Priesterkolleg alljährlich zur Frühlings-Tag-undnachtgleiche auf dem Gipfel des Berges Kronos; diese Priester nannten sich die Königlichen (basilaí).33 Schließlich ist es ein königliches Vorrecht (basíleion géras), das den Menschen des goldenen Geschlechts nach seinem

27 Ebd., 119.28 ebd., 118 f.; man beachte den Ausdruck: aÈtomãth.29 Man vergleiche das bild des menschlichen Lebens im eisernen Zeitalter (176–178) mit dem, das der Prometheus-Mythos (42–48 und 94–105) präsentiert.30 Vgl. F. daumas, »La valeur de l’or dans la pensée égyptienne«, in: Revue de l’histoire des religions 149, 1956, s. 1–18; e. cassin, »Le ›Pesant d’or‹«, in: Rivista degli studi orientali 32, 1957, s. 3–11. Über die korrespondenzen zwischen Gold, sonne und könig vgl. Pindar, Olympische Oden, i, 1 ff.31 Platon, Politeia, iii, 413c–414 b.32 Werke und Tage, 111.33 Pausanias, Reisen in Griechenland, Vi, 20, 1.

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Untergang zufällt; sie werden in epichthonische Geister verwandelt.34 Der Ausdruck basíleion géras erhält seinen ganzen Wert, wenn man beachtet, daß diese Geister im Jenseits die beiden Aufgaben übernehmen, in denen sich der magisch-religiösen Konzeption des Königtums zufolge die wohltätige Kraft des guten Königs zeigt: Als phylakés,35 Wächter und Hüter der Men-schen, wachen sie über die Befolgung der Gesetze; als ploutodótai, Spender von Reichtum, fördern sie die Fruchtbarkeit des Bodens und der Herden.36

Im übrigen wendet Hesiod dieselben Ausdrücke, dieselben Formeln und sogar dieselben Wörter, die die Menschen des einstigen goldenen Geschlechts definieren, auch auf den gerechten König der gegenwärtigen Welt an. Die Menschen des goldenen Geschlechts leben »wie Götter«, Õw yeo¤;37 und zu Beginn der Theogonie wird der gerechte König, wenn er in der Versammlung auftritt – im Begriff, Streitigkeiten zu schlichten, Vermessenheit durch die Sanftheit seiner weisen Worte zu beenden – von allen yeÚw Õw begrüßt, wie ein Gott.38 Dieses Bild von friedlichen Festtagen und reichlichem Mahl in einer Fülle, die eine von jeder Befleckung freie Erde freigebig spendet, wie-derholt sich:39 Beim ersten Mal wird die glückliche Existenz der Menschen des goldenen Zeitalters beschrieben, beim zweiten das Leben in der Stadt, die unter der Herrschaft des gerechten und frommen Königs in dauerndem

34 Werke und Tage, 126.35 ebd., 123; vgl. kallimachos, Hymnus an Zeus, 79–81: die könige stammen von Zeus ab, sie werden von Zeus als »hüter der stadt« eingesetzt; bei Platon (Politeia 413c ff.) werden die »goldenen« Menschen, die zum befehlen bestimmt sind, phylakés genannt. der Ausdruck »hüter« wird bei diesem Autor bald auf die kategorie der herrschenden in ihrer Gesamtheit, bald im engeren sinne auf diejenigen angewandt, die mit der militärischen Funktion betraut sind. diese spezialisierung ist verständlich: die könige sind phylakés, insofern sie im namen des Zeus über ihr Volk wachen; die krieger erfüllen im namen des königs die gleiche Funktion.36 Werke und Tage, 126. die mit der königsfunktion verbundenen epichthonischen Geister über-nehmen hier eine rolle, die normalerweise weiblichen Gottheiten zukommt, etwa den chariten. diese Gottheiten, von denen die Fruchtbarkeit oder im Gegenteil die unfruchtbarkeit der erde abhängt, sind ambivalente Mächte. ihre Lichtseite zeigt sie als chariten, ihre nachtseite als erinyen (vgl., abgesehen von den Eumeniden, Pausanias, Reisen in Griechenland, Viii, 34, 1 ff.). die gleiche Ambiguität ließe sich in den Verhältnissen zwischen den epichthonischen und den hypochthonischen Geistern wiederfinden. sie repräsentieren die beiden Aspekte, den positiven und den negativen, der Wirkung des königs auf die Fruchtbarkeit des bodens. die Mächte, welche die Fähigkeit besitzen, die Fruchtbarkeit zu fördern oder zu hemmen, zeigen sich auf zwei ebenen: auf der ebene der dritten Funktion, naheliegenderweise in Gestalt weiblicher Gott-heiten, aber auch auf der ebene der ersten Funktion, insoweit sich diese auf die dritte auswirkt, doch nun in Gestalt männlicher Geister.37 Werke und Tage, 112.38 Theogonie, 91.39 Werke und Tage, 114 ff.; 225 ff.

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Der Hesiodsche Mythos der Geschlechter 31

Wohlstand erblüht. Dort aber, wo der basileús vergißt, daß er ein »Sproß des Zeus« ist und, ohne die Götter zu fürchten, Verrat übt an der Funktion, die sein sképtron symbolisiert, indem er sich durch Hýbris von den geraden Wegen der Díke entfernt, erlebt die Stadt nichts als Unheil, Zerstörung und Hunger.40 Denn es mischen sich ja, nahe den Königen, dreißigtausend unsichtbare Unsterbliche unter die Menschen, die im Namen von Zeus über die Gerech-tigkeit und Gottesfurcht der Herrscher wachen. Kein einziger Verstoß der Könige gegen die Díke, der nicht früher oder später durch ihre Vermittlung bestraft würde. Doch wie sollte man in den Myriaden von Unsterblichen, die – wie uns der Dichter in Vers 252 sagt – §p‹ xyon‹ … fÊlakew ynht«n ényr⋲pvn sind, nicht die daímones des goldenen Geschlechts sehen, wie sie in Vers 122 definiert werden: §pixyÒnioi, fÊlakew ynet«n ényr⋲pvn?

So projiziert sich die Gestalt des Guten Souveräns auf drei Ebenen gleich-zeitig: In einer mythischen Vergangenheit liefert sie das Bild der primitiven Menschheit im goldenen Zeitalter; in der gegenwärtigen Gesellschaft ver-körpert sie sich in der Gestalt des gerechten und gottesfürchtigen Königs; in der übernatürlichen Welt stellt sie eine Kategorie von Geistern dar, die in Zeus’ Namen über die ordnungsgemäße Ausübung der Königsfunktion wachen.

Das Silber besitzt keinen eigenen symbolischen Wert. Es definiert sich im Verhältnis zum Gold: als Edelmetall wie das Gold, jedoch von geringerem Wert.41 Ebenso existiert und definiert sich das silberne Geschlecht, dem ihm vorausgehenden an Wert unterlegen, nur im Verhältnis zu diesem: Auf derselben Ebene wie das goldene Geschlecht bildet es dessen genaues Gegenstück, seine Kehrseite. Der gottesfürchtigen Souveränität stellt sich die gottlose Souveränität entgegen, der Gestalt des Königs, der die Díke achtet, die des Königs, der sich der Hýbris überläßt. Was die Menschen des silbernen Geschlechts ins Verderben führt, ist in der Tat ihre »Maßlosigkeit […] ohne Vernunft«, Ïbrin étãsyalon, auf die sie untereinander und in ihrem Verhältnis zu den Göttern nicht verzichten können.42 Diese Hýbris, die sie charakterisiert, überschreitet nicht die Ebene der Souveränität. Sie hat nichts mit der kriegerischen Hýbris zu tun. Den Menschen des silber-nen Geschlechts – ebenso wie denen des goldenen – bleiben die Werke der Krieger fremd, die sie sowenig betreffen wie die Feldarbeit. Ihre Vermes-

40 ebd., 238 ff. – das gleiche Thema in der Ilias, XVi, 386. Zum Verhältnis zwischen Zeus, dem sképtron und den königen, die »Gerechtigkeit walten lassen«, vgl. Ilias, i, 234; iX, 98.41 Vgl. hipponax, fr. 38 (o. Masson) = fr. 34–35 (diehl): »Vater Zeus, könig der Götter (ye«n pãlmu), warum hast du mir nicht Gold gegeben, könig des silbers (érgÊrou pãlmun)?«42 Werke und Tage, 134.

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senheit zeigt sich einzig auf religiösem und theologischem Gebiet.43 Sie weigern sich, den olympischen Göttern zu opfern, und so wie sie unterein-ander die adikía praktizieren, wollen sie die Herrschaft des Zeus, des Herrn der Díke, nicht anerkennen. Bei den königlichen Geschlechtern nimmt die Hýbris natürlich die Form gottloser Frevel an. In dem Bild, das er vom ungerechten König zeichnet, hebt Hesiod entsprechend hervor, daß dieser das Recht verbiegt und den Menschen unterdrückt, weil er die Götter nicht fürchtet.44

Da es die Götter nicht achtet, wird das silberne Menschengeschlecht von Zeus im Zorn vernichtet; doch als Gegenstück des goldenen Geschlechts kommt es nach seiner Bestrafung in den Genuß analoger Ehren. Die funktio-nelle Zusammengehörigkeit beider Geschlechter bleibt über den Tod hinaus durch den bereits hervorgehobenen Parallelismus zwischen epichthonischen und hypochthonischen Geistern erhalten. Andererseits weisen die Menschen des silbernen Geschlechts sehr verblüffende Analogien mit einer weiteren Kategorie mythischer Personen auf, mit den Titanen:45 gleicher Charak-ter, gleiche Funktion, gleiches Schicksal. Die Titanen sind Gottheiten der Hýbris. Der verstümmelte Uranos wirft ihnen ihren hochmütigen Wahn vor, étasyali˙, und Hesiod selbst bezeichnet sie als frech, ÍperyÊmoi.46 Diese Hochmütigen sind zur Macht berufen. Sie sind Anwärter auf die Souverä-nität. Sie treten mit Zeus in Wettstreit um die arché und die dynasteía des Weltalls.47 Ein natürlicher, wenn nicht legitimer Anspruch: Die Titanen sind königlichen Geschlechts. Hesychios bringt Titãn mit T¤taj, König, und mit TitÆnh, Königin, in Verbindung. Gegenüber der Souveränität der Ordnung, die von Zeus und den Olympiern repräsentiert wird, verkörpern die Titanen die Souveränität der Unordnung und der Hýbris. Als Besiegte müssen sie, wie die Menschen des silbernen Geschlechts, das Licht des Tages verlassen; nach ihrem Sturz aus himmlischer Höhe – ja sogar tief unter die Erde verbannt – verschwinden auch sie ÍpÚ xyonÒw.48

43 unter Verweis auf eine Vorlesung Georges dumézils an der École des hautes-Études (1946–1947) schreibt Francis Vian in einer Anmerkung zu dem zweiten hesiodschen Geschlecht: »es ist gekennzeichnet durch Vermessenheit und Gottlosigkeit, unter einem theologischen und nicht militärischen Gesichtspunkt betrachtet.« La guerre de Géants. Le mythe avant l’époque hellénistique, Paris: klincksieck 1952, s. 183, Anm. 2.44 Werke und Tage, 261.45 Vgl. Mazon, »hésiode: la composition des travaux et des Jours«, a. a. o., s. 339, Anm. 3.46 Theogonie, 209; in Verbindung mit Werke und Tage, 134, und Theogonie, 719.47 ebd., 881–885; Apollodor, Bibliotheke, ii, 1 (deutsch: Götter- und Heldensagen. Griechisch und deutsch, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul dräger, düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler 2005).48 Theogonie, 717; vgl. auch 697.

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Der Hesiodsche Mythos der Geschlechter 33

So bekräftigt sich der Parallelismus des goldenen und des silbernen Geschlechts nicht nur in der Präsenz des Königs der Hýbris in jedem der drei Bereiche, in die sich die Figur des gerechten Königs, seines Doppelgängers, projizierte. Bestätigung findet dieser Parallelismus zudem in der genauen Entsprechung zwischen goldenem und silbernem Geschlecht einerseits, Zeus und den Titanen andererseits. Es ist die Struktur der Hesiodschen Souveränitätsmythen selbst, die wir in der Erzählung von den ersten beiden Menschheitszeitaltern wiederfinden.

Das bronzene Geschlecht führt uns in eine andere Handlungssphäre. Grei-fen wir die Formulierungen Hesiods auf: »eschenentsprossen und wild und strotzend vor Kraft. Sie betrieben / grausige Werke des Ares, vermessen […]«.49 Deutlicher könnte man nicht ausdrücken, daß die Vermessenheit der bronzenen Menschen sie dem silbernen Geschlecht nicht etwa annähert, sondern von ihm entfernt: Ihre Hýbris ist eine ausschließlich militärische, sie charakterisiert das Verhalten des Kriegers. Von der juridisch-religiösen Ebene sind wir zu den Manifestationen brutaler Gewalt (megãlh b¤h), phy-sischer Stärke (xe›rew êaptoi … §p‹ stibaro›si m°lessi) und des Schrek-kens (deinÒn, êplastoi) übergegangen, den die Gestalt des Kriegers her-aufbeschwört. Die bronzenen Menschen betreiben nichts als Krieg. Es gibt in ihrem Fall keinen Hinweis auf die Ausübung von Gerechtigkeit (gerade oder krumme Urteile) oder auf die Verehrung der Götter (Ehrfurcht oder Frevel), so wie umgekehrt in den vorangehenden Fällen von militärischem Verhalten nicht die Rede war. Fremd sind den Menschen des bronzenen Geschlechts auch die Tätigkeiten, die zur dritten Ebene zählen, der des eiser-nen Geschlechts: Sie essen kein Brot,50 was darauf schließen läßt, daß sie von Bodenbestellung und Getreideanbau nichts wissen. Ihr Tod führt die Linie ihres Lebens fort: Sie werden nicht von Zeus vernichtet, sondern ster-ben im Krieg unter den Schlägen, die sie sich gegenseitig zufügen, »von den eigenen Händen bezwungen«, das heißt von jener physischen Gewalt, die ihr Wesen ausdrückt. Sie haben kein Recht auf irgendeine Ehre: »so entsetzlich sie waren«, versinken sie doch in der Anonymität des Todes.

Diesen Hinweisen im Klartext fügt der Dichter ergänzend gewisse Details von symbolischem Wert hinzu. Zunächst der Bezug auf die Bronze, deren Bedeutung nicht weniger präzise ist als die des Goldes. Trägt nicht der Gott Ares selbst das Epitheton chálkeos?51 Über bestimmte Eigenschaften, die ihr

49 Werke und Tage, 144–146.50 ebd., 146 f.51 Vgl. zum beispiel Ilias, Vii, 146.

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zugeschrieben werden, ist die Bronze im religiösen Denken der Griechen offenbar eng mit der Kraft verbunden, die sich in den Verteidigungswaffen des Kriegers äußert. Das metallische Funkeln des »schimmernden Erzes«, n⋲ropa xalkÒn,52 sein strahlender Glanz,53 »der den Himmel erreicht«,54 stürzen die Seele des Feindes in Furcht und Schrecken; das Klirren der gegeneinanderschlagenden Bronze, diese fvnÆ, die deren Natur als beseel-tes und lebendiges Metall verrät, wehrt die Zaubermittel des Gegners ab. Zu diesen Verteidigungswaffen – Harnisch, Helm und Schild – gehört im Arsenal des mythischen Kriegers eine Angriffswaffe, die Lanze oder viel-mehr der hölzerne Speer.55 Man kann sogar noch präziser werden: Die Lanze wird aus einem sehr biegsamen und zugleich sehr harten Holz her-gestellt, dem der Esche. Und es ist dasselbe Wort, das bald den Speer, bald den Baum bezeichnet, von dem er stammt: mel¤a.56 Man begreift, warum das bronzene Geschlecht von Hesiod »eschenentsprossen« genannt wird, §k meliçn.57 Die Melíai, Nymphen dieser kriegerischen Bäume, die sich selbst wie Lanzen gen Himmel erheben, werden im Mythos beständig mit über-natürlichen Wesen assoziiert, die die Figur des Kriegers verkörpern. Neben den »eschenentsprossenen« Menschen des bronzenen Geschlechts wäre der Gigant Talos zu erwähnen, dessen Körper ganz aus Erz ist, Hüter Kretas, wie Achill mit einer bedingten Unverwundbarkeit versehen, über die einzig die Zauberkünste Medeas triumphieren konnten: Talos ging aus einer Esche hervor. Die Schar der Giganten, von der Francis Vian gezeigt hat,58 daß sie den Typus einer militärischen Bruderschaft repräsentiert, und die eben-falls eine bedingte Unverwundbarkeit genießt, steht in direkter Beziehung mit den melischen Nymphen. Die Theogonie erzählt, wie »die großen Gigan-ten / strahlend im Glanze der Waffen [aus Bronze], die mächtige Lanze [aus dem Holz der Esche] in Händen«, zu gleicher Zeit wie die Nymphen geboren wurden, »die weit und breit die melischen heißen«.59 Und um die Wiege des jungen Zeus auf Kreta gruppiert Kallimachos neben den Kureten, die bei ihrem Kriegstanz Waffen und Rüstungen anschlagen, um das Erz klingen

52 Ilias, ii, 578; Odyssee XXiV, 467 (in der Übertragung von Johann heinrich Voß, München: Winkler 1957).53 Ilias XX, 156; euripides, Die Phönizierinnen, 110.54 Ilias XiX, 362.55 ebendieses »Arsenal« findet man beim Palladion und im Tropaion wieder.56 ebd., XVi, 140; XiX, 361 und 390; XXii, 225; Anthologia palatina, Vi, 52; vgl. das Lexikon des hesychios: mel¤ai, entweder dÒrata, bäume, oder lÒgxai, Lanzen.57 Werke und Tage, 157.58 Vian, La guerre de Géants, a. a. o., besonders s. 280 ff.59 Theogonie, 185–187.

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