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Maylis de Kerangal

Die Brücke vonCocaRoman

Aus dem Franzçsischenvon Andrea Spingler

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe:Naissance d’un pont

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

� �ditions Gallimard, Paris, 2010

� der deutschen �bersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunn

eISBN 978-3-518-76251-6www.suhrkamp.de

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Die Brücke von Coca

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da aber die Meere geheimnisvollen Austausch bewirkenund der Planet porçs ist, ist es auch zutreffendzu sagen, daß jeder Mensch im Ganges gebadet hat

Jorge Luis Borges,»Gedicht vom vierten Element«,in Der Andere, der Selbe

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A m Anfang machte er Bekanntschaft mit dem nçrdlichenJakutien und Mirnij, wo er drei Jahre arbeitete. Mirnij,

eine zu erçffnende Diamantmine unter der grauen, schmut-zigen Eiskruste, trostlose Tundra, verseucht von alter Kohleund Strafarbeitslagern, w�stes, in frostige Nacht getauchtesLand, elf Monate im Jahr von Schneest�rmen gepeitscht,die einem den Sch�del spalteten, ein Boden, in dem, mit ein-zelnen Gliedmaßen und elegant gekr�mmten riesigen Hçr-nern, felltragende Rhinozerosse, wollig weiße Wale und tief-gefrorene Rentiere schlummerten – das malte er sich aus,wenn er abends an der Hotelbar vor einem starken, klarenSchnaps saß, w�hrend ihn die immer gleiche Gelegenheits-nutte mit Z�rtlichkeiten �bersch�ttete und eine Heirat inEuropa gegen treue Dienste ins Feld f�hrte, doch er r�hrtesie nie an, konnte es nicht, lieber gar nichts als mit dieserFrau vçgeln, die keine Lust auf ihn hatte, dabei blieb er. DieDiamanten von Mirnij also, um sie zu fçrdern, mußte mangraben, den Permafrost mit Dynamitsprengungen aufbre-chen, ein danteskes Loch bohren, groß wie die Stadt selbst –man h�tte die f�nfzigstçckigen Wohnt�rme, die bald rings-um wuchsen, kopf�ber hineinsenken kçnnen –, und, miteiner Stirnlampe ausger�stet, bis auf den Grund der �ff-nung steigen, mit dem Pickel die W�nde behauen, die Erdeausheben, Stollen vortreiben, die sich zu einem unterirdi-schen Baum verzweigen mit weit ins Harte, ins Schwarzeausgestreckten �sten, die G�nge abst�tzen und Schienenverlegen, den Schlamm mit Strom versorgen, im Erdreich

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w�hlen, den Boden aufkratzen, das Gerçll sieben, dem fun-kelnden Glanz auflauern. Drei Jahre.Als sein Vertrag ausgelaufen war, kehrte er an Bord ei-ner nicht gerade demokratischen Tupolev – sein Sitz in derEconomy-Klasse ist vollkommen durchgesessen, unter demStoff�berzug der R�ckenlehne kn�ueln sich Metalldr�hte,hier und da bohren sie sich durch und stechen ihn insKreuz – nach Frankreich zur�ck, einige Vertr�ge ergebensich, und wir finden ihn als Baustellenleiter in Dubai wie-der, ein Luxushotel soll im Sand hochgezogen werden, senk-recht wie ein Obelisk, aber weltlich wie eine Kokospalme,und Glas diesmal, Glas und Stahl, Aufz�ge wie Blasen, diedurch vergoldete Rçhren gleiten, Carrara-Marmor f�r diekreisrunde Lobby, in der ein Brunnen sein Petrodollarluxus-pl�tschern verbreitet, das Ganze mit gl�nzenden Gr�npflan-zen, Ledersofas und Klimaanlage ausgestattet. Danach warer �berall dabei, er zeigte sein Kçnnen. Fußballstadion inChengdu, Gashafenausbau in Cuman, Moschee in Casa-blanca, Pipeline in Baku – die M�nner in der Stadt gehenschnell, tragen dunkle Gabardinem�ntel, die schmale H�f-ten machen, den Krawattenknoten wie eine kleine geballteFaust unter dem steifen Kragen, schwarze H�te mit Trian-gelbeule, traurige Blicke und d�nne Schnurrb�rte, sie sehenalle aus wie Charles Aznavour, er ruft seine Mutter an, umes ihr zu sagen –, mobile Kl�ranlage im Norden Saigons,Hotelkomplex f�r weiße Arbeitnehmer in Djerba, Filmstu-dios in Bombay, Weltraumbahnhof in Baikonur, Tunnel un-ter dem �rmelkanal, Staudamm in Lagos, Einkaufszentrumin Beirut, Flughafen in Reykjavk, Pfahlstadt mitten imDschungel.

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Auf Langstreckenfl�gen, die oft genug in Hopsern mit zweiTurbinen enden, dergestalt von Biotop zu Biotop gebeamt,bleibt er selten mehr als achtzehn Monate an einem Ortund verreist nie, abgestoßen von der Exotik, ihrer Triviali-t�t – weiße Dominanz gegen fiesen Amçbenbefall, Drogenund f�gsame Frauen gegen westliche Devisen –, er lebt vonwenig, meist in einer vom Unternehmen angemieteten, inder Umgebung der Baustelle gelegenen Wohnung – ein der-art n�chterner Platz, ein Witz: keines dieser Nippes, dieman mit sich herumschleppt, kein Foto, das an eine T�r ge-heftet w�re, nur ein paar B�cher, CDs, ein riesiger Fernse-her mit reklamebunten Bildern und ein Fahrrad, ein wun-derbares Carbonfasermodell, dessen kostspieliger Transportan die Arbeitsst�tte schließlich zum Gegenstand einer inden Annalen einzigartigen Vertragsklausel wird –, er kauftalles an Ort und Stelle – Rasierer, Shampoo, Seife –, ißt inschmierigen,verqualmtenKneipen,nimmtzweimalproWo-che im Restaurant eines Hotels, so es denn eines gibt, eininternationales Steak zu sich, steht fr�h auf, arbeitet zu fe-sten Zeiten, t�glich ein kurzer Mittagschlaf nach dem Es-sen, und schwingt sich, wenn das Wetter gn�dig ist, auf seinFahrrad, um mindestens f�nfzig Kilometer, den Wind imGesicht, den Oberkçrper vorgebeugt, mit vollem Tempo indie Pedale zu treten; nachts geht er hinaus, marschiert oderschlendert durch die Straßen, die Schl�fen k�hl und dasGehirn wach, lernt die çrtlichen Idiome in den Nachtloka-len, den Puffs, den Spielhçllen – die Sprache der Karten,eine Art Pidgin-Englisch –, in den Bars. Denn ein Quartals-s�ufer ist er, das wissen alle, und zwar schon lang.

Zwanzig Jahre bei dieser Lebensweise h�tten jeden geschafft,denn eine neue Baustelle verlangte ja immer, daß er sich

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anpaßte – in Wahrheit eine Verwandlung, klimatisch, der-matologisch, di�tetisch, phonologisch, nicht zu reden vonden neuen Alltagsritualen, die mit sich bringen, daß manunbekannte Dinge tut –, sein Kçrper hingegen erneuertesich, gewann an Kraft dabei, bl�hte auf, und an manchenAbenden, wenn er nach dem Abzug der letzten Mannschaf-ten allein in die Baracke zur�ckgekehrt war, stellte er sichmit ausgebreiteten Armen, die Pupillen so geweitet wie dieHaut gedehnt, vor die Weltkarte, die an die Wand seinesB�rokabuffs gepinnt war, und mit einer schçnen, bei derOsterinsel beginnenden und in Japan endenden seitlichenBewegung erfaßten seine Augen langsam die Punkte seinerEins�tze auf dem Globus. Jede neue Baustelle war f�r ihnein Spiel mit den vorhergehenden, ein Spiel wie das der H�f-ten bei einer schnellen Salsa, und aktivierte so jedesmaldie ganze in seiner Person gespeicherte Erfahrung, von derman in aller Welt großes Aufhebens machte. Sein Kçrperverschliß durch die st�ndige Ortsver�nderung nicht schnel-ler als der eines Berufspendlers mit festem Wohnsitz, in sei-nem Mund allerdings ging es drunter und dr�ber: all dieauf der Baustelle gesprochenen und leicht erlernten Spra-chen f�rbten auf sein Franzçsisch ab – ein bereits ziemlichdurcheinandergeratenes Franzçsisch –, sodaß er sich manch-mal sogar in den kurzen Briefen, die er an seine Mutterschrieb, verhedderte. Zwanzig Jahre in diesem Modus, also,das war f�r ihn nichts, das z�hlte gar nicht.

Man wollte wissen, was ihn umtrieb, man dr�ngte sich umihn. Man beschrieb ihn sukzessive als vaterlandslosen Inge-nieur, Sçldner des Betons, beharrlichen Abholzer von Tro-penw�ldern, Vorbestraften, Spieler auf Entzug, selbstmçr-derischen Gesch�ftsmann, der abends unter Frangipanib�u-

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men oder in der mongolischen Steppe, den Blick in die Fernegerichtet und eine eisgek�hlte Flasche zwischen den Schen-keln, Opiate rauchte; man charakterisierte ihn als lakoni-schen Cowboy, aus dem Nirgendwo gekommen, von seinerMission �berzeugt, ohne eine unnçtige Geste und zu allembereit, um den Sieg davonzutragen – ja, da traf man etwas,einen Anteil zumindest, eine Nuance, und man lachtedar�ber –, und sicherlich war er all diese Menschen aufeinmal und nacheinander, zweifellos war er plural, verf�gte�ber eine ganze Palette variabler Neigungen, so daß er dasLeben von allen Seiten in Angriff nahm. Man h�tte ihn gernauf Selbstsuche, r�tselhaft, verzweifelt gehabt, man vermu-tete ein geheimes, meilenverschlingendes Problem, manzog Gewissensbisse in Betracht, Fahnenflucht, Verrat oder,noch besser, das Phantom einer Frau, die in der Heimat ge-blieben war, bestimmt mit einem anderen, und vor der erfliehen mußte – diese Frau gibt es, und sie ist kein Phantom,sie atmet unzweifelhaft und lebt mit einem anderen zusam-men,er trifft sie manchmal,wennernachFrankreich kommt,Rendezvous in Paris, sie erscheint p�nktlich, Haare im Ge-sicht, gl�nzende Augen, volle Taschen, sie sind wieder daund laufen durch die Stadt, die Kçrper getrennt, aber dieHerzen vereint, sie reden die ganze Nacht in irgendeinerBar, das Bier macht sie allm�hlich betrunken, so daß sie sichim Morgengrauen k�ssen, sie sind jetzt Liebende, sie strei-cheln sich, selbstvergessen, und dann gehen sie auseinan-der, ruhig, Kçnig und Kçnigin, die Zeit existiert nicht, isteine bloße Erfindung, und kehren einander so vertrauens-voll den R�cken zu, daß die ganze Welt ger�hrt und dank-bar ist. Man fand, derart allein zu sein, das ging nicht an, daswar Vergeudung und auf die Dauer ungesund, ein solcherMann, eine Naturgewalt, man suchte Frauen f�r ihn in den

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Konsulaten, schçne, weiße, ergebene, man suchte junge Leu-te f�r ihn, man suchte den Haken, einen urspr�nglichenDefekt, zumindest einen Ursprung, eine innere Verletzungaus seiner Kindheit, man tuschelte, im Grunde sei er ka-putt – in welchem Grunde, das wußte keiner. Er kam auchnicht oft nach Frankreich – und seine Mutter? Er hat docheine Mutter, denn er schreibt ihr ja, denkt er denn nichtan sie? –, �berging das Land mit unhçflichem Schweigen,behielt von ihm praktisch nur die Nationalit�t, die in sei-nem Paß stand, ein gut gef�lltes Bankkonto, die Neigungzum Gespr�ch und zu einer gewissen Bequemlichkeit, under vers�umte nie, das Radrennen Paris–Nizza zu sehen. Manh�tte ihn gern mit einer inneren Erfahrung besch�ftigt, in-trovertiert gewußt, nicht so stark, es w�re ganz einfach ge-wesen, es w�re viel leichter vorstellbar gewesen – ein so kraft-strotzender Mann, der im �brigen harten Alkohol sch�tzt,hat zwangsl�ufig etwas zu verbergen –; man h�tte gew�nscht,er kçnnte nicht lieben, er w�re unf�hig dazu, er vergr�besich in die Arbeit, um nicht daran zu denken. Man h�tte ge-w�nscht, er w�re melancholisch.Diejenigen aber, die ihn auf den Baustellen erlebt hatten,lachtensichtot,wennsiediesenUnsinnhçrten:Weiberphan-tasien, dummes Ges�lze, kitschige Klischees. Mit einemAchselzucken und spçttischen Blicken stampften sie diesenPappkameraden ein, sie hatten ihn n�mlich bei der Arbeitgesehen, ihre Erfahrungen gemacht mit dem Mann. Sie sag-ten: Okay, stimmt, die Zeit bedeutet ihm nichts, die verge-hende, die verrinnende Zeit, all das sagt ihm nichts, da fließtnichts, und da bleiben auch keine R�ckst�nde oder tr�-ben Nebel – hat es damit zu tun, daß man eben allein istin der Zeit, daß man allein ist und immer verliert und aufdie Verluste starrt, auf die bazillenverseuchten Fl�ssigkei-

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ten, die man in den Eimern umr�hrt, auf die Fetzen vonTraurigkeit, die an den Fingerspitzen h�ngen wie alte Pfla-ster und die man mit den Z�hnen abreißen m�ßte? –, er istdagegen nicht gefeit, mag sein, aber er denkt nicht daran,interessiert sich nicht daf�r, kommt gar nicht dazu, pfeiftauf den Ursprung und pfeift auf die Geschichte, hat seinBlut vermischt, denkt wie alle anderen jeden Tag an denTod, und das war’s. Sie sagten: Seine Zeit wird so gez�hlt:one! two! three! four! let’s go!, und mimten mit den Fingernschnippend einen Start, der sofort auf sein Ende zielte, sei-nen Zweck, die Lieferung eines Bauwerks, dessen mit roterTinte unten auf dem Auftragsformular vermerkte Deadlinedie Tage einem Arbeitsplan unterwarf, entsprechend einersorgf�ltigen Bauabschnittsberechnung, unter Ber�cksichti-gung der Vertr�ge und der Jahreszeiten – vor allem der Re-genzeit und der Brutperiode, die immer ungelegen kommt,wir werden noch sehen, warum. Sie sagten: Seine Zeit ist dieGegenwart, jetzt oder nie, das Richtige tun, sich der Situa-tion stellen, das ist seine einzige Moral und die ganze Ar-beit eines Lebens, so einfach ist das. Und auch: Er ist boden-st�ndig, er steht mit beiden Beinen auf der Erde – er w�rdeselbst so �ber sich sprechen, w�rde mit halbgeschlossenenLidern, Zigarette im Mund, spçttisch hinzuf�gen: Da istdas Abenteuer, da sind die Gefahren, da lebt mein Kçrper –und bei diesen Worten w�rde er sich mit beiden F�ustengegen die Brust schlagen wie die großen Gorillas der Tro-penw�lder –, aber manchmal hob er dann, ohne zu lachen,wieder den Kopf und erkl�rte ernst: Was ich hasse, ist dieUtopie, das gute kleine System, das schim�rische, schwere-lose Juwel der Welt blablabla, das ist erledigt, immer zukleinkariert und ach so gut geçlt, das ist schlechter Stoff,laßt euch das gesagt sein, das ist nichts f�r mich, das inter-

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essiert mich nicht, das macht mich nicht heiß; mein Nameist Georges Diderot, und was mir Spaß macht, ist, mit derWirklichkeit umzugehen, die Parameter spielen zu lassen,mich hinabzubegeben auf den Boden der Dinge, in die Nie-derungen, da kann ich mich entfalten.

Er eignet sich Gebiete an, gr�bt Felder um, besetzt Land,errichtet Geb�ude, er n�hrt sich von der Vielfalt, dem Ge-rede, den Kl�ngen, den verschiedenen Hautfarben und -ge-r�chen, den Menschenmengen der Megast�dte, der revolu-tion�ren Unruhe, dem Jubel der Stadien, dem �berschwangdes Karnevals und der Prozessionen, von der Sanftmut derWildtiere, die durchs Bambusgehçlz hindurch die Baustel-len beobachten, dem Freiluftkino am Rand der Dçrfer –eine Leinwand, in den Nachthimmel gespannt, so daß dieR�ume sich ineinanderschieben und die Zeiten verschwim-men –, vom Gebell der Hunde am Straßenrand. Immer drau-ßen, konzentriert, empirisch, ungl�ubig: innere Erfahrungfindet niemals innen statt, murmelt er spçttisch, wenn dievon seiner Trivialit�t Entt�uschten ihn zu mehr Innerlich-keit und mehr Tiefe ermahnten, dazu ist kein R�ckzug nç-tig, sondern ein Sich-Aussetzen, und ich setze mich gernaus.

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durch die violette Nacht

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A m 15. August 2007 k�ndigte die New York Times auf ih-ren Business-Seiten den Bau einer Br�cke in der Stadt

Coca an, eine dreizeilige Notiz in 12-Punkt-Minuskeln, diebeim �berfliegen nichts anderes auslçste als ein Brauen-hochziehen – man dachte: Da kriegen endlich mal welcheArbeit, oder: Gut so, sie kurbeln mit Großbauprojekten dieWirtschaft an, weiter nichts. Die schwer unter der çkono-mischen Krise leidenden Ingenieurb�ros jedoch begannensehr viel schneller zu rotieren: Die Mitarbeiter beeilten sich,Informationen einzuholen, Kontakte zu den Unternehmenzu kn�pfen, die ihre Gesch�fte bereits abgeschlossen hat-ten, und dort Maulw�rfe einzuschleusen, alles mit dem Ziel,sich auf dem Markt gut zu positionieren und ihn mit Ar-beitskr�ften, Maschinen, Rohstoffen, Dienstleistungen al-ler Art zu versorgen. Aber es war zu sp�t, die W�rfel l�ngstgefallen, die Abmachungen besiegelt. Sie waren das Ergeb-nis eines umst�ndlichen und heiklen Auswahlprozesses, der,obzwar beschleunigt, als h�tte man ein Spezialverfahren an-gewandt, immerhin zwei Jahre brauchte, bis er in offizielleParaphen unter den mindestens hundertf�nfzig Seiten um-fassenden Vertr�gen m�ndete. Er glich einem Hindernis-lauf: September 2005, die Stadt Coca lobt einen interna-tionalen Wettbewerb aus; Februar 2006, Pr�qualifizierungvon f�nf Unternehmen und gleichzeitig Festlegung des Aus-schreibungstextes; 20. Dezember 2006, Abgabe der Bewer-bungen; 15. April 2007, Bekanntgabe der beiden Finalistenf�r den letzten Wahlgang; 1. Juni 2007, der Pr�sident der

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CNBC (Commission Neue Br�cke Coca) verk�ndet denNamen des Siegers: Pontoverde – eine Gruppe franzçsi-scher (H�racl�s Group), amerikanischer (Blackoak Inc.) undindischer (Green Shiva Entr.) Firmen – bekommt den Zu-schlag.Der Wettbewerb hatte einen hçllischen Zeitplan diktiertund Hunderte Menschen in der ganzen Welt unter Druckgesetzt. Es gab Aufregung und es gab Scherben. Die Inge-nieure schufteten f�nfzehn Stunden t�glich und lebten inder �brigen Zeit mit dem BlackBerry oder dem iPhone amOhr oder nachts unterm Kopfkissen, stellten beim Duschen,beim Squash oder beim Tennis den Ton lauter und, wennsie ins Kino gingen, auf Vibrationsalarm, aber sie gingensehr selten ins Kino, denn sie dachten nur noch an diese ver-dammte Br�cke, diese verdammte Ausschreibung, sie wa-ren besessen davon, das Leben fand ohne sie statt. Die Wo-chen verflogen, die Kinder entfernten sich von ihnen, dieH�userverschmutzten,baldber�hrtensiekeineanderenKçr-per mehr als ihre eigenen. Sie litten unter �berarbeitungund Depressionen, es kam zu Fehlgeburten und Scheidun-gen, zu Z�rtlichkeiten in Open-Space-Konferenzen, aberdas war kein Spaß, war kein Spiel, nur die Gelegenheit, dieDiebe macht, und die Unf�higkeit, einem Lustversprechenzu widerstehen, wenn der Nacken knackt und die Augenzwçlf Stunden auf Excel-Tabellen gestarrt haben, Fieber-sch�be, umgem�nzt in raschen Beischlaf, in egal was, unddie Verlierer, obschon furchtbar entt�uscht bei der Bekannt-gabe des Siegers, waren letztlich erleichtert, daß es damitsein Bewenden hatte: Sie waren gealtert, sie waren erschçpft,fertig, tot, hatten keinen Saft mehr, bis auf die Tr�nen derM�digkeit, denen sie freien Lauf ließen, sobald sie auf demHeimweg von der Arbeit allein im Auto saßen und das Ra-

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dio Rockmusik brachte, einen vor Jugend und Draufg�n-gertum strotzenden Song, Go Your Own Way von FleetwoodMac oder irgendwas von den Beach Boys, und wenn siedann nachts in ihrer Garage parkten, stiegen sie nicht gleichaus, sondern blieben im Dunkeln sitzen, mit ausgeschalte-tem Licht, die H�nde am Steuer, und �berlegten plçtzlich,alles aufzugeben, die H�tte zu verkaufen, die Kredite zu-r�ckzuzahlen, los, alle Mann barfuß ins Auto und ab nachKalifornien.

Die anderen, jene, die f�r Pontoverde arbeiteten, kehrtenam Abend der Bekanntgabe als Sieger nach Hause zur�ck,k�mpferisch, sie hatten eine Br�cke zu bauen, ihre gesun-den Kçrper standen f�r den Fortschritt, ihre H�nde trugeneinen Teil zum Geb�ude bei, sie genossen ihren Job in Formeines Schicksals, jetzt waren sie sicher, Akteure der Weltzu sein. Auch sie blieben bei abgestelltem Motor noch inihrem Fahrzeug sitzen, den Blick auf ein vertrocknetes Lor-beerblatt an der Windschutzscheibe geheftet, die Arme �berdem Bauch verschr�nkt, ins Polster zur�ckgelehnt, undauch sie schwiegen und dachten an ihr kommendes Exil, ta-xierten ihre Karriere, die sich plçtzlich beschleunigte, weilsie dieg�nstige Gelegenheit wahrzunehmen wußten,berech-neten die Punkte, die sie so sammeln w�rden, bevor sie zu-r�ckkehrten, um in der Firma hçhere Funktionen auszu-�ben, planten die Umstrukturierung der Abteilung, die siein die Hand nehmen wollten, und dann dachten sie �berden Umzug der Familie nach oder stellten sich als Jung-gesellen auf Zeit vor, die zwischen ihrer ausgelagerten Ar-beitsstelle und den Schulferien pendelten, auf einmal warenauch sie im Begriff abzuhauen, aber nicht, um alles hintersich zu lassen, nur f�r eine Spritztour, keinen richtigen Ur-

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laub, sie mußten sich jetzt aufraffen und mit ihren Frauenreden, die Neuigkeit berichten – und mancher Ehefrau w�r-de vor Stolz und Freude die Brust schwellen, sie war einegute Gef�hrtin, ihr Mann war erfolgreich, er hatte Format,und sie tr�umte davon, bald von der Firma hofiert, vom lo-kalen Personal bedient zu werden, eine Villa mit Pool, ja,das war das mindeste, zwei Autos, ein G�rtner, ein Ganz-tagskinderm�dchen oder sogar eine ergebene Kçchin, ge-nial, sie freute sich schon und weckte die Kinder, bereit,die gesellschaftliche Leiter ein schçnes St�ck hinaufzuklet-tern; andere w�rden nervçs die K�che aufr�umen, best�rztschweigend, und schließlich angstvoll zu ihrem Mann auf-blicken, denn, Liebling, wie soll das werden mit der Ein-schulung der Großen, mit den kranken Eltern, mit dem Lo-gop�den des J�ngsten, und diese Frauen w�rden beruhigtwerden wollen, man w�rde abwiegeln m�ssen, versprechen,daß sie bei alldem mitzureden h�tten, und ihnen klarma-chen, daß man auf sie z�hlte; ein paar wenige endlich, unddas w�ren bei weitem die Z�hesten, w�rden sich, wenn dieSp�lmaschine lief, eine Fluppe anstecken und sich dann,zack, umdrehen, frontal zum Raum, den Hintern am Sp�l-becken, das Gesicht von der K�chenlampe merkw�rdig be-leuchtet, irreal und doch marmorn wie das von MarleneDietrich, ein zwielichtiges Gesicht, das sie r�tselhaft undabscheulich fremd erscheinen ließe, und sie w�rden l�chelnund am�siert einwenden, ich freue mich ja f�r dich, aberwas habe ich damit zu tun? Sie w�rden sich an ihren Jobklammern, man mußte sie �berreden, sie bearbeiten, bis ihrFuß eines Abends unter der Decke wieder den des Mannessuchte, der neben ihnen lag, man mußte Tricks anwenden,bis sie diese kleine Geste vollzogen, diese Ber�hrung, einsubtiles Zeichen der Zustimmung, das ihnen die Welt çff-

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nete, und er w�rde dann schweigend triumphieren, auf demR�cken liegend, vollkommen regungslos. W�re die Abreiseerst einmal klar, w�rde eine fieberhafte Unruhe das Hauserfassen. Sie mußten Mietvertr�ge k�ndigen, Telefon undStrom abmelden, eine Lagermçglichkeit f�r die Mçbel fin-den – also das Chaos sortieren, das der Kinder und ihr eige-nes, kaputte Spielsachen, zu klein gewordene Klamotten,Stapel alter Zeitschriften, angeschlagene Vasen, verblaßteBilder, alles auf den M�ll –, Arztbesuche absolvieren, dannvon den Freunden, der Familie Abschied nehmen, schließ-lich die Koffer packen und nach Coca fahren. Und genaudas taten sie Ende August, Anfang September.

Sie waren nicht die einzigen, die aufbrachen. Leute allerArt setzten sich in Marsch durch die violette Nacht undmachten sich auf in die Stadt, deren Name in ihrem trocke-nen Mund wie tausend spitze Nadeln prickelte. Anzeigenim Netz warben um Kabelmonteure, Eisenbinder, Schwei-ßer, Schalungsbauer, Maurer, Asphaltbauer, Kranf�hrer, Ge-r�stbauer, Bauaufzugsmechaniker, Fassadendecker, und alldie packten ihren Tornister wie ein Mann, synchron, gro-ßes Mançver, und r�ckten aus. Ein erster Schwung be-stieg die Transportflugzeuge, die auf Arbeitskr�ftevermitt-lung spezialisierte Unternehmen gechartert hatten – siehandelten rasch, dem �blichen rassistischen Klischee ent-sprechend, bevorzugten also den starken T�rken, den flei-ßigen Koreaner, den tunesischen �stheten, den finnischenZimmermann, den çsterreichischen Schreiner und den ke-nianischen Geometer, mieden den griechischen T�nzer undden empfindlichen Spanier, den heuchlerischen Japaner,die impulsiven Slawen –, die ver�ngstigten Jungs, die zumersten Mal flogen, kotzten ihren Mageninhalt in den Fracht-

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raum. Andere sprangen auf G�terwaggons, die sie durch-r�ttelten, sie kauerten auf dem Boden, lehnten sich an ihreaneinanderstoßenden Taschen, bald vçllig benommen vomL�rm und vom Staub, den gesenkten Kopf zwischen denKnien, weil die Augen tr�nten. Und manche stiegen auchin diese Busse, die nachts �ber die Autobahnen brettern, ei-ne çffentliche Gefahr, gesteuert von Fahrern mit aufgeris-senen Augen – Schlafmangel, Koks –, Transportmittel derArmen, die keine 300 Dollar haben, um sich auf dem Ge-brauchtwagenmarkt eine Schleuder zu beschaffen, und sichdeshalb wie Nachz�gler vom Besenwagen aufsammeln las-sen, das ist auch der Grund, warum es da drin so stinkt, Er-schçpfung und kalter Schweiß h�ngen in den Stoffbez�-gen der Sitze, es riecht nach m�den F�ßen – wir wissen alle,daß das der Geruch der Menschheit ist –, die stellten sichalso auf sch�bige Parkpl�tze am Ortsausgang und hobenstumpf den Arm, damit der Fahrer anhielt, die Neuigkeitvon der Errichtung der Baustelle hatte sich wie ein Lauf-feuer verbreitet, und die Stadt glitzerte bereits verf�hre-risch in ihrem Hinterkopf; schließlich kamen noch welchezu Fuß, und nichts schien sie von ihrem Weg abbringen zukçnnen, sie gingen direkt aufs Ziel zu, wie Hunde, als folg-ten sie der F�hrte eines Zaubertuchs, mit dem man ihnendie Schnauze gerieben hat, w�hrend andere einfach Vaga-bunden waren, Leute, f�r die Hier oder Dort egal war, diesich eine bestimmte Vorstellung von ihrem Leben machtenund der stolzen Meinung waren, ein Recht auf Abenteuerzu haben.Ein d�nnbeiniger Chinese mit hartem Profil gehçrt zu die-sen, er heißt Mo Yun. Neun Monate zuvor, Bergarbeiter in-mitten von Millionen anderen, Bergarbeiter, weil Vater undMutter es sind, weil er nichts anderes ist und weil in die Gru-

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be einfahren einfach nur heißt, mit dem Strom schwimmen,kehrt er plçtzlich der Welthauptstadt des Kohlebergbaus,der brodelnden Proletarierhochburg Datong, den R�cken,in Wirklichkeit eine �berlebensstrategie, denn indem eraus den Bahnen der Kindheit ausbricht, gibt er seiner Ju-gend eine Chance; danach hat das Herumirren, selbst imElend, den Geschmack der auf Grund ihrer Form und ih-rer Farbe unter allen ausgew�hlten Kartoffel, das kleinsteRadieschen duftet nach Freiheit. In Gesellschaft eines rus-sischen Botanikerpaars durchquert Mo, auf dem R�cksitzeines Gel�ndewagens kauernd, die Mongolei, am Stadtrandvon Ulan-Bator springt er im Fahren ab und wendet sichnach rechts, immer dem Meer zu, drei Monate ist er unter-wegs, man weiß nicht wie und mit welchem Geld und schongar nicht mit welcher Kraft, dann l�ßt er sich auf ein nie-derl�ndisches Containerschiff verladen, Wladiwostok–Van-couver in vierzehn Tagen, vierzehn Tage der Dunkelheit, anderen Ende Mo in eisiger Nacht aus seiner feuersicherenKiste steigt. Die Stadt kommt ihm entvçlkert vor. Er f�hrtmit einem Greyhound-Bus nach S�den, und, in San Fran-cisco, Chinatown, angekommen, klopft er an die T�r einerdreckigen Kneipe auf der Grant Avenue, eine schmierige,aber lukrative Spelunke, in der sein Onkel ihn vier Monatelang sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag ausbeutet. Dort,in der Sp�lk�che, hçrt er zum ersten Mal von der Br�cke;ruhig stellt er Teekannen und Reisdosen weg, bindet sichdie Sch�rze ab und verl�ßt die K�che, geht mitten durchsRestaurant, nimmt die Vordert�r, die T�r f�r die Kunden,die T�r auf die Straße, die große T�r, w�hlt f�r seinen Ab-gang genau die und keine andere, die T�r, durch die er ge-kommen ist, tsch�s! Die Hornhaut unter seinen braunenF�ßen ist jetzt dicker geworden, Schwielen und F�ltchen

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zeichnen eine Weltkarte darauf, er ist siebzehn, und er siehtdie Lichter von Coca.Unter denen, die zur Baustelle kommen, sind auch DuaneFisher und Buddy Loo, neunzehn und zwanzig Jahre alt, roteHaut, schwarze Haut, gemischtes Blut. Zur Stunde hockensie auf dem Parkplatz des Busbahnhofs von Coca an einerMauer undtrinkenBier.SiesindaußerAtem,geblendet,ebenerst vom gegen�berliegenden Ufer gekommen, aus demWald hervorgekrochen nach drei Monaten Dschungel ineiner illegalen Goldw�scherstation, die allzu oft von Poli-zisten und Berufsgangstern �berfallen wurde, drei Mona-te haben sie goldhaltige Flußsedimente gesiebt, der Nak-ken zerbissen von Parasiten, mit nichts anderem zu essenals gekochten Bohnen und Maniok in allen Varianten. Siesind aus dem Gebiet geflohen, indem sie den B�chen folg-ten, nackte F�ße in Turnschuhen, bis zu den Knçcheln imSchlamm,derglitschige,w�rmerdurchsetzteLehmschmatz-te zwischen den Zehen, slurp, slurp, Moskitos verfingen sichin den Jeans, Zecken unterm G�rtel, aber sie haben Gold,ja, ein paar Gramm, eine Prise, so viel, daß sie sich Tequilakaufen kçnnen und ein St�ck Schweinefleisch, um es aufZweigen zu braten, die sie auf die schnelle an den vertrock-neten Gr�nstreifen der Colfax Avenue abgerissen haben,außerhalb der Stadt. Vor ihnen sitzen zwei M�nner im sch�-bigen Anzug auf der Motorhaube eines Mercedes-Gel�nde-wagens und diskutieren halblaut, besprechen sich und kom-men dann auf sie zu. Sie haben Einstellungsformulare in derHand: ein Jahr Arbeit, Jungs, Lohn, Krankenversicherung,Rentenpunkte, dazu der Stolz, an einem historischen Bau-werk mitzuarbeiten, eine Supergelegenheit, die Chance eu-res Lebens. Die beiden Burschen befingern das Papier, le-sen es nicht, denn sie kçnnen nicht mehr lesen, wechseln

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einen Blick, unterschreiben unten auf dem Blatt, am 1. Sep-tember sollen sie antreten, und das war’s dann, sie sind en-gagiert: Sie werden bei der Br�cke dabeisein.

Auch Frauen sind da, die sicher die Ellbogen eingesetzt ha-ben f�r eine Arbeit auf der Baustelle. Nicht zahlreich, abersehr pr�sent, mit angefressenem Lack auf den schwarzenN�geln, dick getuschten Wimpern, schlaffem Hosengummiauf der undeutlichen Taille. Sie haben gerechnet und sindgekommen: die Lçhne auf der Baustelle sind gut, vor allemwenn man von vornherein �berstunden und Zulagen allerArt einkalkuliert. Die meisten dieser Frauen sind von einemTag auf den andern losgezogen, haben bestenfalls noch kurzihren Kollegen Bescheid gesagt, ihnen eine Pflanze odereine Katze in die freundlichen H�nde gedr�ckt, K�ßchenund los, bloß kein Abschiedsbier unter Freundinnen amletzten Abend, bloß kein Versprechen. In Coca angekom-men, haben sie das çrtliche Einstellungsb�ro von Ponto-verde belagert, sich freiwillig gemeldet f�r die schwerstenArbeiten, Unterqualifizierung verpflichtet, und f�r die be-schissensten Zeiten, also Wochenenden und Nachtstunden.Dann haben sie sich in einem der vielen Motels der ColfaxAvenue eingemietet, deren rivalisierende Leuchtreklamennachts dicke neonpinkleuchtende oder goldgelbe B�nderentrollen zwischen den K-Marts, Safeways, Trader Joe’s,Walgreens, den Gebrauchtwagenarealen und Markenmode-ausverkaufschuppen, s�mtlichen Outlets des Planeten.In einem der Motels, dem Black Rose, macht sich in einemder kargen Zimmer mit minimalem Komfort eine dieserFrauen, Katherine Thoreau, ein Coors auf und l�chelt. Siehat noch ihren Parka an, und in ihrer Brusttasche stecktein Vertrag. Keiner der Anwesenden – ein Mann, zwei Jun-

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gen, die fernsehen – hat sie beachtet, als sie hereingekom-men ist, obwohl sie sehr wohl gehçrt haben, wie sie die T�rgeçffnet und sich im K�hlschrank bedient hat. Sie lehntsich mit der Schulter an die Wand, trinkt einen Schluck ausder Flasche und sagt immer noch l�chelnd: Es hat geklappt!Die beiden Jungen schauen auf, yes! Der j�ngere st�rzt zuihr, schmiegt eine Wange an ihren Bauch, umschlingt ihreTaille. Katherine krault ihm mit einer Hand z�rtlich dasHaar, nachdenklich hebt sie den Kopf, ist der Fernsehernicht ein bißchen zu laut?, blickt dem �lteren in die ernstenAugen und wiederholt, es hat geklappt, wir schaffen es, derJunge nickt, dann wendet er sich wieder dem Bildschirm zu.Im Zimmer hçrt man nur die swingende und brutale, pro-fessionelle Stimme von Larry King und das Lachen vonSarah Jessica Parker, die zwischen ihren goldenen Ohrrin-gen große Z�hne und ein spitzes Kinn sehen l�ßt, Gel�chterund Applaus, der Nachspann der Sendung. Ein bißchen lei-ser, das ist zu laut, da kriegt ihr Kopfweh, mahnt Katherineerneut. Sie trinkt langsam die Flasche aus, dann hebt sieden Kopf des Kleinen, der sich immer noch an sie dr�ckt,streicht ihm �ber die Stirn, fl�stert, habt ihr Billie ins Bettgebracht? Der Kleine nickt. Der Mann, behindert, bewe-gungslos in seinem Rollstuhl, hat kein einziges Mal den Blickvom Fernseher gelçst, seine Frau nicht angesehen.

Ein weiterer Arbeiter schließt sich unauff�llig der Truppean – keiner h�tte etwas gegeben auf diesen kantigen, ver-schlagenen, mit derSicherheitsnadel t�towiertenTypen, eineungeliebte Katze, die Schl�ge einsteckt und davon tr�umt,selber welche auszuteilen. Soren Cry ist nach dreitausendKilometern per Anhalter hier gelandet, er kommt aus Ken-tucky, aus den Eastern Coalfields – R�ckst�ndigkeit, tr�b-

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selige K�ffer und Streith�hne in einem von Armut gepr�g-ten Landstrich, Drogen und Alkohol, um mit den bçsenGeistern der Cheyenne, die sich in den Apalachen verstek-ken, fertig zu werden, eine Jugend, die an terpentin- oderwhite-spirit-getr�nkten T�chern schn�ffelt, mit dem Ka-rabiner Eichhçrnchen jagt, Autorodeos im Schlamm orga-nisiert, ganze Magazine auf hintereinander weggetrunkeneBierflaschen verschießt, in verrosteten Pickup-Wracks Feu-er anz�ndet, all das, um nach Einbruch der Nacht nochein bißchen Halligalli zu haben, die Metalrock hçrt, daßihr das Trommelfell platzt, ausgekotzte Dezibel, wie Todes-rçcheln. Ein Morast. Vor sechs Monaten aus der Armee ge-flogen wegen Gewalt gegen die Vorgesetzte – der Oberstwar eine dreiunddreißigj�hrige Frau, eine technokratischeZiege, die ihn çffentlich dem�tigte, als Hinterw�ldler ver-spottete und beim Reden anspuckte, wahrscheinlich weilsie zu viele Filme gesehen hatte, etwas in ihm ist zerbro-chen, er hat ihr die Z�hne ausgeschlagen –, seitdem vege-tiert er bei seiner Mutter, Gelegenheitsjobs, Saisonarbeit,und in der �brigen Zeit tut er nichts, h�ngt rum, macht diesund das, spielt Gameboy vor dem Fernseher des Hauses,das er mit dieser frommen, armen und depressiven Frauteilt, die er schon Hunderte von Malen zu erdolchen, zu er-drosseln plante, aber jeden Abend z�rtlich auf die Schl�fek�ßt – wahrscheinlich ist er fortgegangen, um sie nicht um-bringen zu m�ssen.

Eine Menge bewegt sich also auf Coca zu, und sie wirdbegleitet von einer weiteren Menge, einem ger�uschvollen,breiten Strom aus H�hnerbratern, Zahn�rzten, Psycholo-gen, Friseuren, Pizzab�ckern, Pfandleihern, Prostituierten,Einschweißern von amtlichen Dokumenten, Fernseh- und

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Multimediatechnikern, çffentlichen Schreibern, Verk�ufernvon T-Shirts nach Gewicht, Herstellern von Lorbeersalbegegen H�hneraugen und Lotionen zur L�usebek�mpfung,Priestern und Mobilfunkvertretern, alle werden sie ange-schwemmt mit der Flutwelle, die eine solche Baustelle aus-lçst, alle setzen sie auf die wirtschaftlichen Nebeneffektedes Br�ckenbaus und machen sich bereit, in ihren Blech-n�pfen dieses kollaterale Manna aufzufangen wie den er-sten Regen nach der Trockenheit.

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Bald Mittag an diesem 30. August. Der junge Mann aufdem Weg zum Flughafen von Coca f�hrt einen petrol-

blauen, schweren, tr�genChevrolet Impala, eine lahme Ente.Sancho Alfonso Cameron hat das Fenster heruntergelas-sen, um den schwelenden Asphalt zu riechen, die Autobahnist neu, der Verkehr fließt, er hat voll getankt und genießtden Augenblick, er weiß, er verbringt seine Tage bald in sieb-zig Meter Hçhe am Steuer eines genialen Krans, und mitder Fortbewegung in der Horizontalen wird erst einmalSchluß sein.Er kennt die Strecke gut: Vor zehn Tagen ist er selbst aufdiesem Flugplatz gelandet, eine große Hand schwenkte einSchild mit seinem Namen, eine unverh�ltnism�ßig großeHand, schien ihm damals, mit dicken und leicht gerçtetenFingergliedern, mit manik�rten, purpur lackierten N�geln,eine Hand, die sich in Shakira Ourgas kr�ftigem Kçrper fort-setzte – ihre rauhe Stimme rollte das R seines Nachnamens.Als er sie zur G�nze sah, nachdem sie sich aus der kleinenGruppe der Wartenden gelçst hatte, mußte Sancho aufpas-sen, daß ihm der Mund nicht offen stehenblieb wie einemaufgeregtenKindamEingangdes Jahrmarkts,denndasM�d-chen war groß, so groß, daß sie ihn um einen Kopf �berrag-te, ein merkw�rdiger Kçrper, zugleich mager und athletisch,der R�cken breit, die Arme schlank, knochige Gelenke,schmale H�ften und straffe runde Br�ste ohne B�stenhal-ter unter einem d�nnen Tr�gerhemdchen, die langen Schen-kel in eng anliegenden Jeans, die gebr�unten F�ße in San-

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