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DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTUR- MAGAZIN VON VELUX WINTER 2008 AUSGABE 10 ERNEUERN 10 EURO WINTER 2008 AUSGABE 10 ERNEUERN 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX

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DAYLIGHT &ARCHITECTUREARCHITEKTUR-MAGAZINVON VELUX

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VELUXEDITORIAL

ERNEUERN

Städte sind wie lebende Organismen: Sie bleiben lebendig, indem sie sich ständig selbst er-neuern. So, wie die Lebensdauer des menschlichen Körpers diejenige jeder einzelnen Kör-

perzelle übertrifft, überlebt auch eine Stadt in aller Regel ihre einzelnen Häuser und Kirchen, Wehrmauern und Fabriken. Gebäude veralten mit der Zeit, werden unbrauchbar oder ge-nügen gewachsenen Komfort- und Raumansprüchen nicht mehr. Oder sie sind schlicht nicht mehr repräsentativ genug für neue Nutzer und Nutzungen. Der Wunsch nach Neuem ist vor diesem Hintergrund nur zu verständlich. Dennoch gibt es gute Gründe, dem Ruf der Erneuerer nicht immer und ohne nachzu-denken stattzugeben. Die Instandsetzung eines Altbaus verbraucht bis zu zwei Drittel weniger Material als ein gleichwertiger Neubau – und spart damit auch entsprechende Energiemengen für Materialgewinnung und -transport, wie Thomas Lemken in seinem Beitrag für Daylight&Architecture schreibt. Außerdem besitzen gerade viele Altbauten enorme bauliche Qualitäten – sei es nun ein „Extra“ an Raumhöhe und Weite oder hand-

werkliche Details und Zierformen, die an Neubauten nicht mehr zu finden sind. Oft genug liegen diese ästhetischen Qualitäten jedoch verborgen, und erst die Arbeit des Architek-ten holt sie zurück ans Tageslicht. Wie dies geschehen kann, beschreibt Hubertus Adam in seinem Beitrag „Mehr Raum, mehr Licht“ in diesem Heft. Doch die bestehende Bausubstanz in unseren Städten und Dörfern birgt auch eine unvergleichliche Herausforderung: Schlecht gedämmte Altbauten gehören zu den größ-ten Energieverschwendern der Menschheit. Zwar werden nur ein Prozent der Gebäude in Mitteleuropa jährlich erneuert, doch – wie David Strong in seinem Beitrag darlegt – die Gesetzgeber haben vorwiegend Neubauten im Visier, wenn es an die Festlegung von Energieeffizienz-Standards geht. In der aktuellen Ausgabe von Daylight&Architecture beschäftigen wir uns mit allen Fa-cetten der Sanierung bestehender Gebäude: ihren räumlichen Qualitäten und ihrer oft ver-

borgenen Schönheit, den ebenso verborgenen Energie- und Materialressourcen, die in ihnen schlummern. Und mit der Frage, wie viel Erneuerung ökonomisch notwendig und wie viel ökologisch vertretbar ist. Außerdem haben unsere Autoren nachgeforscht, wie sich wan-delnde Ansprüche der Nutzer – etwa der Wunsch nach mehr Tageslicht – die Erneuerung von Gebäuden begünstigen. Auch unser Unternehmen ist aus diesem Wunsch nach Erneu-

erung entstanden: Als Villum Kann Rasmussen vor mehr als 60 Jahren das erste zu öffnende, wind- und regendichte VELUX-Dachwohnfenster erfand, wollte er damit nicht zuletzt die zahlreichen leer stehenden Dachböden von Europas Großstädten bewohnbar machen. Die Weltreise, auf die wir Sie in diesem Heft entführen, handelt jedoch nicht nur von Dachböden: Von Liverpool über New York nach Rotterdam ist unser Fotograf Henrik Kam gereist, um Erneuerung und Verfall, Fortschritt und Stillstand zu dokumentieren. Großes haben alle drei Hafenstädte für die Zukunft vor: aus Industriebrachen, heruntergekomme-nen Arbeitervierteln oder anderen sozialen Problemzonen sollen wieder begehrte Wohnla-gen werden. Oft genug führt dies zu einem kontrastreichen Nebeneinander von Alt und Neu, wenn sich etwa gläserne Wohntürme über verfallene Industrieruinen erheben oder teure

Lofts neben verbarrikadierten, dem Abbruch geweihten Arbeiterhäusern stehen. Dieses Nebeneinander ist jedoch nur ein natürlicher Ausdruck der ganz natürlichen Erneuerung – Zelle für Zelle, Haus für Haus – unserer Städte. Und diese hat ihre Faszination in all den Jahr-tausenden, in denen es Städte gibt, noch nicht verloren.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre von Daylight&Architecture 10.

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STILLSTAND ODER NEUBEGINN LIVERPOOLNEW YORKROTTERDAM

Diese drei Städte hatten eine große Vergangenheit. Haben sie auch eine Zukunft? Daylight & Architec-ture hat sich in Liverpool, Rotterdam und New York umgesehen und nachgeforscht, wie dort Stadter-neuerung betrieben wird – und welche Rolle die Alt-bausanierung dabei spielt.

JETZT

Drei Umbauten bringen frisches Licht in alte Ge-mäuer: Pfeifer Kuhn Architekten haben die Kirche St. Augustin in Heilbronn mit einer Innenhülle aus Polycarbonat versehen, Stürm Wolf Architekten das Dach des Zeughauses von Rapperswil-Jona zu einem ‚Walfischbauch‘ emporgewölbt. Und die Phi-losophische Fakultät der New York University hat dank der Umbaupläne von Steven Holl ein ‚Rückgrat aus Licht‘ erhalten.

MENSCH UND ARCHITEKTUR EINE FRAGE DER SUBSTANZ

Ungefähr 75 % der Gebäudesubstanz, die im Jahr 2020 benötigt wird, sind heute bereits vorhanden. Dennoch richten die Gesetzgeber ihre Aufmerk-samkeit unter dem Schlagwort der CO2-Neutralität vor allem auf prestigeträchtige Neubauten. Dabei ist die flächendeckende energetische Sanierung von Altbauten kein Hexenwerk, wie David Strong in seinem Beitrag erläutert.

VELUX EditorialInhaltJetztMensch und ArchitekturEine Frage der SubstanzStillstand oder NeubeginnLiverpool, New York, RotterdamLicht EuropasBroken LineReflektionenNeuer Glanz für alte Orte Tageslicht im DetailMehr Raum, mehr LichtVELUX EinblickeChimney Pot ParkVELUX im Dialog686 Lichter der ZukunftVELUX PanoramaDidden VillageBücherRezensionen

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WINTER 2008 AUSGABE 10INHALT

D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

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TAGESLICHT IM DETAIL MEHR RAUMMEHR LICHT

Seit dem Beginn der Moderne wünscht sich der Mensch zum Wohnen vor allem zwei Dinge: immer mehr Raum und immer mehr Tageslicht. Wie diese Wünsche bei Umbauten, Anbauten und Aufstockun-gen zu erfüllen sind und zu welch außergewöhnli-chen Lösungen sie Architekten herausfordern, untersucht Hubertus Adam in seinem Beitrag.

VELUX PANORAMA DIDDEN VILLAGE

Nach den Kriterien der Nachhaltigkeit ist die Alt-baumodernisierung gegenüber Neubauten in fast allen Kriterien überlegen: Sie verbraucht weniger Material, weniger Energie und oft auch weniger Fläche. Umso wichtiger ist es, energetische Sa-nierungsprogramme politisch durchzusetzen und wirtschaftlich interessant zu gestalten. Thomas Lemken erläutert, wie die entsprechenden Anreiz-systeme und Informationskampagnen aussehen könnten.

Als ,visuellen Juckreiz’ haben Kritiker den neuen Dach-aufbau von MVRDV mitten in Rotterdam bereits be-zeichnet. Das himmelblaue ‚Dorf auf dem Dach‘ gehört zum Haus des Perückenmachers Sjoerd Didden und bietet dessen beiden Söhnen neuen Wohnraum. Ge-bäude, Terrasse, Brüstungen und Mobiliar sind einheit-lich mit einer blauen PU-Schicht überzogen.

Anfang November wurden in Venedig die Sieger des International VELUX Award 2008 gekürt. Day-light & Architecture hat mit ihnen gesprochen und dabei viel über die unzähligen Facetten des Tages-lichts erfahren, mit denen sich junge Architekten heute beschäftigen.

VELUX IM DIALOG 686 LICHTER DER ZUKUNFT

REFLEKTIONEN NEUER GLANZ FÜR ALTE ORTE

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4 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

Was die Architektur bewegt: Projekte, Veranstaltungen und ausgewählte Neuent-wicklungen aus der Welt des Tageslichts.

JETZT

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Sanfte Lichtreflexe beleben das Kirchengewölbe von St. Augustin in Heilbronn. Die neue Innendecke besteht aus filigranen, verschraubten Stahlrohren und transluzenten Polycarbonat-Stegplatten.

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Von Sakralbauten wird gemeinhin eine schwere, dauerhafte und feier-liche Raumwirkung erwartet – aber nichts, was an eine Industriehalle oder gar an ein Zelt erinnert. Der Umbau der Kirche St. Augustin in Heilbronn von Pfeifer Kuhn Architekten (bis 2005 Pfeifer Roser Kuhn Architek-ten) indes tut beides: Eine filigrane, fast behelfsmäßig wirkende Gitter-schale aus Stahlrohren mit einfachen, verschraubten Knoten hüllt das his-torische Kirchenschiff von innen ein. Sie ist außen mit transluzenten Po-lycarbonat-Stegplatten verkleidet, die das durch die Fenster einfallende Licht sanft streuen. Zugleich stellt sie die ursprüngliche Raumform der Kir-

che wieder her: St. Augustin wurde 1926 durch den Architekten Hans Herkommer als hoch aufragender Natursteinbau mit Satteldach errich-tet. Die Dachkonstruktion aus Stahl-beton war dabei hinter einer inneren, gewölbeartigen Raumschale aus Holzfachwerk verborgen, die jedoch im Zweiten Weltkrieg abbrannte. In der Nachkriegszeit wurde die Kirche dann ohne Holzgewölbe wieder auf-gebaut. Später wurden auch noch die südlichen Langhausfenster zugemau-ert, um die Kirche vor sommerlicher Überhitzung zu schützen.

Seit dem Umbau erstrahlt die Kir-che nun wieder in ihrer alten Licht-fülle. Die Südfenster wurden wieder

geöffnet, und die Innenschale aus Polycarbonat streut das Tageslicht gleichmäßig in den Raum. Zugleich lassen die Reflexionen der zylindri-schen Pendelleuchten einen wah-ren „Glitzerhimmel“ entstehen. Der Zwischenraum zwischen alter und neuer Raumschale dient überdies als wärmedämmendes Luftpolster. Während die warme Luft aus dem Zwischenraum im Sommer direkt wieder nach draußen abgeführt wird, kann die solar erwärmte Luft im Win-ter zur Beheizung der Kirche verwen-det werden. Hierzu wird sie mittels eines Belüftungsgeräts angesaugt und in den Innenraum unter dem Po-lycarbonatgewölbe eingeblasen.

KUNSTSTOFFZELT IM KIRCHENSCHIFF

D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

Kaum wiederzuerkennen ist die Kirche St. Augustin nach ihrem Umbau: Pfeifer Kuhn Architekten haben das Gewölbedach mit den Materialien des Industrie-zeitalters neu interpretiert.

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Das 1904 erbaute und nun von Isa Stürm Urs Wolf Architekten aus Zü-rich umgestaltete Zeughaus in Rap-perswil-Jona ist ein unprätentiöser Zweckbau mit alpenländischem Ein-schlag: Teils vergitterte Fenster, von breiten weißen Faschen gerahmt, gliedern die dunkel gestrichenen Fassaden des zweigeschossigen Bauwerks. Es diente jahrzehnte-lang als Lager für militärische Ge-rätschaften, dann als Werkstatt für örtliche Handwerksbetriebe. Seit wenigen Monaten beherbergt es nun die rund 4000 Objekte umfassende Kunstsammlung von Peter und Elisa-beth Bosshard.

Im eingeladenen Wettbewerb für den Umbau des Lagerhauses zum Kunstmuseum setzten sich Isa Stürm und Urs Wolf 2006 unter drei Mitbe-werbern durch. Das Projekt wurde vom Bauherren „Walfisch“ genannt. Warum, zeigt ein Blick auf die unge-wöhnliche Dachlandschaft: Aus dem ganz leicht geneigten Satteldach wölben sich zwei mit Titanzink ver-kleidete „Wellenberge“ empor, die von ebenfalls wellenförmigen Ober-lichtbändern aus Polycarbonat durchbrochen werden. Sinn, Zweck und innenräumliche Wirkung dieses Eingriffs erschließen sich am deut-

Ludwig Wittgensteins „Bemerkun-gen über die Farben“, ein Spätwerk des berühmten Philosophen, stand Pate für die Gestaltung des neuen Treppenhauses der Philosophischen Fakultät an der Universität New York. Der neue Fakultätssitz ist ein sechsgeschossiger Ziegelbau von 1890 im Stadtteil Greenwich Vil-lage. Seine großen Fenster und die Lage an einer Straßenecke prädesti-nieren ihn für Tageslichtexperimente, wie sie der mit dem Umbau beauf-tragte Steven Holl hier anstellte: Eine prismatische Folienbeschichtung an den Südfenstern bricht das Licht in regenbogenfarbige Streifen, die mit dem Lauf der Sonne durchs Treppen-haus wandern. Auch die unregelmä-ßig perforierten Stahlbrüstungen tragen mit ihren Schattenwürfen zu der abwechslungsreichen Licht-stimmung im Raum bei. Die Architek-ten vergleichen das Treppenhaus mit einem „Rückgrat aus Licht“, das die Büroräume, die Bibliothek und den 120 Personen fassenden Hörsaal im Erdgeschoss miteinander verbindet. Das Treppenhaus, so die Architek-ten, ist „nicht nur eine Metapher des Lichts zum Lernen, sondern auch ein praktischer Raum der Interaktion, in dem sich Studenten und Professoren

LICHTWELLEN IM GEBÄLK

lichsten im Obergeschoss des Zeug-hauses, der Ausstellungsebene. Hier gliedern 42 Holzstützen den weitläu-figen Raum. Auf die Herstellung eines neutralen, stützenfreien „white cube“ verzichteten die Architekten be-wusst: Die Kunstwerke müssen sich mit dem Bestand arrangieren und tre-ten mit diesem in Dialog. Um die Aus-stellungsflächen adäquat zu belichten, ließen die Architekten den Dachstuhl in der Raummitte anheben und ein-zelne Sparren verlängern, sodass im Aufriss wie im Grundriss sanft ge-schwungene Linien entstehen.

Für die charakteristische Wellen-form der Oberlichter haben Isa Stürm und Urs Wolf eine einfache und doch einleuchtende Begründung: „Dies er-gibt ein natürliches Lichtspiel und schafft Möglichkeiten, Werke in un-terschiedlichen Raum- und Licht-stimmungen zu zeigen, das Licht zu modulieren.“ Um das Wechselspiel zwischen Licht und Kunst zur Geltung kommen zu lassen, reduzierten die Ar-chitekten die im Innenraum vorhan-denen Farb- und Materialkontraste des Holzwerks: Die Holzkonstruktion wurde weiß gestrichen und auf die alten Holzriemen ein sandfarbener Anhydrit-Boden gegossen.

auf den großen Treppenabsätzen un-gezwungen begegnen können“. Zu-sätzlich zu den großen Fenstern wird das Treppenhaus über ein Oberlicht erhellt. Während dieses „Rückgrat“ des Gebäudes bis hin zu den ge-strichenen Ziegelmauern fast kom-plett in Weiß gehalten ist, wurden die Büros und Seminarräume in den Obergeschossen – auch dies eine Re-verenz an Wittgensteins Buch – in unterschiedlichen Schattierungen und Texturen von Weiß und Schwarz gestaltet.

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DAS LICHT DER PHILOSOPHEN

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MENSCH UNDARCHITEKTUR

Der Mensch im Mittelpunkt der Architektur:Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.

EINE FRAGEDERSUBSTANZ

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Von David Strong

Die britische Regierung meint es ernst mit der Energieef-fizienz von Gebäuden: Ab 2016 müssen alle Neubauten in Großbritannien Nullemissionshäuser sein. In anderen europäischen Ländern sind ähnliche Maßnahmen geplant. Die Fixierung auf Neubauten birgt jedoch die Gefahr, die öffentliche Aufmerksamkeit (und die öffentlichen Gelder) von einem noch viel dringenderen Problem abzulenken: Die Energieeffizienz des alten Hausbestands muss schnell und drastisch verbessert werden.

2006 fasste die britische Regierung einen ehrgeizigen Beschluss: Ab 2016 müssen alle neuen Wohnhäuser, ab 2019 auch alle sonstigen Neubauten CO-neutral sein. Dies hatte im ganzen Land spürbare Auswirkungen auf Immobilienbesitz und Bau-industrie. Das Nullemissionsziel rüttelte Haus- und Grund-besitzer wach und gab Anstoß zu innovativen Ideen. Ohne politischen Druck und restriktive Gesetzgebung wäre dies vermutlich nicht geschehen.

Natürlich ist das große Interesse an nachhaltiger Bauweise eine erfreuliche Neuigkeit. Es ist sehr begrüßenswert, dass Nachhaltigkeit nun endlich ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Die britische Regierung zeigt Flagge, um energieeffiziente Architektur und nachhaltige Siedlungspla-nung zu fördern, und setzt so ein vielversprechendes Zeichen. Trotzdem erkennen ernsthafte Verfechter nachhaltigen Bau-ens hierin ein gewisses Dilemma.

Denn exemplarische Nullemissionshäuser allein lösen das Grundproblem nicht. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Fixierung auf die CO2-Neutralität merkwürdige Blüten treibt und der Nachhaltigkeit unbeabsichtigterweise eher schadet als nützt. Kurzum: Man will das Beste und vergisst das Gute.

Die britische Regierung verlangt, dass alle neu gebauten Wohnhäuser ab 2016 dem höchsten Standard (Level 6) des Code for Sustainable Homes entsprechen. Angesichts der benötigten Zeit für Planung, Konkretisierung und Finanzie-rung solcher Häuser müssen Hausbauer und Architekten bis 2012 dementsprechende Lösungen gefunden haben. Es blei-ben also drei Jahre Zeit, im sozialen Wohnungsbau sogar noch weniger. Hier müssten durchschnittliche Neubauten eigent-lich heute schon Level 3 oder 4 entsprechen.

Schnell wird so die irrige Botschaft vermittelt, dass Neu-bauten des Levels 6 unser aller Allheilmittel sind. Weit gefehlt. Wenn wir Nullemissionshäuser des Levels 6 unter Rückgriff auf unerprobte oder riskante Technologien bauen, die unwirt-schaftlich im Unterhalt sind, in Überschwemmungsgebieten gebaut werden, im Sommer überhitzen und eine schlechte Akustik, eine schlechte Raumluftqualität oder andere Män-gel haben, können wir uns zu einer ganzen Generation kaum bewohnbarer Häuser gratulieren. So sieht ‚wahre Nachhal-tigkeit‘ gewiss nicht aus.

CO2-Neutralität ist kein AllheilmittelUm den CO-Ausstoß des gesamten Gebäudebestands zu sen-ken, ist eine dreigleisige Strategie erforderlich. Erstens muss das Stromversorgungsnetz von fossilen Energieträgern unab-hängig werden. Zweitens müssen bei Neubauten Niedrig- oder Nullemissionshäuser gefördert werden. Und drittens bedarf es eines koordinierten landesweiten Plans, um die Emissions-werte des Altbaubestands radikal zu verbessern.

Die von der britischen Regierung in diesem Sommer ver-kündete Renewable Energy Strategy ist sehr hilfreich für den ersten Punkt und bringt uns einen großen Schritt voran in Richtung eines niedrigeren CO-Ausstoßes. Initiativen wie der Code for Sustainable Homes und Zielvorgaben wie CO-neu-trale Neubauten sind wichtig für den zweiten Punkt. Doch wie begegnen wir dem dritten Punkt? Leider haben wir immer noch keine kohärente und effektive Strategie gefunden, wie wir mit dem enormen Energieverbrauch unserer alten Häu-ser umgehen sollen.

Warum ist dies so wichtig? Gehen wir davon aus, dass 70 der Gebäude, die in Großbritannien im Jahr 2050 exis-tieren werden, heute bereits gebaut sind: die meisten Häuser, in denen wir auch noch in 20 Jahren wohnen werden, sind schlecht gedämmt und verfügen weder über Heizsteuerungen noch über andere Energiesparmaßnahmen – und das lässt uns im europäischen Vergleich ganz schlecht aussehen.

Schon lange haben wir erkannt: Die Verbesserung der Energieeffizienz bestehender Gebäude ist die billigste, sau-berste und sicherste Methode, um Kohlendioxid einzusparen. Der Hauptgrund dafür ist, dass Altbauten nicht den moder-nen Bauvorschriften entsprechen, weil sie zu einer Zeit geplant und gebaut wurden, als Nachhaltigkeit und Energieeffizienz noch keine Rolle spielten.

Natürlich geht es bei der CO-Einsparung in erster Linie um das Aufhalten der Erderwärmung, aber wir dürfen auch nicht die direkten Vorteile energieeffizienterer Altbauten aus dem Auge verlieren, insbesondere die Bekämpfung der Ener-giearmut. Diese durch hohe Energiekosten verursachte Armut ist ein altbekanntes Problem, von dem vor allem ältere Men-schen oder sozial schwache Gesellschaftsgruppen betroffen sind.

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10 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

Weniger ist oft mehr: Wo Städte schrumpfen, wie in Ost-deutschland, müssen sinnvolle Nachnutzungen für die überdi-mensionierten Altbauten gefun-den werden. Das Büro Stefan Forster hat hierbei im thüringi-schen Leinefelde Wegweisen-des geleistet und wurde unter anderem mit dem ‚World Habitat Award‘ ausgezeichnet.

Energiearmut ist nicht leicht zu beheben, da sie durch eine Viel-zahl wirtschaftlicher und sozialer Faktoren verursacht wird. Zu viele Menschen müssen immer noch weit mehr als 10 % ihres Einkommens für Heizkosten aufbringen, einige müssen gar zwischen Heizen und Essen abwägen. Nach dem jüngs-ten Anstieg der Energiepreise werden schätzungsweise bis zu 6 Millionen Menschen in Großbritannien von dieser Art der Armut betroffen sein.

Ein wirksamer Langzeitplan zur Verbesserung der Ener-gieeffizienz von Altbauten (ergänzt durch ein geeignetes Pro-gramm zur Förderung erneuerbarer Energien) wird daher nicht nur dazu beitragen, die Zielvorgaben der Regierung zu CO-Emissionen zu erreichen, sondern auch beträchtliche soziale Vorteile haben.

Die besten Lösungen sind effizient und einfachÜber die notwendigen Maßnahmen besteht weitgehend Kon-sens, insbesondere infolge der neuen EU-Direktive zur Energie-effizienz von Gebäuden. Sie sieht vor, anhand eines speziellen Energiebewertungs- und Zertifizierungssystems Energiever-bräuche transparent zu machen und besonders kosteneffektive Energiesparmaßnahmen in Gebäuden zu belohnen.

Technisch gesehen sind die effektivsten Verbesserungen energieineffizienter Gebäude im Allgemeinen sehr einfach und risikofrei, zudem kosteneffizient und problemlos umzu-setzen. Hierzu gehören eine bessere Wärmedämmung (von Dachböden, Wänden, Fußböden, Tanks und Rohren), Luft-durchlässigkeitstests, Zweit- und Doppelverglasung, Boiler und Armaturen der Effizienzklasse A, verbesserte Heizsys-teme, erweiterte Kontrollsysteme und effiziente Beleuchtung. Auch Technologien wie Solar-Heißwasseranlagen und Erd-wärmepumpen bieten innovative Lösungen, und öffentliche Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen versprechen höchst kos-teneffiziente Verbesserungen in großem Umfang.

Auch die Maßnahmen, mit denen sich die ökologische Sanierung und Nachrüstung von Altbauten fördern lässt, sind bekannt. Nötig sind Maßnahmenpakete aus Gesetzen und finanziellen Anreizen in Verbindung mit effektiven Informa-tionskampagnen. Mögliche Optionen sind Steuervergüns-tigungen sowie direkte finanzielle Fördermaßnahmen, um die Umsetzung der in den britischen Gebäude-Energiepässen

Energy Performance Certificate (EPC) oder Display Energy Certificate (DEC) vorgeschlagenen Sanierungsmaßnahmen zu belohnen.

Wünschenswert wäre bei der nächsten Überarbeitung der EU-Direktive die Einführung einer Vorschrift, die das Aus-hängen von DECs in allen Geschäftsbetrieben wie großen Supermärkten und Hotels zur Pflicht macht. So ließe sich ein Anreiz für die Verbesserung der Energieeffizienz auch im Dienstleistungssektor bieten. Zudem sollten Bauherren bei Ausbau- oder größeren Umbauarbeiten dazu verpflichtet wer-den, gleichzeitig die Energieeffizienz des betreffenden Gebäu-des zu erhöhen.

Wir bei Inbuilt arbeiten mit unseren Kunden zusammen, um unsere Abhängigkeit von energieintensiven Systemen zu ver-ringern. Die Natur bietet vielfältige Möglichkeiten, um unsere Häuser zu belüften, zu erwärmen, zu kühlen und zu beleuchten. Auf komplizierte technische Anlagen kann sowohl in Neubau-ten als auch bei Sanierungsprojekten oftmals verzichtet werden. Wir legen Wert auf möglichst einfache Energieanlagen und -aus-rüstung. Komplizierte Technik zu vermeiden ist nicht immer einfach, aber unsere Erfahrung zeigt, dass genau dies häufig der Schlüssel für komfortable und gleichzeitig wirtschaftliche Lösungen mit niedrigen Emissionswerten ist.

Zudem weichen die tatsächlichen Energieverbräuche von Gebäuden aufgrund des unterschiedlichen Nutzerverhaltens häufig entschieden von den vorher ermittelten Rechenwerten ab. Klare und aktuelle, für jedermann einsehbare Informati-onen in den Häusern über Emissionswerte und laufende Kos-ten würden viele Bewohner veranlassen, ihren Verbrauch zu reduzieren.

Um den CO-Ausstoß des Altbaubestands wirksam zu reduzieren, bedarf es der konkreten Planung und gesicher-ten Finanzierung erneuerbarer Energiesysteme in großem Maßstab. Beide Maßnahmen werden bezogen auf das inves-tierte Kapital pro eingesparter Tonne CO viel schnellere und effektivere Ergebnisse zeigen als das Vorhaben, zukünftig nur noch Nullemissionshäuser zu bauen. Unsere Regierung hat mit ihren Vorschriften für Neubauten einen wichtigen Schritt getan. Nun gilt es, eine ebenso klare Strategie für Altbauten festzulegen. Die folgende Liste könnte einen Anhaltspunkt hierzu geben.

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Rückbau eines Wohnblocks in Leinefelde, D

Architekten: Stefan Forster Architekten, Frankfurt/Main

Standort: Goethestraße 25-31, Leinefelde

Wohnfläche: 1580 m²

Fertigstellung: 2003

Bauherr: LWG, Leinefelde

Weniger (und größere) Wohnungen, aber mehr privater Raum im Freien: Nach diesem Prinzip verfuhren Stefan Forster Architekten auch beim „Haus 4“ in Leinefelde. Die Gebäudehöhe wurde von fünf auf dreieinhalb Geschosse redu-ziert, die Eingänge wurden auf die Hofseite verlegt und die Grundrisse völlig neu geordnet. Die obersten Wohnungen erhielten große Dachterrassen, die übrigen tiefe Balkone.

Stadtvillen in Leinefelde-Worbis, D

Architekten: Stefan Forster Architekten, Frankfurt/Main

Standort: Einsteinstraße 11–25, Leinefelde

Wohnfläche: 4200 m²

Fertigstellung: 2004

Bauherr: WVL Wohnungsbau-Verwaltungs-GmbH, Leinefelde

Der 180 Meter lange Wohnblock in Leinefelde war nicht mehr vernünftig zu nutzen. Stefan Forster Architekten zerlegten ihn daher in acht einzelne, je vier-geschossige Stadtvillen. 90 Wohnungen fielen diesem Schritt ‚zum Opfer‘. Die noch verbliebenen sind jedoch weitaus hochwertiger und großzügiger als zuvor. Sie entsprechen damit dem Motto der Architekten: ‚Qualität durch Schrumpfung‘.

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Fort Dunlop, Birmingham, GB

Architekten: shedkm architects, Liverpool

Standort: Fort Parkway, Birmingham

Nutzfläche: 31,000 m²

Fertigstellung: 2004

Bauherr: Urban Splash, Manchester

Das frühere Reifenlager des Herstellers Dunlop war Bestandteil eines auch „Tyre Town“ genannten Gebäudekomplexes. 20 Jahre stand es leer, bevor der Investor-Urban Splash hier das größte durch einen Investoren finanzierte britische Bü-rohaus außerhalb von London realisierte. In einem schlanken, scheibenförmigen blauen Anbau ist ein Hotel mit 100 Zimmern untergebracht.

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Lister Mills, Bradford/Yorkshire, GB

Architekten: David Morley Architects, London

Standort: Lilycroft Road, Bradford

Nutzfläche: 13,500 m²

Fertigstellung: 2013 (planned)

Bauherr: Urban Splash, Manchester

Die britische ‚Times’ bezeichnete die einst weltgrößte Seidenweberei in Brad-ford nach ihrer Fertigstellung als „genauso atemberaubend wie Versailles“. Der fast 10 Hektar große Gebäudekomplex aus dem Jahr 1873 wird derzeit von Urban Splash zu Wohnungen, Büros und Läden umgebaut. Die Dachauf-bauten mit 24 Maisonnette-Wohnungen sind von Garnspulen inspiriert, wie sie bei der Seidenverarbeitung verwendet wurden.

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14 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

Tipps zur Energieeinsparung in AltbautenDas perfekte ‚Verbesserungspaket‘ für jedes Wohn- oder Geschäftshaus hängt natürlich von dessen Alter, Konstruk-tion, Erhaltungsqualität und Nutzung ab. Dennoch sind fol-gende Ratschläge für alle gültig, die ihren Energieverbrauch einfach und kosteneffektiv senken möchten:

. Innovation durch Information – Mieter in oder Eigentümer von alten Häusern müssen von Beginn an zu Rate gezo-gen werden. Keine noch so imposante ‚technische Zaube-rei‘ wird zu einer nachhaltigen Zukunft führen, wenn sie den Nutzern nur aufgebürdet wird.

. Augen auf für lokale Initiativen – Es gibt viele Möglich-keiten, den alten Hausbestand mit lokalen Niedrig- oder Nullemissionsneubauprojekten zu verbinden, um von neuen Technologien wie Kraft-Wärme-Kopplungssyste-men (CHP) zu profitieren. Lokalen strategischen Part-nerschaften und regionalen Entwicklungsgesellschaften kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu.

. Zukunftsorientiert denken – Sich kurzsichtig auf schnelle Maßnahmen und Ziele zu fixieren, bringt oft nicht viel und kann für umfangreiche langfristige Verbesserungen eher kontraproduktiv sein. Eine Kampagne zur Installa-tion von Gasbrennwertkesseln im Jahr macht zum Beispiel wenig Sinn, wenn für Abwärmeleitungen geplant sind. Solche ‚Schnellschüsse‘ machen spätere Ver-änderungen in den nächsten bis Jahren unwahr-scheinlich.

. Gemeinsam sind wir stark – Sanierungen mit wirklich geringem Kohlenstoffausstoß erfordern sowohl weit-reichende Veränderungen in der Bausubstanz als auch Niedrig- bzw. Nullemissionstechnologien in der Gebäu-detechnik. Die Installation und Auftragsvergabe solcher Systeme im Alleingang kann kontraproduktiv sein; wir-kungsvoller sind Komplettsanierungen von ganzen Gebäu-den oder Straßenzügen, um die finanzielle Belastung zu senken und Gemeinschaftssinn nach dem Motto ‚Kurz-fristiges Leid, aber Gewinn auf lange Zeit‘ zu fördern.

. Minimale Schritte zum maximalen Erfolg – Die Zurschau-stellung erneuerbarer Energietechnologien an Gebäuden mag einem öffentlichkeitswirksamen Bekenntnis zur Umwelt

gleichkommen, sollte aber eigentlich nur der letzte Schritt in jedem Umweltprojekt sein. Die Verbesserung der Gebäu-desubstanz zur Reduzierung von Wärme- und Luftverlus-ten ist besonders wichtig, um den Brennstoffverbrauch zu senken und dadurch die finanziellen Mittel für erneuerbare Energietechniken bereitzustellen.

. Es geht nicht nur um Wände und Boiler – Die unmittel-bare Umgebung eines Gebäudes kann signifikante Aus-wirkungen auf den eigenen Energieverbrauch haben. So kann die Umwandlung von Parkplätzen in Grünflächen mit Abstellplätzen für Fahrräder durchaus vielen Bewoh-nern den Anstoß geben, öfters auf das Auto zu verzichten. Kombiniert mit Energiekontrollsystemen, die auch aktu-elle Informationen zum öffentlichen Transportverkehr lie-fern, fördert dies das allgemeine Umweltdenkend.

. Langfristig denken – Raffinierte Dämmtechniken bergen die Gefahr unerwünschter Nebeneffekte. Beispiel hierfür sind gedämmte, innere Vorsatzschalen (zum Beispiel aus Gipskarton) bei Massivbauten. Sie sollen Wärmeverluste reduzieren, isolieren jedoch auch die thermische Masse der Außenwände vom Innenraum und begünstigen dadurch eine Überhitzung der Räume im Sommer.

. Alte Häuser ticken anders – Traditionelle Bautechniken und Materialien basieren auf dem Prinzip der Dampfdurchläs-sigkeit zur Absorption und Regulierung von Feuchtigkeit. Die unbedachte Installation moderner Hochleistungs-materialien kann Schäden in der Bausubstanz ungewollt beschleunigen.

. Geld regiert die Welt – Das ist so, ob es uns nun gefällt oder nicht. Ohne deutliche finanzielle Anreize wie Steuerver-günstigungen, zinslose Darlehen oder garantierte zukünf-tige Energiepreise werden viele glauben, dass die Regierung wieder einmal dem kleinen Mann in die Tasche greift, anstatt große Industriebetriebe zur Kasse zu bitten.

. Wer hat das Licht ausgemacht? – Aufgrund des Verhal-tens der Bewohner übersteigt der Energieverbrauch eines Gebäudes oftmals die Planvorgaben. Deutliche und aktu-elle Informationen über den CO-Ausstoß und die hiermit verbundenen Kosten können jeden Bewohner veranlassen, den eigenen Verbrauch zu reduzieren.

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VON STERNEN UND FARBENDer Code for Sustainable Homes misst die Nachhaltigkeit eines Neubaus in neun Kategorien: Energieverbrauch und CO2-Ausstoß, Verschmutzung, Wasserqualität, Gesundheit und Wohlbefinden, Materialien, Gebäudemanagement, Oberflächenwas-serabführung, Ökologie und Abfallerzeugung. Mit einem Bewertungssystem von 1-6 Sternen werden sowohl die in jeder Kategorie erzielten Einzelergebnisse als auch die gesamte nachhaltige Leistung jedes Gebäudes beurteilt. Ein Stern ( ) entspricht dem Mindestniveau, das die gültigen Bauvorschriften überschreitet; sechs Sterne ( ´´´´´) sind das Optimum und zeichnen beispielhafte nachhaltige Entwick-lungen aus. In einigen Kategorien müssen Mindestanforderungen erfüllt werden, um für das Gebäude als Ganzes einen Stern ( ) für Nachhaltigkeit zu erlangen. Abgese-hen hiervon ist die Auszeichnung völlig flexibel: Jeder Bauunternehmer kann wählen, welche und wie viele Normen er umsetzen möchte, um ‚Punkte zu sammeln‘ und eine Höherstufung zu erreichen.

Energy Performance Certificates (EPC s) sind seit Oktober 2008 für alle Häuser in Großbritannien Pflicht. Diese Energiezertifikate müssen bei Kauf, Verkauf oder Ver-mietung jedes Gebäudes ausgestellt werden. Sie weisen den Energieeffizienzwert eines Hauses anhand einer Klassifizierung von A (Rot) bis G (Grün) nach, die an das bereits praktizierte ‚Energie-Rating‘ von Haushaltsgeräten erinnert. Jedem EPC ist ein Emp-fehlungsbericht mit Maßnahmen (z. B. Niedrig- oder Nullemissionssysteme) zur Redu-zierung des Energieverbrauchs beigefügt. Eine Zweitbewertung im Zertifikat gibt an, welche Zielwerte bei Umsetzung aller Empfehlungen zu erreichen wären.

Display Energy Certificates (DEC s) sind Energiezertifikate für öffentliche Gebäude, die sichtbar anzubringen sind und den tatsächlichen Energieverbrauch eines Gebäudes sowie die entsprechende Effizienzklasse nachweisen. Der ermittelte Wert basiert auf dem gemessenen Gas- und Stromverbrauch sowie sonstigen Verbrauchswerten des betreffenden Gebäudes. Neuerdings sind Display Energy Certificates in Großbritannien für alle Gebäude mit einer Nutzfläche von mehr als 1000 m2 Vorschrift, die von öffent-lichen Behörden oder Institutionen mit regem Publikumsverkehr genutzt werden.

Renewable Energy Strategy: 2007 vereinbarten die EU-Mitgliedstaaten, dass bis 2020 20 % der in der EU genutzten Energie aus erneuerbaren Quellen stammen muss. Für den Transportsektor lautet die Zielvorgabe 10 %. Die Werte für die einzelnen Mit-gliedsstaaten sind unterschiedlich: Großbritannien etwa hat sich verpflichtet, bis 2020 15 % des landesweiten Energiebedarfs (und somit ein Zehnfaches mehr als derzeit) aus erneuerbaren Energiequellen zu decken. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, hat die britische Regierung für das Frühjahr 2009 eine neue Strategie zur Förderung erneuerbarer Energie (Renewable Energy Strategy) angekündigt.

Dr David Strong ist Vorstandsvorsitzender von Inbuilt, einem führenden Beratungs-unternehmen in Großbritannien, das ausschließlich auf nachhaltige Bauweise von Häusern, öffentlichen Gebäuden und Gemeinden spezialisiert ist. Als Gründer des UK Green Building Council wurde er 2007 mit dem Sustainability Leadership Award aus-gezeichnet. www.inbuilt.co.uk

Biotürme in Lauchhammer, D

Bauherr: Biotürme Lauchhammer gGmbH, Lauchhammer

Architekten: Zimmermann und Partner, Cottbus

Standort: Lauchhammer

Fertigstellung: 2008

In den sogenannten ‚Biotürmen‘ im thüringischen Lauchhammer wurden einst die Abwässer einer Kokerei geklärt. Nach deren Stilllegung 1991 waren sie der einzige Bestandteil der Industrieanlage, der vom Abriss verschont blieb. Jetzt wurden die 22 Meter hohen, zu sechs Vierergruppen zusammengefass-ten Schlote denkmalgerecht saniert und mit einer gläsernen Aussichtskanzel versehen. Sie sollen künftig als Veranstaltungsort genutzt werden.

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ERNEUERN Die Renaissance unserer Städte:Eine Weltreise in drei Stationen

STILLSTAND ODER NEUBEGINN

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Die Zeit des ‚urban sprawl‘ ist noch nicht ganz vorbei, doch die interessantesten Wohnbauprojekte finden längst wieder in den Innenstädten statt. Urbane Brachen, aufgelassene Hafengebiete, ehemalige Fabriken, Schulen und Verwaltungsgebäude bergen große Potenziale für neuen Wohnraum. Doch allzu leicht gerät die Frage aus dem Blickpunkt, wer in die alt-neuen Wohnungen eigentlich einziehen soll: Nur eine gesunde Mischung der Wohnungsgrößen, Altersgruppen und sozialen Schichten trägt wirklich zu einer nachhaltigen Belebung der Städte bei. Welchen Mechanismen ist die Stadterneuerung unterworfen, welche Kräfte wirken auf sie ein? Daylight & Architecture ist diesen Fragen in Liverpool, Rotterdam und New York nachgegangen. Dabei zeigen sich Parallelen zur derzeitigen Situation in der Welt-wirtschaft: Städte, die Wert auf eine behutsame Entwicklung und auf eine kulturelle und soziale Diversi-fizierung legen, können in Boom-Zeiten weniger mit spektakulären Projekten glänzen. Doch sie erweisen sich in schlechten Zeiten auch als krisenfester.

Fotos von Henrik KamEinleitung von Jens KvorningLiverpool: Joseph SharplesNew York: Thérèse BalduzziRotterdam: Anneke Bokern

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22 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

Veränderungen anzupassen. Doch bei Archigram wird diese Stadt zu einer riesigen Megastruktur auf Stelzen, die sich bewegt.

Etwas böswillig und auf eine der ursprünglichen Intention zuwider-laufende Weise interpretiert, die für die 60er-Jahre nicht in Frage käme, könnte man sagen, dass wir hier das Bild einer Gesellschaft vor Augen haben, die sich so einrichtet, dass man sich, wenn die Ressourcen an einem gegebenen Ort aufgebraucht sind – seien es Naturressourcen oder Erleb-nisressourcen – an einen anderen Ort begibt, um auf ebendiese Weise fort-zufahren.

Damit lenken wir den Blick auf einen anderen Aspekt der aktuellen Tagesordnung. Anpassungsfähig-keit und die Bereitschaft zur Verän-derung sind durchaus wichtig, wenn wir von Städten reden. Doch ein ver-antwortungsvoller Umgang mit un-seren Natur- und Kulturressourcen ist entscheidend für unser Überle-ben. Wie müssten wir unsere Städte und Gebäude betreiben, um diese durch Globalisierung und Ressour-cenproblematik gestellte doppelte Aufgabe zu erfüllen – und ist beides überhaupt zeitgleich zu leisten? Hinzu kommt die Frage, welche Stadtstruk-turen Veränderungen am leichtesten aufnehmen können. Die nach Funkti-onen gegliederte Stadt der Moderne mit unterschiedlichen Bereichen zum Wohnen, Arbeiten und für die Freizeit galt als Antwort auf diese Forderung, weil sich jede Funktion frei und damit ihrer eigenen Logik gemäß entwi-ckeln konnte. Heute zeigt es sich, dass diese spezialisierten Stadtteile ungeheuer statisch sind und es sehr schwer haben, Veränderungen und insbesondere neuen Funktionsmi-schungen Raum zu geben. Sie legen vielmehr bestimmte Formen und Ab-läufe des täglichen Lebens fest und konservieren diese.

Kurze Zeit nach dem Großen Brand von London im Jahr 1666 meldete sich die gebildete Elite der Stadt zu Wort. Sie präsentierte ihre Vor-schläge, wie London wieder neu ge-schaffen werden könnte, als eine völlig andere Stadt, basierend auf den Ideen der späten Renaissance und des frühen Barock, klar hierar-chisch gegliedert und mit großen Achsen und zentralen Punkten ver-sehen.

Das erzürnte Bürgertum Lon-dons wies jedoch die Vorschläge Wrens und Evelyns zurück und ver-langte stattdessen, seine Häuser auf den bereits bekannten Grundflächen wieder errichten zu dürfen. Wohl war es ein neues London, das nach dem Brand aufgebaut wurde, also eine Stadt aus neuen Häusern, aber die grundlegende Struktur der Stadt wurde dabei nicht verändert.

Gleiches geschah nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Architekten und Stadtplaner der Moderne hat-ten in den Jahren um 1920 und 1930 für einen Neubeginn gekämpft, der die traditionelle Stadt mit ihren Stra-ßen und Plätzen hinter sich ließ. Die Kriegszerstörungen in vielen großen Städten Europas hatten während des

Krieges den für diesen Neubeginn nö-tigen Raum geschaffen. Aber die Bür-ger der zerbombten Städte leisteten auch diesmal enormen Widerstand. Sie wollten den Wiederaufbau der Stadt so, wie sie sie kannten. Le Cor-busier hatte in den 20er-Jahren auf einer seiner Skizzen zur Totalerneu-erung des Zentrums von Paris sar-kastisch notiert: „L’academisme dit non“ – womit er zu verstehen geben wollte, dass es seiner Auffassung nach nur eine konservative akade-mische Gruppe mit zu viel Einfluss war, die seine Visionen nicht verste-hen konnte. Die Kräfte, die ernsthaft als Träger der neuen Zeit in Betracht kamen, verstanden ihn seiner Mei-nung nach dagegen gut – sie kamen bloß nicht zum Zuge.

Die Nachkriegszeit und der Widerstand gegen das NeueIn den 60er-Jahren wiederholte sich die Geschichte nochmals in Verbindung mit umfangreichen Sa-nierungsprojekten, die in fast allen großen europäischen Städten an-standen. Diese Projekte basierten auf einer pragmatischen Variante der Städtebauvisionen der Moderne. Sie kollidierten mit dem gleichen Wi-

derstand und den gleichen Forderun-gen wie diese, änderten aber nichts an der Situation der bereits vorhan-denen Stadtteile.

Wir blicken also auf eine lange Tradition zurück, was die Wieder-verwendung städtischer Strukturen anbelangt. Häuser werden ausge-tauscht und die Bebauung erneuert, während sich die Gesamtstruktur der Stadt nur langsam ändert. Aller-dings gilt diese Feststellung nur, so-lange wir europäische Städte – und zwar die zentralen Teile europäischer Städte – betrachten.

In amerikanischen oder gar asi-atischen Städten sieht die Sache vollkommen anders aus. Bei den radikalsten Beispielen findet in jeder Generation ein Neubeginn statt, der sich in einer grundlegen-den Änderung der zentralen Stadt-teile ausdrückt. Die amerikanischen und asiatischen Städte gelten weit-hin als Ausdruck der Globalisierung und ihrer Dynamik, während sich in den europäischen Städten – so diese Lesart – eine Kultur manifestiert, die nicht mehr Schritt halten kann.

Wie Städte beweglich bleibenWenn wir uns darüber einig sind, dass die Globalisierung und der Übergang von der Industriegesellschaft zur In-formationsgesellschaft ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Mobilität erfordern, dann wird die Untersuchung interessant, wie diese erforderliche Anpassungsfähigkeit mit den städtischen Strukturen ver-bunden ist.

Ein markantes Bild davon, wie diese Frage früher beantwortet wurde, können wir in Archigrams „Moving Ci-ties“ finden. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass eine gewaltige ge-sellschaftliche Dynamik unablässige Veränderungen erfordern würde. Ar-chigrams Antwort war, dass sich die Stadt bewegen muss, um sich diesen

Neubau und Flächensanierung oder behutsame Erneuerung des Bestehenden? Vor dieser Alternative stehen Architekten und Stadtplaner, seit es Städte gibt. Der Traum der Moderne vom radikalen Neuan-fang ist geplatzt. Nun muss sich die Planung in Europa neuen Leitbildern zuwenden, die die Vorzüge der traditionellen Stadt – allen voran ihre Dichte und ihre Funktionsmischung – erhält und dennoch eine stän-dige Erneuerung der Städte möglich macht.

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Neue Leitbilder: Funktionsmischung und DichteWenn wir einige der dichten, tradi-tionellen Stadtteile betrachten, so sehen wie ein Bild, auf dem Woh-nungen und unterschiedliche Er-werbs- und Kulturfunktionen dicht miteinander verwoben sind, und wo es ständig zu Verschiebungen und neuen Interaktionen kommt. Das gibt diesen Stadtteilen eine aus-geprägte kulturelle und soziale Dy-namik sowie einen hohen Grad an Anpassungsfähigkeit.

Selbstverständlich können wir auch neue Städte mit einem hohen Grad an Funktionsmischung bauen, die besser funktionieren als die nach Funktionen gegliederten Städte der Moderne. Dennoch wird die Wie-derverwendung alter Stadtgebiete immer eine zusätzliche Dimension an Komplexität besitzen. Der Grund hier-für liegt in der zeitlichen Dimension. In den alten Stadtteilen stehen Gebäude aus vielen verschiedenen Epochen mit vielen unterschiedlichen Raum-typen, mit Wohnungen in vielen un-terschiedlichen Preisklassen und mit einem funktionalen und symbo-lischen Wert, der viele verschiedene Arten von Erlebnissen und Aktivitä-ten unterstützt.

Auch in Bezug auf ein größeres Ressourcenbewusstsein und einen niedrigeren Energieverbrauch schä-len sich einige Gemeinsamkeiten und wesentliche Positionen heraus. Für die meisten Experten ist die Dichte der Stadt ein entscheidender Parameter. Sie hat zur Folge, dass wir den priva-ten Autoverkehr reduzieren und den öffentlichen Nahverkehr sowie Fuß-gänger- und Fahrradverkehr fördern können. Eine ebenso große Bedeu-tung kommt dem Energieverbrauch der Gebäude zu. Viele zeitgenössische Planungskonzepte fordern daher, als Antwort auf die Herausforderungen völlig neue, dichte Städte mit ener-

gieeffizienten Gebäuden zu bauen. Verweist dies nun auf einen neuen Typ des Neuanfangs oder eher auf eine neue Art der Wiederverwendung des Bestands? Diese Frage lässt sich nicht allgemein beantworten. In Asien etwa werden ständig völlig neue Städte ge-baut, und es macht in diesen gewalti-gen Umbildungsprozessen wenig Sinn, sich auf den Erhalt kulturhistorischer Werte zu fokussieren.

Konzentrieren wir uns jedoch auf die europäischen Städte, sieht die Si-tuation ganz anders aus. Hier ist das Neubauvolumen im Verhältnis zur Größe der Städte so begrenzt, dass die pragmatische Antwort auf unsere doppelte Herausforderung – Dynamik der Globalisierung und Ressourcen-problematik – notwendigerweise die Wiederverwendung sein muss. Ge-nauer: Wiederverwendung in einer Form, die die bereits gebauten Teile der Städte für die Herausforderun-gen ertüchtigt, denen wir gegen-überstehen.

Soziale Vielfalt ...Wir sollten uns auch vor Augen hal-ten, dass die Stadt in der Lage sein muss, höchst unterschiedlichen sozi-alen und kulturellen Gruppierungen Raum zu geben. Dies ist eines der zen-tralen Kriterien für Städte, die sich den Anforderungen der Globalisierung ge-wachsen zeigen.

Es geht darum, sowohl unter-schiedlichen Lebensformen und Funktionen als auch verschiedenen Symbol- und Auslegungswelten Raum zu bieten. Diese Anforderun-gen kann die neue, „aus einem Guss“ gebaute Stadt nur äußerst schwer erfüllen. Daher ist die Wiederver-wendung dichter Stadtgebiete für die europäischen Städte im globalen Städtewettbewerb von entscheiden-der Wichtigkeit.

Doch bei der Wiederverwendung geht es nicht nur um Konservierung.

Sondern um eine konstante Neuin-terpretation dahingehend, wie die Strukturen, Räume und Gebäude der Stadt für neue Zwecke genutzt werden können, welche dann neue Überlappungen, neue Synergien und neuen kulturellen Austausch schaf-fen. Es geht darum, ständig Modelle dafür zu entwickeln, wie Stadtge-biete und Gebäude, die ihre ursprüng-liche Funktion verloren haben, auf neue Weise in die Stadt integriert werden können. Es geht darum, so-wohl an der schnellen als auch an der langsamen Umbildung der Städte zu arbeiten, Platz zu schaffen für sowohl Mainstream als auch alternative Kul-turen. Es geht darum, zu erkennen, wie verschiedene Kulturformen an unterschiedliche Stadt- und Gebäu-destrukturen gekoppelt sind. Es geht sowohl um Lenkung als auch darum, jegliches Lenken zu unterlassen. Die Weiternutzung der dichten Stadt in einer Weise, die ihre Mannigfaltigkeit erhält und viele verschiedene Lebens-formen unterstützt, ist ein schwie-riger Prozess, weil die wichtigen Kräfte im Markt häufig etwas ganz anderes wollen. Trotz allem aber gibt Modellbeispiele, die zeigen, wie dies erreicht werden kann.

Wie dagegen die Außenbezirke der Städte auf die aktuelle doppelte Herausforderung reagieren können, ist eine viel schwierigere und in ge-ringerem Maße debattierte Frage. Es hat viele Vorschläge zur Verdich-tung offener Wohnquartiere gege-ben, insbesondere für Gebiete mit Einfamilienhäusern. Aber sowohl die Wirkung als auch die Durch-führbarkeit dieser Projekte sind bis-lang zweifelhaft. Die am weitesten verbreitete Strategie läuft auf den Versuch hinaus, rund um stark fre-quentierte Bahnhöfe neue, dicht be-baute Stadtviertel zu errichten, um auf diese Weise die Außenbezirke der Stadt vom privaten Autoverkehr unabhängiger zu machen. Doch die Reichweite dieser Projekte ist eben-falls begrenzt.

... und die Fehlfunktion der MärkteDas große Hindernis bei der Lösung dieser Aufgabe liegt in unseren Le-bensformen, unseren Denkweisen und der Art und Weise, wie diese auf dem Markt und in den Medien präsent sind. Unter Architekten herrscht oftmals immer noch die Aufmerksamkeit ge-genüber spektakulären Einzelbauten und avantgardistischen Brüchen mit dem Althergebrachten vor, während Initiativen zur Wiederverwendung und kleine Erneuerungen komplexer

Stadtstrukturen zu kurz kommen.Überdies lenkt die Macht der Medien ein großes Aufmerksamkeitspoten-zial auf spektakuläre, leicht kommuni-zierbare Projekte. Dies ist verbunden mit einem merklichen Zögern, sich komplizierteren Sachverhalten sowie Entwicklungen zu widmen, die erst in 10 oder 20 Jahren Ergebnisse zeiti-gen werden. Die Struktur und Funkti-onsweise des Grundeigentums- und Immobilienmarkts tut hierzu ein Übri-ges. Durch schnelle, flächendeckende und monofunktionale Sanierungspro-jekte lassen sich kurzfristig weit hö-here Renditen erzielen als mit der lang andauernden behutsamen Transfor-mation vorhandener Strukturen.

Es besteht daher auch eine Ten-denz, dass mit dem Begriff „Stadter-neuerung“ eine recht simple Praxis überdeckt wird. Statt seine Aufmerk-samkeit der Frage zu widmen, welche komplexen Potenziale vorhandener Stadtstrukturen entwickelt werden können, befasst man sich lieber mit der Frage, wie die beliebtesten Ge-bäudetypen restauriert werden kön-nen, damit sie einen höheren Ertrag abwerfen.

Wir sollten daher das schein-bare Gegeneinander von Wiederver-wendung und Neuanfang durch ein Nebeneinander ersetzen. Um neue Funktionsweisen und einen geringe-ren Ressourcenverbrauch in existie-renden Städten zu ermöglichen, sind wir genötigt, ein Denken und eine Pra-xis zu entwickeln, die auf eine radikale Änderung der Städte hinarbeiten.

Jens Kvorning ist Associate Profes-sor an der Architekturfakultät der Königlichen Dänischen Kunstakade-mie, wo er Stadtplanung und städti-sche Architektur lehrt.

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LIVERPOOL:

24 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

WIEDERGEBURT EINER HANDELSSTADT

Als Großbritannien eine industrielle Großmacht war, diente Liverpool als seine internationale Verkehrsdreh-scheibe. Der Liverpooler Hafen an der Mersey-Mündung im Nordwes-ten Englands war das Eingangstor, durch das Rohstoffe für die Fabri-ken und Textilindustrien des Landes strömten. Von seinen 11 Kilometer langen Docks wurden Fabrikerzeug-nisse in die ganze Welt exportiert.

Der Wohlstand, der um 1900 seinen Höhepunkt erreichte, schuf eine bemerkenswert reiche Stadt-landschaft. Die Banken und Büroge-bäude führender Architekten legten ein beredtes Zeugnis ab von der Wirt-schaftsmacht der Stadt. Die Docks zählten zu den großen Triumphen vik-torianischer Ingenieurskunst, und die St. George‘s Hall – eine riesige Stadt-halle mit Konzert- und Gerichtssälen

– brachte die kulturellen Ambitionen der Stadt zum Ausdruck.

Doch auf den schwindelerre-genden Fortschritt im neunzehnten Jahrhundert folgte im zwanzigsten ein katastrophaler Niedergang. Der Zusammenbruch der britischen In-dustrie, der Verlust des Empire und der Aufstieg Europas als britischer Haupthandelspartner anstelle von Amerika wurden Liverpool und dem umliegenden Mersey-Gebiet zum Verhängnis. Die Einwohnerzahl Li-verpools fiel von ihrem Spitzenwert 856.000 im Jahre 1931 auf 510.000 im Jahr 1981. Die Stadt wurde zum Inbegriff von Armut und Arbeitslo-sigkeit, während ihr großartiges Ar-chitekturerbe zunehmend wie die Ruinen einer untergegangenen Zivi-lisation wirkte.

Im Laufe der vergangenen 25 Jahre wurde das Stadtzentrum je-

doch schrittweise umgeformt. Die Wiederbelebung begann 1981, als die britische Regierung die ‚Mersey-side Development Corporation‘ grün-dete. Weitere massive Finanzspritzen der öffentlichen Hand folgten ab 1994, nachdem die Mersey-Region als eine der ärmsten Regionen der Europäi-schen Union ausgewiesen und ihr der ‚Objective One‘-Status verliehen wor-den war, was sie zur Förderung durch den Europäischen Regionalentwick-lungsfonds berechtigte. Bis zum Ab-schluss der Förderung 2006 erhielt das Gebiet über 1,5 Milliarden Pfund EU-Zuschüsse. Jetzt hofft man, dass ausreichend Vertrauen besteht, um die Entwicklung ohne öffentliche Gelder voranzutreiben. Und tatsäch-lich wurde das jüngste – und größte

– Bauvorhaben in der Stadt, das Ein-kaufszentrum Liverpool One, von dem privaten Investor Grosvenor fi-nanziert.

Ein Überangebot an Baubestand?Der Umbau älterer Gebäude spielte bei dieser Umformung eine Schlüs-selrolle. Die lokale Begeisterung für Liverpools historische Architektur ist groß, doch die langen Jahre wirt-schaftlichen Niedergangs haben von der Stadtstruktur ihren Tribut gefor-dert. Dies und die überwältigende An-zahl denkmalgeschützter Gebäude

– von denen Liverpool angeblich mehr als jede andere englische Provinz-stadt besitzt – lassen ihre Erhaltung und Sanierung zu einer ernsthaften Herausforderung werden. Bei einigen der besonders wichtigen Gebäude – darunter die neoklassizistischen Wel-lington Rooms und die Speicher am Stanley Dock – geht der Verfall nach jahrelangem Leerstand weiter; doch viel wurde bereits erreicht, und das Gesamtbild stimmt um einiges zuver-sichtlicher als zuvor.

Das wichtigste Erneuerungspro-jekt der 80er-Jahre war die Restaurie-

rung der baufälligen Albert Docks, der landesweit größten Gruppe von denk-malgeschützten Gebäuden der Stufe I, die nun ein Schifffahrtsmuseum und eine Außenstelle der Tate Gallery be-herbergen. Kulturelle Einrichtungen spielen auch weiterhin eine wichtige Rolle in der Renaissance Liverpools. Die aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert stammenden Blue-coat Chambers – Sitz eines blühen-den Kunstzentrums – erhielten erst kürzlich einen ansprechenden Anbau durch die niederländischen Architek-ten BIQ, während sich an der Uferpro-menade zu einer neuen Konzert- und Tagungsstätte von Wilkinson Eyre bald ein Museum für Stadtgeschichte nach dem Entwurf des dänischen Ar-chitekturbüros 3XN gesellen wird.

Neben kulturellen Neuzugängen brachten die letzten fünfzehn Jahre auch eine deutliche Zunahme an in-nerstädtischen Wohnungen mit sich. Ein wichtiger Schwerpunkt lag hier auf dem sogenannten ‚Ropewalks‘-Viertel, einem dichten Geflecht enger Straßen aus dem 18. Jahrhundert, an denen sich heruntergekommene georgianische Reihenhäuser, viktori-anische Lagerhäuser und diverse In-dustriebauten drängen. Pionier bei der Erneuerung dieses vernachlässigten Stadtteils war das Immobilienunter-nehmen Urban Splash, das eine Che-miefabrik aus den 1890er-Jahren in Liverpools erste, 1994 fertiggestellte Loftapartments umwandelte.

Urban Splash errichtete noch wei-tere Wohn-, Büro- und Freizeitbau-ten in derselben Gegend, deren klare moderne Architektur gut mit dem strengen industriellen Charakter der älteren Nachbargebäude harmoniert. Andere Bauherren folgten dem Mo-dell, wenn auch mit unterschiedlichen, gelegentlich in historisches Flickwerk abgleitenden Ergebnissen. Eine be-dauerliche Anzahl Häuser aus dem 18. Jahrhundert ist noch immer unsaniert, und einige bereits eingestürzt, nach-dem sie jahrzehntelang leer standen. Nun sollen Zuschüsse des Liverpoo-ler Stadtrats den Hausbesitzern dabei helfen, gefährdete Gebäude in diesem faszinierenden Viertel zu retten.

Liverpools neue SkylineDoch nicht nur Umbauten, auch die Neubauwohnungen, die in den ver-gangenen Jahren überall in Liverpool aus dem Boden schossen, prägen das Stadtbild. Am Nordrand des Ge-schäftsviertels, nah am Wasser, hat ein Komplex hoher Wohntürme Li-verpools Skyline in den letzten fünf Jahren verändert. Die beiden höchs-ten Gebäude, darunter der 40-stö-ckige West Tower, wurden von der Beetham-Organisation gebaut, einem weiteren Pionier des innerstädtischen Wohnungsbaus. Dazu kamen zahlrei-che kleinere Projekte, verteilt im ge-samten Stadtzentrum. Dort stieg die Einwohnerzahl von 2340 im Jahre 1991 auf 15.000 im Jahre 2007 an.

Abgesehen von einigen lobens-werten Ausnahmen, wie dem ge-mischtgenutzten Unity-Gebäude von Allford Hall Monaghan Morris, ist die Entwurfsqualität dieser Projekte meist unbedeutend und reicht nicht an die kraftvolle Individualität und die robusten Baustoffe heran, welche die Architektur Liverpools traditionell ge-prägt haben. In der Regel wurde der Schwerpunkt statt auf großzügige Unterkünfte vor allem auf kleinere Zwei- und Dreizimmerwohnungen ge-legt. Die Belegungsraten sind schwer zu ermitteln, doch wie es scheint, herrscht in Liverpools Stadtzentrum derzeit bereits ein Überangebot klei-ner Wohnungen, und der gegenwär-tige wirtschaftliche Abschwung lässt Zweifel hinsichtlich der Zukunft die-ses Baubooms aufkommen.

Oft haben Sanierung und Umbau historischer Gebäude zu ansprechen-deren Ergebnissen geführt. Die Col-legiate Institution, eine große Schule aus den 40er-Jahren des 19. Jahrhun-derts, einen Kilometer vom Zentrum entfernt im Ortskern von Everton ge-legen, war nur noch eine Brandruine, als sich Urban Splash in den späten 90er-Jahren ihrer annahm. Die Ar-chitekten shedkm schufen hinter der Altbaufassade 96 Apartments und lösten das Problem der enormen De-ckenhöhen durch das Einziehen von Mezzaningeschossen, die sie etwas von den deckenhohen neugotischen

Liverpool, die Hafenstadt des Frühkapitalismus, erlebte im 19. Jahrhundert einen nie dagewesenen Wohlstand und im 20. Jahrhundert einen ebenso spektakulären Niedergang. Obwohl viele Gebäude immer noch dem Abriss geweiht sind, wächst in der Stadt das Bewusstsein, dass umgenutzte Altbauten dem Wohnraumbedarf in der Stadt oft besser gerecht werden als Neubauten.

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NEW YORK:

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Fenstern zurücksetzten. Inzwischen wurden im Stadtzentrum zahlrei-che Bürogebäude aus dem 19. Jahr-hundert für Wohnzwecke umgebaut. So beinhaltet das Albany-Gebäude in der Old Hall Street, ein ungemein eindrucksvoller mehrfarbiger Ziegel- und Steinpalazzo aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, heute 123 Apartments. Die ursprünglichen breiten Flure und Treppenhäuser, durch die einst die Li-verpooler Baumwollhändler kamen und gingen, bilden ideale Erschlie-ßungszonen. Bedauerlicherweise wurde dem Gebäude eine belanglose Penthouse-Etage aufgesetzt, die so-wohl den Gebäudeumriss als auch die Gesamtproportionen des Baus beein-trächtigt.

Wiederbelebung und Abriss Seite an SeiteAm Rand des Handels- und Geschäfts-zentrums liegt einer von Liverpools wertvollsten Schätzen, ein elegan-tes Wohnviertel, dessen Straßen und Plätze im frühen neunzehnten Jahr-hundert angelegt wurden. Hier stehen die anglikanische und katholische Ka-thedrale sowie zwei der Liverpooler Universitäten. Die schönen Reihen-häuser des Viertels wurden in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts durch ein Restaurierungsprogramm des Stadtrats und der Denkmal-schutzorganisation English Heritage vor dem Niedergang gerettet. Das Er-gebnis: deutlich gestiegene Immobi-lienwerte und ein Stadtteil, der bei Fernsehgesellschaften als Kulisse für historische Dramen hoch im Kurs steht. Dem Viertel ist es gelungen, eine gesunde Mischung der Bevölke-rung beizubehalten und eine Gentrifi-zierung weitgehend zu vermeiden.

Inzwischen steht auch dem tradi-tionellen Wohnungsbau in Liverpools Außenbezirken eine groß angelegte Erneuerung bevor. Weite Bereiche der Peripherie bestehen aus gleichförmi-

gen Straßen des späten neunzehnten Jahrhunderts mit zweistöckigen, teils jahrzehntelang vernachlässigten Rei-henhäusern. Im Rahmen der landes-weiten ‚Initiative zur Erneuerung des Wohnungsbaumarkts‘ wurden einige dieser Bereiche für den Abriss und Neubau vorgesehen. Ein weiteres vik-torianisches Wohngebiet, das kom-plett verschwinden soll, liegt an der Edge Lane, der Haupteinfallstraße von der Autobahn ins Stadtzentrum. Diese Abrisspläne lösten eine heftige, emotionale Debatte aus, bei der sich Unterstützer der Pläne und ihre Geg-ner, die für eine Beibehaltung und Sa-nierung bestehender Bausubstanz eintreten, gegenüberstehen.

Ein Projekt, das die Gangbarkeit einer Sanierung aufzeigt, wurde kürz-lich in der Tancred Road, in der Nähe des Anfield-Stadions des FC Liver-pool, abgeschlossen. Umgesetzt von der Affordable Homes Development Company und entworfen vom Archi-tekturbüro Ken Martin, beweist es, dass die sensible Anpassung älterer Gebäude nicht auf die Vorzeigearchi-tektur von Liverpools Zentrum be-schränkt sein muss. Mit etwas Glück wird es als Modell für die wirtschaft-lichen, sozialen und umweltbezoge-nen Vorzüge von Umbauten auch anderswo in der Stadt dienen.

Joseph Sharples studierte bildende Kunst an der Universität Edinburgh und arbeitete mehrere Jahre als Ku-rator in der Liverpooler Kunstgalerie Walker. Zu seinen Veröffentlichun-gen zählt der Pevsner Architectural Guide to Liverpool (Yale University Press, 2004). Heute ist er als Archi-tekturhistoriker an der Universität Li-verpool tätig, wo er das Archiv eines der führenden viktorianischen Archi-tekturbüros, Culshaw & Sumners, er-forscht.

UPGRADE FÜR DIE WELTMETROPOLE

Trotz hoher Bodenpreise und jahr-zehntelanger Wohnungsknappheit beherbergten die meisten Uferge-lände New Yorks bis spät in die neun-ziger Jahre Industriefriedhöfe und vergammelte Lagerhäuser. Dies war nicht nur in Brooklyn und Queens der Fall, sondern auch an bester Lage in Manhattan, beispielsweise am Ufer zum Hudson River, gleich neben dem höchst begehrten Greenwich Village. Die Gründe dafür sind historisch und politisch: Bis Mitte des 20. Jahrhun-derts gab es in New York durchaus praktische Gründe, dem Wasser den Rücken zuzukehren. Die Ufergelände wurden von der Industrie genutzt, die auch für regen Schiffsverkehr sorgte. Lärm und Schmutz bestimmten die Atmosphäre. Die Fifth Avenue wurde deshalb zur nobelsten Adresse Man-hattans, weil sie exakt in der Mitte zwischen dem Hudson und dem East River liegt. Später wurden den Ufern entlang Umfahrungsstraßen gebaut, weshalb diese als Wohnlage weiter-hin als unattraktiv galten.

Brooklyn: Vom Mafia-Friedhof zum BoutiquenviertelDer Entwicklung der Ufergebiete standen aber auch politische Gründe im Wege. Bei jeder Diskussion über eine mögliche Nutzungsänderung protestierten die Gewerkschaften gegen die Abwanderung der Indust-rie und der entsprechenden Arbeits-plätze. Damit ließ sich der Wegzug vieler Fabriken allerdings nicht ver-hindern. Das Resultat war, dass Quar-tiere vergammelten, weil sie weder industriell noch als Wohnquartiere voll genutzt wurden. Eine Pattsitua-tion, in der sich während Jahrzehnten auch das heutige In-Quartier Dumbo

in Brooklyn befand. Der Name steht für ‚Down-under-the-Manhattan-Bridge-Overpass‘. Denn das Quartier liegt zwischen den Brückenpfeilern der Brooklyn Bridge und der Manhat-tan Bridge, die über Dumbo hinweg di-rekt ins höher gelegene Nobelquartier Brooklyn Heights führen. Das Indust-riegebiet galt lange als unwirtlich und gefährlich: Es hieß, die Mafia pflege dort ihre Leichen zu deponieren. Ein paar mutige Künstler bezogen An-fang der achtziger Jahre leerste-hende Lofts und brachten damit den altbekannten Kreislauf in Bewe-gung, wonach Künstler ein Quartier für sich entdecken, es bewohnbar machen, nur um bald darauf von den steigenden Preisen wieder vertrieben zu werden.

Auch der heute 69-jährige Pro-jektentwickler David Walentas hatte ein Auge auf das Gebiet geworfen, als er das für seine Aussicht auf die Skyline Manhattans bekannte River Café am Fuß der Brooklyn Bridge be-suchte. Die Gäste des Restaurants bewegten sich nur per Taxi durch die Gegend, weil sie ihnen zu gefährlich war. Walentas, der zu jener Zeit an der Revitalisierung von SoHo beteiligt war, sah in den alten Fabrikgebäuden zwischen den Brückenpfeilern jedoch großes Potenzial und kaufte ein Dut-zend Gebäude zu Spottpreisen.

Ende der neunziger Jahre konnte er dort zu Wohnlofts umgebaute Räume zum fünfzigfachen Quadrat-meterpreis verkaufen! Der Weg dort-hin war allerdings steinig. Nach dem Kauf geschah während 17 Jahren so-zusagen nichts. Schuld daran war die Stadtregierung, die aus politischen Gründen keine Änderung der Flä-chennutzung vornehmen wollte und mit der Walentas nicht auf gutem Fuß stand. Zudem kam es Ende der achtziger Jahre zu einer Krise im Im-mobilienmarkt und zu einer Rezession. Erst 1997 gab es die ersten Änderun-

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gen im ‚zoning plan‘ für das Gebiet, durch die Umbauten zu luxuriösen Lofts, später auch ein paar Neubau-ten möglich wurden.

Heute ist Dumbo ein schickes Quartier mit tollen Restaurants und Boutiquen für Designermöbel. Und Walentas ist längst nicht mehr der einzige Developer im Quartier. Er darf aber für sich in Anspruch neh-men, Dumbo sozusagen eigenhändig befördert zu haben.

Chelsea: Die Revitalisierung der ‚Highline‘Besonders ambitiös verläuft die Re-vitalisierung im westlichen Chelsea: Innerhalb weniger Jahre hat sich der Meatpacking District im Süden von Chelsea zur ultimativen In-Adresse für neue Mode- und Designboutiquen, Restaurants von Starköchen und an-gesagte ‚Boutique‘-Hotels gewandelt. Zusammen mit dem angrenzenden Galerienviertel, das mittlerweile über 300 Galerien zählt, könnte es kaum mehr ‚trendy‘ sein.

Der Grund dafür ist nicht zu-letzt eine alte, rostige Güterbahn-linie, die sich von der 13. bis zur 34. Straße zehn Meter über dem Erdbo-den mitten durch die Straßenblocks zwischen der 10. und 11. Avenue schlängelt. Noch vor acht Jahren – unter Bürgermeister Rudolph Giu-liani – war ihr Abbruch vorgesehen, weil sie als Hindernis für den künfti-

gen Wohnungsbau betrachtet wurde. Doch zwei Anwohner, der Künstler Robert Hammond und der Reisejour-nalist Joshua David, setzten sich für ihre Erhaltung ein und gründeten den Verein ‚Friends of the Highline‘. Ihre Idee, die Highline in einen öffentlichen Park zu verwandeln, fand bald solch prominente Anhänger wie Popstar David Bowie und Modedesignerin Diane von Furstenberg. Diese konn-ten die neue Stadtregierung unter Bürgermeister Michael Bloomberg dafür gewinnen. Denn die Neugestal-tung der Ufergelände New Yorks war von Anfang sein Ziel.

Nachdem die Stadt New York offiziell in Besitz der Highline kam, änderte sie die Flächennutzung im Gebiet ringsum, sodass nun eine ge-mischte Nutzung durch Wohn- und Geschäftsräume möglich ist. Der im Auftrag der Stadt entstandene Entwurf für die Highline – eine Zu-sammenarbeit der Landschaftsar-chitekten Field Operations und der Architekten Diller Scofidio + Renfro

– sieht einen öffentlichen Park mit ver-schiedenen Zugängen vor. Die erste Etappe, die von der 13. Straße bis zur 20. Straße reicht, soll noch im Winter 2008/2009 eröffnet wer-den. Die Kosten für den Umbau der gesamten Highline werden auf 170 Millionen geschätzt, die sich zu einem beträchtlichen Teil aus privaten Gel-dern zusammensetzen.

Die Nutzungsänderung im Zo-nenplan hat auch umgehend zu einer Reihe von ambitionierten Projekten namhafter Architekten wie Jean Nouvel und Frank O. Gehry, aber auch von Newcomern wie Annabelle Selldorf und Lindy Roy geführt. Da entlang der Highline nur wenige In-dustriebauten erhalten geblieben sind, handelt es sich durchwegs um Neubauten, die Luxus-Eigentums-wohnungen enthalten werden. Aus-nahmen bilden der bereits seit einem Jahr fertiggestellte, zwanzigstö-ckige Chelsea Arts Tower und das ebenfalls fertige Bürogebäude von Frank Gehry für die InterActiveCorp (IAC). IAC ist ein Medienkonglome-rat, dessen Firmenoberhaupt Barry Diller ist, der Ehemann von Diane von Furstenberg. Ein weiteres Büro- und Geschäftszentrum ist im ‚High Line Building‘ vorgesehen, dem einzigen Gebäude, das buchstäblich auf die Highline zu stehen kommt. Als ‚Anker‘ für das Park-Projekt wird das Whit-ney Museum of American Art ein Ge-bäude von Renzo Piano bauen. Gleich daneben ragt bereits das ‚Standard Hotel‘ des Boutique-Hotelbesitzers André Balazs wagemutig über die Highline hinaus. Balazs ist vor allem für seine luxuriösen Hotels Mercer in New York und Chateau Marmont und Standard in Los Angeles bekannt.

Fertiggestellt und bezogen ist auch das 26-stöckige ‚Caledonia‘ von Architekt Gary Handel neben dem Chelsea Market, einem unge-wöhnlichen Shopping Center, das bereits vor 13 Jahren wie ein Tunnel durch eine alte Häuserkette gegra-ben wurde. Weiter nördlich sind Jean Nouvels ‚Vision Machine‘ sowie zwei luxuriöse Wohnhäuser der Architek-turfirma Della Valle Bernheimer im Bau. Auf kleinstem Raum zwängt sich zudem bald ein Haus von Neil M. Denari zwischen die Highline und das Hochhaus von Lindy Roy.

Bowery: Luxuswohnen neben ObdachlosenheimenManchmal sind die Gründe, die einer Entwicklung entgegenstehen, auch in der faktisch schon längst überhol-ten Geschichte zu suchen: Bis Mitte fünfziger Jahre fuhr die 1878 gebaute Straßenbahn ‚Third Avenue El‘ auf der Höhe des zweiten Stockwerkes der Third Avenue und der Bowery entlang. (Die Bowery ist neben dem Broadway die einzige Straße New Yorks, die weder ‚Street‘ noch ‚Avenue‘ heißt). Die Straße unter dem Bahnviadukt war eine traurige Strecke von Alkoho-likern, Prostituierten und sogenannter

‚Flophouses‘, einer Art Billigsthotel für Obdachlose. Nachdem die Bahnlinie 1955 abgebrochen wurde, änderte sich zwar das Erscheinungsbild der Bowery, aber nicht ihr Ruf. Nur Künst-ler zogen gerne in die Lofts, die dank der nun offenen Straße viel Tages-licht erhielten. Bis vor kurzem war sie auch die Adresse des Musikclubs CBGB‘s, wo die amerikanische Punk-musik entstand, des Jean Cocteau Re-pertory Theaters und des Bouwerie Lane Theaters.

Um die Jahrtausendwende be-gann der Immobilienboom auch an der Bowery seine Zeichen zu setzen, und anstelle der Parkplätze, Tank-stellen und baufälligen Häuser rag-ten die ersten Neubauten empor. Nur einzelne alte Häuser wurden umge-baut. Die Alkoholikerheime und Flo-phouses sind geblieben. So steht das vor einem Jahr eröffnete Gebäude des New Museums of Contemporary Art des japanischen Architektenteams Ryue Nishizawa und Kazuyo Sejima/ SANAA (Sejima And Nishizawa And Associates) unmittelbar neben dem Flohhotel ‚Sunshine‘.

Nördlich davon, an der Kreu-zung zur Houston Street, wurden ein neunstöckiges und ein 14-stö-ckiges Gebäude mit insgesamt 500 Luxus-Mietwohnungen gebaut, mit

New York ist seit über einem Jahrzehnt dabei, seine früheren ‚No-Go-Areas‘ systematisch zu bereinigen. Wo einst heruntergekommene Industriebaracken standen und Obdachlose Unterschlupf fanden, entstehen heute Lofts und Luxuswohnungen. Doch im Austausch für die alten sozialen Probleme handelt sich die Metropole neue ein: Nicht nur die Schwächs-ten der Gesellschaft, auch die untere Mittelschicht findet kaum noch erschwinglichen Wohnraum.

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ROTTERDAM:

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monatlichen Mieten von 3000 bis 7500 Dollar. Und das schicke 16-stö-ckige Bowery Hotel mit 146 Zimmern (Preislage: ab 500 Dollar) steht neben einem Obdachlosenheim. Ein weite-res Hotel mit 22 Stockwerken ist noch im Bau. Das Paradox dieser Projekte ist, dass für sie der Standort gerade wegen seiner Atmosphäre des Ver-gammelten attraktiv ist, obwohl sie eben diese eliminieren helfen.

Bürgermeister Bloomberg hat den Bauboom in New York mit allen Mitteln unterstützt. Nicht bei Einzel-bauten, aber bei größeren Siedlungen hat er auch die Bedingung gestellt, dass ein Teil der Wohnungen zu so-genannten ‚erschwinglichen‘ Prei-sen angeboten wird, das Sozialste, was New York heutzutage an ‚sozi-alem Wohnungsbau‘ anbietet. Prob-lematisch ist jedoch, dass das, was im Vergleich zu den exorbitanten Mieten in Manhattans Neubauten für ‚erschwinglich‘ deklariert wird, oft weit über den Monatslöhnen des unteren Mittelstandes liegt. Schon vor dem Kollaps des Finanzwesens wurde klar, dass die Busfahrer, Poli-zisten und Lehrer irgendwann an eine Grenze stoßen, weil ihr Arbeitsweg immer länger wird.

Thérèse Balduzzi llebt in New York, von wo aus sie für verschiedene deutschsprachige Medien tätig ist. Die aus Zürich stammende Autorin schreibt vor allem über Kultur, Popu-lärkultur, Design und Architektur.

ARBEITERSTADT SUCHT MITBEWOHNER

„Ich fahre nicht oft auf die andere Seite. Das ist nicht Rotterdam. Rotterdam liegt auf dieser Seite der Maas“, er-klärte der Taxifahrer, bevor wir vom Stadtzentrum aus über die Erasmus-brücke fuhren. Dass unmittelbar jen-seits der Brücke mit Kop van Zuid ein neues Vorzeige-Stadtviertel in Ent-wicklung ist, interessierte ihn wenig. Als eingefleischter Rotterdamer be-trachtete er alles, was südlich der Maas lag, noch immer als herunter-gekommene Peripherie. „Bauernseite“ wurde das Gebiet schon im 19. Jahr-hundert genannt, als sich dort arme Landflüchtlinge ansiedelten, die in den Hafenanlagen auf der südlichen Maasseite Arbeit suchten. In den sechziger Jahren zog der Hafen fort, weiter hinaus in Richtung Maasmün-dung, und ließ in den Wohnsiedlun-gen von Rotterdam-Zuid vor allem Arbeitslose und Migranten zurück.

Erst in den späten Achtzigern, als Hafenkonversionen international in Mode kamen, entstanden Pläne, um aus der Hafenhalbinsel Kop van Zuid einen funktional durchmischten neuen Teil der Innenstadt zu machen. Seither sind zwischen den alten Ha-fenbauten, die teils zu Lofts und Ge-werberäumen umgebaut wurden, zahlreiche neue Hochhäuser und Wohnblöcke errichtet worden. Unter anderem haben hier Mecanoo, Renzo Piano und Lord Norman Foster ge-baut; Rem Koolhaas und Alvaro Siza sollen noch folgen. Wenn das Pro-jekt im Jahr 2010 beendet ist, sollen in Kop van Zuid 18.000 Menschen arbeiten und 15.000 wohnen, die Hälfte davon in Eigentumswohnun-gen. Und im Idealfall wird ihre Wirt-schaftskraft ein wenig auf die weiter südlich gelegenen Gegenden abstrah-

len, deren soziale Realität im Moment noch ziemlich harsch auf die neu ge-baute Hochglanzwelt prallt.

Stadt der Arbeiter und ArchitektenAufgrund von prestigeträchtigen Projekten wie Kop van Zuid bezeich-net Rotterdam sich seit einigen Jahren gerne als „Architekturhauptstadt der Niederlande“. Zählt man die Architek-turbüros, die sich in der Stadt nieder-gelassen haben, sowie den Anteil an Neubauten an der Stadtstruktur und bedenkt außerdem, dass das Nieder-ländische Architekturinstitut seinen Sitz in Rotterdam hat, dann ist sie das sicherlich auch. Ironischerweise ist die-ses Label aber auch aus einem Image-problem entstanden, denn Rotterdam ist keine klassisch schöne Stadt und hat auch nie als solche gegolten. Im Goldenen Zeitalter noch klein und un-bedeutend, erlebte es seine Blüte erst während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, als der Nieuwe Water-weg eine direkte Schifffahrtsverbin-dung zur Nordsee schuf. Im Eiltempo entwickelte sich der Hafen zum größ-ten Europas, und rund um das Zen-trum wurden neue Wohnviertel hochgezogen. Seither war Rotterdam als Amsterdams hässliche, aber flei-ßige Schwester bekannt. Ein Sprich-wort besagt, dass in der Hafenstadt alle Hemden bereits mit hochgekrem-pelten Ärmeln verkauft werden.

Eine Arbeiterstadt ist Rotterdam immer geblieben. Das Einkommen von 54 % der Einwohner liegt unter dem niederländischen Durchschnitt, 46 % sind Ausländer, 9 % sind arbeits-los. Seit den neunziger Jahren siedeln sich aber auch immer mehr Architek-ten, Künstler und Designer in Rotter-dam an, die die Rauheit der Stadt, ihre urbanen Brüche, den kreativen Frei-raum und die niedrigen Mieten zu schätzen wissen. Viele pflegen eine Hassliebe zu ihrem Wohnort. „I rot-terdam“ heißt ein Manifest, das das junge Architekturbüro Powerhouse Company als Parodie auf die Marke-tingkampagne „I amsterdam“ publi-ziert hat und in dem Rotterdam als

„urban compost heap, waiting to flo-wer from its lingering fertility“ be-schrieben wird.

Gesucht: Zahlungskräftige WohnungskäuferUnterdessen bemühen sich Gemeinde, Wohnungsbaugesellschaften und Pro-jektentwickler, mit Projekten wie der Konversion von Kop van Zuid besser situierte Bewohner nach Rotterdam zu locken. In vielen Neubauten befin-den sich luxuriöse Wohnungen; das Penthouse im Wolkenkratzer Monte-video hat gar Brad Pitt gekauft. Zuvor stand es lange leer, denn eine Käufer-schaft für teure Eigentumswohnun-gen ist kaum vorhanden. Letztes Jahr wurden auf Initiative der Gemeinde

Schon einmal, nach dem Ende des Zweiten Welt-kriegs, musste sich Rotterdam neu erfinden. Derzeit ist die Stadt dabei, es erneut zu tun: Aufgelassene Hafengebiete, soziale Problemzonen und sanierungs-bedürftige Nachkriegsbauten bilden den Nährboden, auf dem neuer Wohnraum entstehen soll. Die bisheri-gen Lösungsansätze reichen von Luxuswohnungen am Hafen über die Nachverdichtung der Innenstadt bis zu verschenkten Wohnungen in Arbeitervierteln.

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45 Wohnungen in Neubauprojekten – darunter auch Montevideo – zu einem Drittel ihres Marktpreises an Univer-sitätsabsolventen vermietet, um deren Abwanderung zu verhindern und den Leerstand zu beheben.

Hafenkonversionen bieten sich an, um höhere Einkommensgruppen anzuziehen, weil sich in ihnen cha-raktervolle Alt- und moderne Neu-bauten mischen und im Bestfalle echtes Großstadtflair aufkommen lassen. Nach Kop van Zuid wurden in Rotterdam jüngst auch Müller- und Lloydpier am nördlichen Maasufer in neue Stadtviertel umgewandelt. Da der Hafen immer weiter in Richtung Nordsee „rutscht“, werden immer mehr solcher Gebiete für Stadter-weiterungen frei. Das neueste nennt sich Stadshavens und wird vom Ha-fenbetrieb und der Gemeinde entwi-ckelt. Bis 2025 sollen auf einer 1600 Hektar großen Fläche westlich vom Stadtzentrum 5000 neue Wohnun-gen entstehen.

Fragt sich nur, ob sich solche Stadterweiterungen in Rotterdam lohnen, wenn Taxifahrer ebenso wie potenzielle Wohnungskäufer schon Kop van Zuid als Peripherie empfin-den. In letzter Zeit ist deshalb auch das Stadtzentrum aus der Nach-kriegszeit wieder ins Blickfeld der Planer gerückt. Entstanden ist es in Folge des Bombardements von Rot-terdam im Mai 1940, bei dem so gut wie alle Altbauten im Zentrum zer-stört wurden. Da Rotterdam nie als schön gegolten hatte, war damals von Wiederaufbau keine Rede, son-dern man betrachtete das leerge-fegte Gebiet als tabula rasa, auf der ein neues, modernistisches Zentrum geplant werden konnte. Noch heute ist im Stadtbild deutlich ablesbar, wo in der Bombennacht die Brandgrenze verlief.

Eine Renaissance des Stadtzentrums?Da das Ideal des modernen Städte-baus eine strikte Funktionstrennung war, gibt es im Zentrum jede Menge Büros und Geschäfte, aber nur wenig Wohnungen. Mit einer Nachverdich-tung könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits ent-stünde attraktiver, zentral gelegener Wohnraum, andererseits wäre das Stadtzentrum nach Ladenschluss nicht mehr so hoffnungslos ausge-storben, wie es momentan der Fall ist. Denn eben diese Leblosigkeit des Zentrums macht einen Teil von Rot-terdams Imageproblem aus.

In manch einer Stadt hätte man die Abrissbirne gezückt, um Platz für Neubauten zu schaffen. Glückli-cherweise ist das in Rotterdam nur selten der Fall, auch wenn einige Um-bauprojekte aus Denkmalschutzsicht bedenklich erscheinen. Aber mit Aus-nahme des Rathauses, der Hauptpost und einer Kirche stammen die ältes-ten Bauten in der Rotterdamer In-nenstadt aus der Spätmoderne und sind offiziell noch gar nicht denk-malschutzwürdig. In diesem Sinne kann man sich freuen, wenn ein bis-her ziemlich heruntergekommener Kaufhausbau aus den fünfziger Jah-ren am Binnenwegplein nun von Van Tilburg, Ibelings, Von Behr Architec-ten mit zwei Wohntürmen aufge-stockt und der Sockelbau restauriert wird. Fragwürdiger scheint dagegen der geplante Wohnkomplex Bijko-rama, entworfen von Wiel Arets, der an das Kaufhaus Bijenkorf mit seiner 1951 von Marcel Breuer gestalteten Fassade angebaut werden soll.

Am umstrittensten ist jedoch ein neuer Masterplan für die Lijnbaan-höfe. Diese begrünten Höfe, umstan-den von Wohnhochhäusern aus den sechziger Jahren, gehören zum Gebiet der legendären Einkaufsstraße Lijn-baan, die direkt nach dem Krieg von

Van den Broek en Bakema entworfen wurde. Auf Wunsch der Eigentümer ließ die Gemeinde letztes Jahr vom Architekturbüro Claus en Kaan einen Masterplan entwickeln, der vorsah, dass die Höfe mit eingeschossigen Ge-schäftsräumen unter einem grünen Dach zugebaut und obendrein zusätz-liche Wohntürme in den Höfen plat-ziert würden. Nach viel Protest wurde dieser Plan fallen gelassen, aber ein neuer ist bereits in Arbeit..

Wohnungen zu verschenken: Das Experiment WallisblokGinge es nach den Eigentümern der Wohnhochhäuser, würden sie ohne viel Aufhebens abgerissen und durch profitträchtigere Neubauten ersetzt, denn amortisiert haben sie sich oh-nehin bereits. Aus demselben Grund neigt man überall in den Niederlan-den in weniger begehrten Wohnlagen zum Abriss anstelle von aufwendiger Renovierung oder Umbau. Das gilt zum Beispiel auch für die Rotterda-mer Nachkriegs-Schlafstadt Hoogv-liet, in der zur Zeit 5000 von 17.000 Häusern abgerissen und durch Neu-bauten ersetzt werden. Dass es auch kleinmaßstäblicher und feinfühliger geht, beweist dagegen ein Umbau-projekt im Rotterdamer Problem-viertel Spangen, das erst Ende 2007 fertig gestellt wurde und schon jetzt Schule gemacht hat. Spangen ist ein Stadtteil im Westen Rotterdams, der zum Großteil aus backsteiner-nen Wohnblöcken aus den 1910er-Jahren besteht. 85 % der Einwohner sind Ausländer, und 80 % des Woh-nungsbestands sind soziale Miet-wohnungen. In die Schlagzeilen geriet Spangen Anfang der neunzi-ger Jahre, als Bewohner mit Straßen-blockaden gegen den florierenden Drogenhandel im Viertel protestier-ten. Seither ist es ruhiger geworden, aber als gute Wohnlage würde man Spangen, das zu den ärmsten Stadt-vierteln der Niederlande zählt, sicher nicht bezeichnen.

2005 entschloss die Gemeinde sich deshalb zu einem Experiment. Alle 75 Wohnungen in einem Block, dem sogenannten Wallisblok, soll-ten verschenkt werden – mit der Auflage, dass ihre neuen Besitzer eine Bauherrengemeinschaft bilde-ten, den Block innerhalb eines hal-ben Jahres gemeinsam renovierten und dort mindestens zwei Jahre lang selber wohnten. Schnell fanden sich 33 Interessierte, die, wie in Rotter-dam zu erwarten, fast alle aus kre-ativen Berufen stammten. Durch Zusammenlegung sind die meisten Wohnungen nun etwa 200 Quadrat-

meter groß, alle haben eine Dachter-rasse oder einen Garten bekommen, und im Zentrum des Blocks liegt ein großer gemeinschaftlicher Innenhof. Zwischen 70.000 und 200.000 Euro haben die Besitzer in ihr neues Heim investiert.

Weil der Wallisblok ein Erfolg war, sind ähnliche Projekte jetzt auch in den Stadtteilen Charlois und Feije-noord, jenseits von Kop van Zuid, in Planung. „Gentripunktur“ heißt das Schlagwort, denn man hofft natür-lich, dass die Enklaven gut ausgebil-deter Besserverdiener sich positiv auf die Umgebung auswirken. Ob sie das tun, muss sich noch herausstellen. Aber sie sind in jedem Fall preisgünsti-ger, subtiler und reagieren besser auf die tatsächliche Nachfrage auf dem Rotterdamer Wohnungsmarkt als manch ein groß angelegtes Neubau-projekt. „Schamlos, modern, radikal, großstädtisch zu sein, ist fraglos das Wunschbild von Rotterdam“, stellte die Architekturkritikerin Angelika Schnell einmal fest. „Doch die Reali-tät ist zugleich bescheidener und viel-schichtiger.“

Anneke Bokern wurde 1971 in Frank-furt/Main geboren und hat in Berlin Kunstgeschichte studiert. Seit 2000 lebt sie als freie Journalistin für Ar-chitektur, Design und Kunst in Ams-terdam. Unter dem Namen architour organisiert Anneke Bokern Architek-turführungen in den Niederlanden.

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Henrik Kam (www.henrikkam.com) ist ein Fotograf aus San Francisco, der sich in seiner Arbeit mit dem Einfluss des Menschen auf die städtische und natürliche Umwelt befasst. Ursprünglich aus Dänemark stammend, ver-brachte er seine berufliche Laufbahn in den USA, wo er derzeit an einem einjährigen Projekt für das San Fran-cisco Museum of Modern Art arbeitet.

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Broken LineFotograf: Olaf Otto Beckerwww.olafottobecker.de

„Das Grundelement der Fotografie ist das Licht. Ohne Licht keine Fotografie. Licht ist Ausgangs-punkt aller Fotografen und Quelle jeder foto-grafischen Form. Olaf Otto Becker sprach von seiner Besessenheit, das richtige Licht zu fin-den: Der eigentliche Gegenstand seiner Fotos – ihr erster und letzter Gegenstand – sind nicht Fel-sen, Eisschollen oder einsame Holzhäuser, son-dern das Licht. Im Vorwort zu seinem Buch The New West (1974), seiner ersten Foto-Dokumenta-tion menschlich überformter Landschaften und ein maßgebliches Werk der zeitgenössischen Land-schaftsfotografie, formulierte Robert Adams fol-genden Aphorismus, den man beim Betrachten der Grönland-Bilder von Olaf Otto Becker in Erin-nerung behalten sollte: ‚… Über jeder Naturland-schaft, ganz egal, was mit ihr geschehen ist, liegt eine gewisse Anmut, eine ewige Schönheit.‘“

Aus dem Essay ‚Take me to the frozen North – The Greenland Photographs of Olaf Otto Becker‘ von Gerry Badger

69°11’58” N51°07’08”Wllulissat Icefjord, 06.07.2003

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REFLEKTIONEN Neue Perspektiven: Ideen abseitsder Alltagsarchitektur.

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Von Thomas Lemken

Rund 17 Tonnen Material verbraucht ein Mitteleuro-päer jedes Jahr zum Bauen und Wohnen – und damit auch entsprechende Energiemengen für dessen Gewinnung, Transport und Verarbeitung. Für die Umnutzung eines Altbaus wird meist nur ein Drittel so viel Material benötigt wie für einen Neubau. Doch um das ökologische Potenzial des Bauens im Bestand wirklich zu nutzen, ist mehr erforderlich als nur Lippenbekenntnisse.1

Der Umgang mit den immer knapper und teurer werdenden Ressourcen Energie, Rohstoffe und Fläche ist eine Schlüssel-frage des 21. Jahrhunderts und notwendig für eine dauerhafte umweltverträgliche Entwicklung. Wir leben heute in einer globalisierten Welt, in der ein Motor des Ressourcen- und Energieverbrauchs der Konsum der Menschen ist. Das globale Konsumniveau wird vor allem von den führenden Industrie-nationen bestimmt, die – gemessen an ihrer Bevölkerungszahl

– weit überproportional zur weltweiten Wirtschaftsleistung beitragen. Die ressourcenintensiven Lebensstile in westli-chen Industrieländern gelten auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern als erstrebenswert – und werden kopiert. Weltweit ist der Ressourcenverbrauch – pro Kopf gerechnet – sehr ungleich verteilt. Wenn die Menschen der ‚Dritten Welt‘ an Zahl weiter zunehmen und ihren Verbrauch dem der Industriestaaten angleichen, werden wir 2050 siebenmal so viel Ressourcen benötigen wie heute. Um deren für uns lebensnotwendigen Nutzen nicht zu gefährden, müssen wir die Stoffströme reduzieren, das heißt die Wirtschaft dema-terialisieren.2

Das Bedürfnisfeld Bauen und WohnenWohnen ist ein unerlässlicher Bestandteil unserer Kultur, seit die Menschen begannen, sesshaft zu werden. In der Art des Wohnens zeigen sich die Wechselwirkungen zwischen Umweltbeeinflussung und Lebensstilen, sozialen Strukturen und Bedürfnissen, Arbeits- und Konsumgewohnheiten. Städte, Gebäude, Freiräume, die Gestalt der von Menschen besiedel-ten und kultivierten Landschaft bilden die räumliche Hülle für das Alltagsleben, für die Gesellschaft und die Kultur der Menschen, die in ihnen leben. Verändert wird diese Hülle durch Bautätigkeit.

Das Bedürfnisfeld Bauen und Wohnen umfasst sämtliche Aktivitäten, die mit der Befriedigung individueller Bedürfnisse in diesem Bereich verbunden sind, zum Beispiel die Schaffung und Nutzung von Wohn-, Arbeits- und Lagerraum, sowie alle vor- und nachgelagerten Prozesse. Im Laufe des vergan-genen Jahrzehnts sind die Bauinvestitionen in Deutschland und auch die inländische Baustoffproduktion stark zurück-gegangen (von 250 Mrd. €/Jahr 1996 auf 200 Mrd. €/Jahr 2005).3 Ungefähr 75 % der Gebäudesubstanz, die im Jahr

2020 benötigt wird, sind heute bereits gebaut.4 Im europäi-schen Kontext stieg der Gebäudebestand in den letzten Jah-ren schnell. Mehr als 70 % der Gebäude wurden dort in den letzten 20 Jahren errichtet.5

Laut Prognosen zum demographischen Wandel wird der spezifische Wohnraumbedarf z. B. in Deutschland in Zukunft lokal sehr unterschiedlich ausfallen. Die Bevölke-rungszahlen sind rückläufig, und durch den zunehmenden Anteil an Senioren an der Gesamtbevölkerung wird insbe-sondere die Nachfrage an altengerechtem Wohnraum stei-gen.6 Für einige Gemeinden sind Schrumpfungsprozesse, für andere Zuwanderungen zu erwarten. Durch die Zunahme an Single-Haushalten wächst außerdem der Pro-Kopf-Be-darf an Wohnfläche.7

Der Baubereich ist der Wirtschaftssektor mit den höchs-ten Massenflüssen und Stoffumsätzen. Dies gilt sowohl für den Neubau als auch für die Sanierung und den Ausbau beste-hender Bausubstanz. Etwa 30 % unseres Naturverbrauchs (gemessen als Materialentnahmen in kg) pro Kopf und Jahr werden für die Art, wie wir heute noch bauen und wohnen, benötigt.8 Gebäudebestand und umgebende Infrastruktur (z. B. Straßen, Plätze) nehmen in Deutschland einen gro-ßen Teil der Ressourcen (Fläche, Energie und Rohstoffe) in Anspruch.9 Bei einem globalen Materialverbrauch von ca. 52 t je Person und Jahr werden allein rund 17 t Materialien jährlich für das Bauen und Wohnen aufgewendet.10 Damit ist ‚Bauen und Wohnen‘ das mit Abstand materialintensivste Bedürfnisfeld überhaupt.11

Bauen im Bestand – ein Weg zur Ressourceneffizienz

Der größte Materialeinsatz entlang der Wertschöpfungs-kette entsteht bei der Erstellung neuer Gebäude. Die Wei-ter- und Umnutzung des Gebäudebestandes erspart einen Großteil dieser Aufwendungen und ist somit eines der größ-ten Einsparpotenziale für Ressourcen. Bei Massivbauten ent-stehen während einer ca. 80- bis 100-jährigen Nutzungsphase im Rahmen der Gebäudebeheizung sowie zyklischer Erneu-erungen und Reparaturen zusätzliche Materialaufwendun-gen, die ungefähr 50 der Ressourcenaufwendungen für den Rohbau entsprechen.12 Im Vergleich zum Neubau könnten

Links Riesige Mengen an Bau-stoffen und Energie schlummern in den Altbauten und Infrastruk-tureinrichtungen Europas. Sicht-bar werden sie meistens erst, wenn ein Gebäude abgerissen oder umgebaut wird, wie hier eine Zellulosefabrik aus dem Jahr 1926 in Tallinn.

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durch die Nutzung des Gebäudebestandes ca. zwei Drittel an Material in der Bau- und Nutzungsphase eingespart werden. Dabei sind weitere Einsparpotenziale durch materialsparende Bauweisen und geeignete Baustoffe noch nicht eingerechnet. Schon heute liegt der Tätigkeitsschwerpunkt im Wohnungs-bau liegt beim Ausbaugewerbe, also in der Bestandsnutzung (50 Anteil an der Wertschöpfung).13

Im europäischen Kontext hat die Gebäudesanierung einen unterschiedlichen Stellenwert. Die alten Mitgliedsstaaten der EU haben den Energieverbrauch im Wohngebäudebe-stand während der letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhun-derts erheblich verringert. Die Entwicklung in den neuen Mitgliedsstaaten hinkt hinter diesem Trend hinterher: Hier liegen Energiekennzahlen von Wohnhäusern in den meisten Fällen mindestens doppelt so hoch. Besonders die Platten-bauten aus der Zeit zwischen 1960 und 1990 haben sehr hohe Energieverbräuche. Noch immer sind derzeit sind nur wenige Daten über das Ausmaß der Wohnungssanierungen in den europäischen Ländern vorhanden. Allerdings zeichnet sich europaweit eine Zunahme der Aufgaben für die Bestands-sanierung und der Nachfrage nach entsprechenden (Bau-)Leistungen ab.14

Ungenutzte PotenzialeBis zum Jahr 2025 prognostiziert die Studie ‚Nachhaltiges Bauen und Wohnen in Deutschland‘15 in ihrem Nachhaltig-keitsszenario Einsparungen von bis zu einem Drittel der jähr-lichen Rohstoffinanspruchnahme im Bedürfnisfeld „Bauen und Wohnen“. Möglich werden diese unter anderem durch effizientere Nutzung des Wohngebäudebestandes, energetische Sanierungen, Fernwärmenutzung, verstärkte Innenentwick-lung von Städten und Siedlungen, dem gesteigerten Einsatz nachwachsender Rohstoffe sowie dem Recycling von Baustof-fen.16 Das entspricht einer möglichen jährlichen Rohstoffein-sparung von ca. 89 Mio. t, die in erster Linie im Bereich von Wohngebäuden erzielt werden könnten. Die Einsparpoten-ziale bei Infrastruktureinrichtungen sind hierbei noch nicht eingerechnet. Eine Studie von Artur D. Little GmbH, Wup-pertal Institut, Fraunhofer Institut für System- und Innovati-onsforschung17 kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Hier wird das finanzielle Einsparvolumen durch Materialersparnis auf

Rechts Lange ragte die Zellu-losefabrik mit ihren Kalkstein-mauern leer und düster in den Himmel. Von 2004 bis 2006 wurde sie durch KOKO architects zu Büros und Wohnungen umgebaut und dabei um sechs Geschosse aufgestockt.

ca. 3,8 Mrd. Euro geschätzt (bei einem gesamten Material-wert von 12,5 Mrd. im Hoch- und Ausbaugewerbe). Die Stu-die geht davon aus, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre ca. 30 % dieses theoretischen Einsparpotenzials realisiert werden können (entspricht 1,2 Mrd. Euro).18

Ressourceneffizienz und lebenszyklusweite GebäudeoptimierungEine umfangreiche Analyse des gesamten deutschen Wohngebäu-debereichs nach Gebäudetypen und Baualtersklassen19 verdeut-licht, dass hinsichtlich des Ressourceneinsatzes in Deutschland innerhalb des letzten Jahrhunderts lediglich geringe Fortschritte erzielt wurden. Der Grund dafür liegt zum einen in den gestie-genen Anforderungen an die Bauqualität und den Komfort; zum anderen spiegeln sich darin natürlich auch die gestiege-nen wirtschaftlichen Handlungsspielräume der Bauherren wider. Die Vielzahl und die rasche Weiterentwicklung der auf dem Markt existierenden Baustoffe, -produkte und -systeme wecken Begehrlichkeiten, was die Modernisierungszyklen verkürzt und damit auch den lebenszyklusweiten Ressourceneinsatz forciert. Die oben genannte Studie zeigt überdies, dass die analysierten Gebäude einen Ressourcenverbrauch von rund 4-6 Tonnen pro m2 Hauptnutzfläche verursachen. Obwohl ein Gebäude eine vergleichsweise lange Nutzungsdauer besitzt, führt ein solcher Verbrauch langfristig zu Versorgungsproblemen bei Baumateria-lien. Ohne eine deutliche Steigerung der Ressourceneffizienz ist zukunftsfähiges Wohnen und Bauen nur schwer umzusetzen.

Bei Gebäuden, die in der Zukunft gebaut oder umgebaut werden, werden die Kosten auch jenseits der reinen Bauphase eine zentrale Rolle einnehmen. Es ist anzunehmen, dass sich künftig Technologien noch schneller durchsetzen werden, die zur deutlichen Kostenreduktion bei Errichtung, Betrieb und Erhaltung, aber auch bei der Entsorgung eines Gebäudes füh-ren. Der Perspektivwechsel von einer reinen Orientierung an den Investitionskosten (Errichtung) zu einer Gesamtkostenrechnung, die Investition, Betrieb und Erhaltung berücksichtigt, vollzieht sich bereits. Eine umfassende Gesamtkostenrechnung schließt die gesamten Lebenszykluskosten eines Gebäudes, also auch die Entsorgungskosten (Verwertung von Baurestmassen, Deponie-rung), in die Bewertung mit ein. In diesem Kontext lautet das Ziel von Material- und Energieeffizienzmaßnahmen, durch eine

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Verringerung des Ressourceninputs auf lange Sicht den Natur-verbrauch zu vermindern. Im Idealfall bezieht eine Gebäude- oder Sanierungsplanung die verschiedenen Lebensphasen des Gebäudes mit ein und zielt darauf ab, aus verschiedenen Aus-führungsvarianten (bei Neubau und Sanierung) die aus Mate-rial- und Energieeffizienzsicht günstigste Lösung zu wählen. So kann vermieden werden, dass die in einer Lebenszyklusphase eingesparten Naturverbräuche (Material oder Energie) in eine andere Lebenszyklusphase verschoben werden oder zugunsten der Energieersparnis an anderer Stelle verstärkt Material ein-gesetzt wird.

Was ist zu tun?Um die Ressourcenpotenziale des Bauens im Bestand zu rea-lisieren, sind konkrete Maßnahmen erforderlich. Handlungs-bedarf besteht insbesondere bei der gezielten Förderung von Bestandsanierung, Nachverdichtung und Brachflächenakti-vierung. Hierzu zählen zum Beispiel: – eine verstärkte Innenentwicklung der Siedlungsgebiete – die Revitalisierung der Siedlungskerne insbesondere in den Stadtzentren (Verminderung der Stadtflucht) – die Förderung einer verstärkten Nutzungsmischung, etwa durch neue Formen verdichteten Bauens für Wohnen und Gewerbenutzung – die zusätzliche Besteuerung der Nutzung neuer Flächen20

Darüber hinaus gilt es Strukturen zu schaffen, die Inves-titionen in die Pflege des Gebäudebestandes fördern und eine Berücksichtigung der Ressourceneffizienz während der Gebäude- und Sanierungsplanung ermöglichen. Zu nennen sind hier unter anderem Anpassungen des Miet- und Steu-errechts, aber auch die Möglichkeit von Gebäudebesitzer/-innen, über die Erhebung eines ‚Ökozuschlags‘ auf frisch sanierte Wohnungen bei gleichbleibender Warmmiete die Investitionskosten zumindest teilweise an die Mieter/-innen weiterzureichen. Ein erster Schritt zur Unterstützung einer integrierten Gebäudeplanung wäre die Bereitstellung kos-tengünstiger Planungstools mit standardisierten Bauteilka-talogen (mit ökologischen und ökonomischen Kennwerten). Weiterbildungsmaßnahmen für Planer/-innen und Architekt/-

innen wären eine wichtige Ergänzung hierzu. Darüber hinaus könnte die Integration einer eigenständigen Dienstleistung ‚Gebäudeerfassung‘ in die Honorarordnung für Architek-ten und Ingenieure (HOAI) Raum für eine erweiterte Pla-nung schaffen. Dazu müssen allerdings Anforderungen und Prüfkriterien für ein übergeordnetes Bewertungssystem für den Gebäudebestand entwickelt werden. Darin sollten auch Aspekte von Ressourcenschonung/-effizienz und Recycling einbezogen werden.

Aber auch die Weiterentwicklung bestehender Instru-mente bedeutet einen wichtigen Schritt in Richtung Res-sourcenproduktivität. Hierzu gehören zum Beispiel die vollständige Umsetzung der EU-Gebäuderichtlinie in den einzelnen EU-Ländern sowie die Einführung des Gebäude-energiepasses, der in einem nächsten Schritt zum Ressour-cenpass für Gebäude erweitert werden könnte.

Aufgrund der bereits hohen Regelungsdichte lassen zusätzliche Auflagen weniger Erfolg erwarten als eine ver-stärkte Vollzugskontrolle (zum Beispiel bei der Einhaltung der EnEV) und eine gezielte Förderung der integralen Pla-nung. Unter Einbezug aller Beteiligten müssen Rahmenbe-dingungen geschaffen werden, die Baumängel vermeiden helfen und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Einzelun-ternehmen fördern. Hierzu könnten Stakeholderdialoge und unterstützende Maßnahmen (Förderprogramme für vorbeu-gende Instandhaltungsmaßnahmen, Verbraucherbroschü-ren zum ressourceneffizienten Wohnen und Heimwerken etc.) direkt beitragen. Wichtig sind auch gezielte Weiterbil-dungsprogramme an Schulen, Berufs- und Hochschulen, für Beteiligte am Bauprozess und für Mitarbeiter in Baumärk-ten und im Baustoffhandel. Marketingkampagnen für Bauen und Wohnen im Bestand könnten genutzt werden, um das Bauen im Bestand attraktiver zu machen und zugleich das Wissen der Nutzer (zum Beispiel zu erforderlichen Änderun-gen im Lüftungsverhalten nach einer energetischen Sanie-rung) zu erhöhen.

Thomas Lemken arbeitet als wissenschaftlicher Koordinator und Projekt-leiter am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH. Arbeits-schwerpunkte sind Umwelt- und Ressourcenmanagement, Instrumente der Umweltpolitik, Energie und kommunale Umweltpolitik. Seit 2005 ist er Ge-schäftsführer der Bildungsinitiative für Nachhaltigkeit „KURS 21 e.V.“

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Anmerkungen

1. Grundlage des vorliegenden Artikel ist der federführend vom Wupper-tal Institut initiierte Dialogprozess „Verbesserung der Rohstoffproduk-tivität und Ressourcenschonung“ im Auftrag des Umweltbundesamtes. Mehr dazu unter www.ressourcen produktivitaet.de

2. Schmidt-Bleek (2007): Nutzen wir die Erde richtig?, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

3. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.) ( 2006): “Bericht zur Lage und Perspektive der Bauwirtschaft 2006“. Aus: www.bbr.bund.de.

4. Siehe u.a. Fachinformationszen-trum Karlsruhe [Hrsg.] (2002): Altbau. Fit für die Zukunft. Basis Energie 11. BINE Informations-dienst. In: www.bine.info/pdf/pub likation/BILD1102.pdf; zugegriffen am 14.10.2008.

5. www.epa-ed.org6. Schader-Stiftung (2005): Prog-

nosen der Wohnraumnachfrage bis 2030 in Ost und West; in: www.schader-stiftung.de/wohn_wandel/851.php; zugegriffen am 14.10.2008.

7. Bundesverband deutscher Woh-nungs- und Immobilienunternehmen e. V. (GdW) [Hrsg.] (2006): Bauen und Wohnen im Lebenszyklus. Do-kumentation des Symposiums vom 17. Januar 2006 in Essen. GdW In-formation 116.

8. Bringezu, S. (2004): Erdlandung. Navigation zu den Ressourcen der Zukunft. Stuttgart /Leipzig.

9. Abschlussbericht der Enquête-Kom-mission „Schutz des Menschen und der Umwelt“, a.a.O.

10. Bringezu, S. (2004): Erdlandung, a.a.O.

11. Bringezu, S.; R. Behrensmeier et al. (1998): Material Flow accounts indi-cating environmental pressure from economic sectors. Environmental

Accounting in Theory and Practice. Uno, K.; Bartelmus, P.; Dodrecht, P. Kluwer Academic Publishers: Bos-ton, London.

12. Wallbaum, H.; Herzog, C. (2001): Am Anfang war der Mensch. In: Politi-sche Ökologie 19 (71), 33-36.

13. Jörissen, J., Coenen, R., Stelzer, V. (2005): Zukunftsfähiges Wohnen und Bauen. Herausforderungen. Defizite, Strategien. Edition sigma, Berlin.

14. Rußig, V. (2006): Bauwirtschaft auf moderatem Wachstumskurs. Aus-gewählte Ergebnisse der Eurocons-truct-Winterkonferenz 2005, in: ifo Schnelldienst 3/2006.

15. Siehe http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-k/k2600.pdf

16. Umweltbundesamt (UBA) (2004): Nachhaltiges Bauen und Wohnen in Deutschland. Stoffflussbezogene Bausteine für ein nationales Kon-zept der nachhaltigen Entwicklung – Verknüpfung des Bereiches Bauen und Wohnen mit dem komplementä-ren Bereich „Öffentliche Infrastruk-tur“. UBA-Texte 1/2004.

17. Arthur D. Little GmbH (ADL), Wup-pertal Institut, Fraunhofer Institut für System- und Innovationsfor-schung (ISI) (2005): Studie zur Konzeption eines Programms für die Steigerung der Materialeffizi-enz in mittelständischen Unterneh-men. Abschlussbericht.

18. ebd.19. mipsHAUS-Institut, bislang unveröf-

fentlicht, siehe www.mipshaus.de20. Arthur D. Little GmbH (ADL), Wup-

pertal Institut, Fraunhofer Institut für System- und Innovationsfor-schung (ISI) (2005), a.a.O.

Entwicklungsländer Industrienationen

Abb. 1: Der Zugriff auf die globalen Stoffströme

2007

2050: gleicher Res-sourcenzugriff bei gleicher Be-völkerungszahl

2050: gleicher Ressour-cenzugriff bei Verdoppelung der Bevölkerung der Entwick-lungsländer

2050: gleicher Ressourcenzu-griff bei Halbie-rung der heutigen Stoffströme und Verdopplung der Bevölkerung der Entwick-lungsländer

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Der Pro-Kopf-Zugriff auf globale Stoffströme als Grundlage des materiellen Wohlstan-des ist heute ungleich verteilt zwischen „Süd und Nord“. Bei Angleichung des Verbrauchs und Verdopplung der Bevölkerung in der Dritten Welt wären auf der Basis der heuti-gen Materialintensität der westlichen Wirtschaften im Jahre 2050 siebenmal so viel Ressourcen vonnöten. Um auf eine Stabilisierung der Ökosphäre hinzuwirken, sollte der heutige Weltverbrauch hingegen halbiert werden. Dies würde eine Dematerialisierung der westlichen Wirtschaften um einen Faktor von ungefähr 16 erfordern.

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<1919 1919–1945 1946–1970 1971–1980 1980>

Umfassende Modernisierung Partielle Substanzerhaltung Selektive Renovierung und -verbesserung

Anteil Tendenz Anteil Tendenz Anteil Tendenz

Deutschland 20 30 50

Finnland 10–15 35–40 45–50

Frankreich 10–15 35–40 50

Großbritannien 40–50 30–40 15–25

Italien 20 30 50

Niederlande 15 35 50

Portugal 10 25 65

Schweden <15 30–40 40–60

Slowakei 10–15 15–25 50–60

Spanien 15–20 25–35 50–60

Tschechien 15 30 55

Ungarn 15–20 55–75 15–20

Abb. 3: Struktur und Entwicklung der Altbauerneuerung in Europa 2005 nach Leistungskategorien

QUELLE: NATIONAL AGENCY FOR ENTERPRISES AND HOUSING: HOUSING STATISTICS IN THE EUROPEAN UNION 2003. DÄNEMARK 2003

QUELLE: EUROCONSTRUCT/IFO INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG (BARCELONA CONFERENCE, 2005), IN: IFO SCHNELLDIENST 3/2006

Links Nicht nur eine Steige-rung der Energieeffizienz ist bei Sanierungen entscheidend: Auch Wohnqualität ist für die Akzep-tanz und damit Langlebigkeit eines Projekts wichtig. Hierzu kann attraktive Architektur selbst in scheinbar unwirtlichen Wohnlagen – wie hier in Tallinn – einen wichtigen Beitrag leisten.

Abb.2: Der europäische Gebäudebestand nach Bauperioden

Irland 45.60

Portugal 44.40

Finnland 34.50

Spanien 32.50

Niederlande 29.80

Österreichz 29.20

Luxemburg 28.70

Frankreich 23.00

Belgien 22.20

Großbritannien 18.50

Griechenland 17.00

Dänemark 16.40

Schweden 16.10

Deutschland 14.30

Italien 10.10

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5454 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

MEHR RAUM,MEHR LICHT

TAGESLICHT IM DETAIL

Genauer hingesehen: Wie Tageslicht in Gebäude gelangt

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Von Hubertus Adam

Der Wunsch nach einer lichten und hellen Wohnung hat sich seit der architektonischen Moderne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts breitenwirksam durchgesetzt. Daher geht es bei Umbauten häufig nicht allein um eine Vergrößerung der Wohnung, sondern auch um die Steigerung des Wohnwerts durch Optimierung des Lichteinfalls.

„Licht, Luft und Sonne“, dieser Schlachtruf der Moderne ver-änderte das Wohnen nachhaltig. Von den frühen Zivilisatio-nen bis weit in die Neuzeit hinein bestand die Hauptfunktion einer Behausung darin, die Bewohner zu schützen: vor Wind und Wetter, vor Eindringlingen und Feinden. In einer festen Hülle stellten notwendige Öffnungen die Schwachstellen dar, und so versuchte man, sie so klein wie möglich zu halten. Dies umso mehr, als Glasscheiben teuer waren und sich auch nur in begrenzter Größe herstellen ließen. Ausgedehntere Glasflächen fanden sich lediglich dort, wo es weniger um Funktionalität als um Repräsentation ging, etwa an gotischen Kathedralen oder Schlössern des Barock; einfache Wohnbauten hingegen waren spärlich befenstert.

Die Forderung nach der Öffnung des Hauses übernahm das Neue Bauen aus der Reformideologie der Zeit um . Gegen-über dem Elend in den Mietskasernen der übervölkerten und verschmutzten Städte propagierten Lebensreformer eine auf die Natur abgestimmte Lebensweise. Mit hellen, weißen Wohnun-gen adaptierten die Architekten der zwanziger Jahre die Postu-late des Hygienediskurses für den Bereich des Bauens – und schufen damit ein überaus konstantes Bild modernen Wohnens. Das neue Lebensgefühl war nicht nur eine Absage an den kata-strophalen Standard der Arbeiterwohnung, sondern auch an den nun als muffig verpönten, durch schwere Vorhänge und dunkle Möbel ständig im Dämmerzustand gehaltenen groß-bürgerlichen Salon der Jahrhundertwende. ‚Befreites Wohnen‘ betitelte Sigfried Giedion, einer der einflussreichsten Propagan-disten des Neuen Bauens, im Jahre eine pamphletähnli-che Programmschrift. Schön, heißt es darin, „ist ein Haus, das unserem Lebensgefühl entspricht. Dieses verlangt: Licht, Luft, Bewegung, Öffnung.“ Das liegende Fenster und das Fensterband

– nicht zuletzt Reaktion auf niedrigere Raumhöhen – sowie die Außenräume zählen zu den wichtigen Merkmalen des Neuen Bauens. Balkone, die bis zur Gründerzeit vornehmlich repräsen-tative Funktion besaßen, wurden nun gleichsam zu Freiluftzim-mern zum Zweck der Erholung und Regeneration.

Vom Wiederaufbau zum Sanierungsfall: Die Grosswohnanlagen der NachkriegszeitIn idealer Form fand die neue Lebenswelt in den Villen eines Mies van der Rohe oder Le Corbusier ihren Ausdruck, und diese

haben die Ästhetik des Neuen Bauens in die Köpfe der Nachwelt eingebrannt. In der eigentlichen Herausforderung der architek-tonischen Moderne – der Wohnung für das Existenzminimum

– ließen sich die Postulate indes nur bedingt umsetzen. Der Bau-wirtschaftsfunktionalismus konnte nach dem Zweiten Weltkrieg an die schlichten Wohnungen der Vorkriegszeit anknüpfen, und heute stellen die Großsiedlungen der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre vielfach ein Problem dar – ganz gleich, ob sie sich im Westen oder im ehemaligen Ostblock befinden. Sie entspre-chen weder heutigen energetischen Standards noch den Bedürf-nissen, denen heute nach allgemeinem Verständnis Wohnungen zu folgen haben. Vielfach wird Abriss als eine mögliche Lösung angesehen, doch es gibt Alternativen. Vor vier Jahren erarbei-teten die Architekten Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal im Auftrag des französischen Kulturministeriums eine Studie, wie mit Großsiedlungen umzugehen wäre. Die geringe Dichte und der freie Blick auf die umgebende Landschaft stellen dem-zufolge ein Potenzial da, das die Transformation dem Abriss gegenüber als überlegen erscheinen lässt. Wie eine zeitgenös-sische Erneuerung aussehen kann, beweisen Lacaton & Vassal derzeit an einem -geschossigen Wohnturm nahe dem Boule-vard Périphérique am Rand von Paris.

Nach außen werden sämtliche Wohnungen mit einem Win-tergarten und einer Balkonzone ergänzt, sodass die Tiefe um mehr als drei Meter zunimmt. Wie Gerüste umstehen die neuen Raumzonen das Gebäude ringsum, die bestehenden Außen-wände sind durch Glasfronten mit Schiebetüren ersetzt. Solcher-maßen entstehen überaus großzügige Außenräume mit einem abgestuften System aus Sonnenschutz und Verschattung.

Das Fehlen der Außenwohnräume ist auch ein zentraler Mangel bei dem Bestand von Plattenbauten der früheren DDR. Ein mutiges Projekt, welches das die Montage und Demontage unterstützende System der Platte auf ungewöhnliche Weise nutzt, realisierte der Frankfurter Architekt Stefan Forster vor wenigen Jahren im thüringischen Leinefelde. Durch Eliminierung jedes zweiten Treppenhauses und Abtragung des obersten Stockwerks wurde eine Plattenbauzeile in acht viergeschossige Stadtvillen verwandelt. Mit Balkons und großen Fenstern haben die Woh-nungen eine völlig neue Qualität erhalten: Der einstige, gleichför-mige Rhythmus der Lochfenster ist einer Abfolge von Zimmern mit unterschiedlichen Fenstergrößen gewichen.

Links Der Umgang mit Altbauten braucht oft einen langen Atem: Über 20 Jahre hinweg baute der Schweizer Architekt Boa Bau-mann für den Schlagzeuger Fritz Hauser ein halbverfallenes Land-haus im Piemont zum Wohn- und Arbeitsort um.

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Plug-ins und Dachaufbauten: Wie neuer Wohnraum entstehtBestehende Bausubstanz nicht zu abzureißen, sondern heuti-gen Anforderungen anzupassen, ist ein Postulat, das im Zeit-alter nachhaltigen Bauens ständig an Bedeutung gewinnt. Lange Zeit haben Architekten derlei Bauaufgaben abschätzig betrachtet, weil sie als wenig prestigeträchtig galten. Diese Zeit ist vorbei: Heute gibt es genug Beispiele für ganz unter-schiedliche Lösungen des Verhältnisses von Alt und Neu.

Ein Thema, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, ist die Umnutzung von Gewerbeliegenschaften in Wohnbau-ten. Ein Pionierprojekt wurde unlängst von dem Büro Hol-zer Kobler Architekturen im Zürcher Giesshübel-Quartier realisiert. Die Architekten, die das Umbauprojekt für einen Verwaltungsbau der Warenhauskette Globus selbst lancier-ten und sich dafür einen Investor suchten, favorisierten ein hybride Nutzungsmischung: im Erdgeschoss Gewerbeflä-chen, im . Obergeschoss Büros, in den zwei Vollgeschos-sen darüber und in der Attikazone Wohnungen.

Die Fassade aus dem Jahr blieb weitgehend erhal-ten. Nur die wie Vitrinen wirkenden Rahmen mit jeweils drei französischen Fenstern, von Geschoss zu Geschoss ver-setzt, treten als neue Schicht vor die Fassade und wirken als Unterbrechungen der bestehenden Fensterbänder. Bewohnt werden müssen die Wohnungen wie Lofts: Wer an einer herkömmlichen Zimmerstruktur interessiert ist, wird auf-grund der Gebäudetiefe auf Probleme mit der Belichtung sto-ßen. Die fehlenden Außenräume finden sich auf dem Dach: Dachgärten können auch von den Bewohnern der unteren Geschosse angemietet werden.

Eine andere Strategie verfolgte die Architektengruppe blauraum in Hamburg-Harvestehude. Umgewandelt wurde im Jahr ein viergeschossiger Gewerbeblock, in dem Eigentumswohnungen untergebracht werden konnten. Die Außenhaut aus Kunstharzplatten mit Naturholzlami-nat wirkt wohnlich und lässt kaum noch etwas von dem architektonisch banalen Geschäftsgebäude erahnen. Doch die eigentliche Spezialität des Gebäudes stellen die abge-hängten Kuben an der Außenfassade dar. Jeweils acht Qua-dratmeter messend, bergen sie jene Funktionen, die nicht in die bestehenden Grundrisse eingefügt werden konnten, wie

etwa ein Vestibül, eine Sauna, eine Loggia oder ein Bad. Mit Fenstern quer zur Fassade versehen, tragen die Ausstülpun-gen auch hinsichtlich des Lichteinfalls zur Auflockerung der Wohnungen bei.

Mitunter beschränkt sich die architektonische Interven-tion bei bestehenden Gebäuden allerdings nur auf die Dach-bereiche; auch in Wohnbauten besteht hier häufig noch das Potenzial der Verdichtung, der Aufstockung oder des Aus-baus. Der Dachausbau an der Falkestraße (–) in Wien von Coop Himmelb(l)au, ein Schlüsselwerk des Dekonstruk-tivismus, ist inzwischen zur Ikone geworden. In den letzten Jahren haben sich zwei jüngere Wiener Büros der gleichen Aufgabe angenommen. / installierten Delugan Meissl eine fließende Raumlandschaft, die mit Alucobond verkleidet ist, auf einem Sechzigerjahre-Bürohaus im vier-ten Bezirk der österreichischen Hauptstadt.

Ein spektakulärer Dachaufbau befindet sich seit Jüngs-tem auf einem Hochbunker nördlich des Bahnhofs Fried-richstraße in Berlin. Das Relikt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, das nach der Wende als Location für Techno-Par-tys fungierte, wurde von dem Architekturbüro Realarchitek-tur für die Kunstsammlung von Christian Boros ausgebaut. Den denkbar stärksten Kontrast zu den künstlich belichte-ten Galeriesälen hinter den meterdicken Betonmauern bil-det die wie ein Penthouse auf das Dach gesetzte, rundum verglaste Wohnstruktur für den Sammler und seine Fami-lie. Hat man den in das drei Meter starke Dach des Bunkers gesägten Einschnitt durchquert, steht man in einer licht-durchfluteten Wohnung.

Deutlich unkonventioneller wirkt der Dachaufbau für die Familie des Perückenmachers Didden in Rotterdam, das erste realisierte Projekt von MVRDV an ihrem Arbeitsort. Die Schlafzimmer der Eltern sowie der beiden Kinder treten als „Urhütten“, als archetypische Häuser, in Erscheinung und werden über Treppen von der Wohn-Loftebene im Geschoss darunter erschlossen. Neben den Kleinhäusern finden sich auf der Dachebene Bänke, Duschen und Bäume, durch Aus-sparungen in der Brüstung kann man hinunter auf die Stadt blicken. Alle Elemente sind mit blauem Polyurethan über-zogen: Das „Didden Village“ ist eine große Spielfläche, ein künstlicher Himmel.

Auf dem Dach eines unschein-baren Bürogebäudes aus den 60er-Jahren platzierten Delu-gan_Meissl aus Wien 2003 ihr Wohnhaus ‚Ray 1’: eine Bau–skulptur aus Glas und Alumi-nium, die über ein Stahlskelett auf den Außenmauern des Alt-baus aufsitzt.

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Einen unscheinbaren Gewerbe-bau aus dem Jahr 1974 haben blauraum architekten aus Ham-burg zu 15 Wohnungen umge-baut. Dabei erhielt das Gebäude eine neue Haustechnik und eine neue, holzverkleidete Fassade mit ausgestülpten ‚Boxen‘, die von den Bewohnern individuell unter-schiedlich genutzt werden können.

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Ein ‚Haus in der Vitrine‘ haben Meixner Schlüter Wendt Archi-tekten in Oberursel realisiert. Eigentlich sollte das Wohnhaus aus den 30er-Jahren einem grö-ßeren Neubau weichen, doch die Architekten entschieden sich statt dessen für einen ‚Um-Bau‘ im wahrsten Sinne des Wortes. Nebenbei wurde das Bauwerk dadurch an moderne energeti-sche Erfordernisse angepasst.

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Altes neu interpretiert: Die Fens-teröffnungen des Landhauses von Fritz Hauser im Piemont wurden außen mit Filtermauer-werk aus alten Ziegeln verschlos-sen, das das Licht diffus und das Innenraumklima im Sommer konstant hält.

Hubertus Adam studierte Kunstgeschichte und Archäologie und arbeitet als Architekturkritiker und Publizist; seit 1998 ist er Redakteur der Zeitschrift „archithese“ in Zürich. Zahlreiche Bücher, Buch- sowie Zeitschriftenbeiträge, daneben Architekturkritiken für die „Neue Zürcher Zeitung“.

Eingehüllt und in die Vitrine gestellt: Erweiterungen nach dem ZwiebelprinzipStapeln, Schichten und Verdichten zählen zu den von den niederländischen Avantgardisten MVRDV immer wieder praktizierten Strategien. So haben sie im Hafen von Kopen-hagen zwei massige Saatgut-Silos zu Wohnungen umgebaut. Die riesigen Betonzylinder dienen als Tragstruktur für die nach außen abgehängten, radial orientierten und verglasten Wohnungen, während die Erschließung durch Laubengänge und Aufzüge im Inneren erfolgt. Imposant sind vor allem die riesigen Atrien im Inneren der früheren Silos, die jetzt mit gläsernen Kuppeldächern überwölbt sind.

Einer ähnlichen Aufgabe widmete sich die dänische Architektin Dorte Mandrup. Außerhalb von Kopenhagen hat sie einen Wasserturm aus dem Jahr in ein Jugend-wohnheim transformiert. Im Sinne eines ‚Plug-in‘ wurden die einzelnen, von der Mitte aus erschlossenen Raumzellen zwischen die bestehenden Stützen eingesetzt, welche den Tank tragen. Große Fenster auf der Außenseite, zum Teil vit-rinenartig abgewinkelt oder vorkragend, dienen dazu, Licht auch in die Tiefe des Raums eindringen zu lassen.

Umbau und Erweiterung sind schließlich aber auch The-men bei kleineren Wohnhäusern. In Oberursel im Taunus wurde von den Frankfurter Architekten Meixner Schlüter Wendt ein Ferienhaus des beginnenden . Jahrhunderts mit einem Kubus umhüllt. Teils wird der Raum zwischen alter und neuer Wand für die Vergrößerung bestehender Wohnräume – gleichsam nach dem Vorbild einer Extrusion – genutzt, teils blieb er als Hüllraum erhalten. Auf jeden Fall ist eine lichte Zwischenschicht entstanden, die zur Front hin völlig verglast ist und damit das radikale Aufeinandertreffen von Alt und Neu wirkungsvoll in Szene setzt.

Eine diskretere Strategie verfolgte der Berner Architekt Boa Baumann bei seinem Haus für den Schlagzeuger Fritz Hauser bei Costigliole d’Asti im Piemont. Hauser hatte ein bescheidenes, halb verfallenes Wohn- und Stallgebäude in den Weinbergen erworben, das durch Baumann neu aus-gebaut und mit einer Ziegelsteinhaut mit kreuzförmigen Aussparungen versehen wurde, wie man sie traditionell an Scheunen in der Region findet. Das durchbrochene Filter-mauerwerk gibt ein diffuses Licht und wirkt gerade im Som-

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mer auch als Sonnenschutz; im Wohnraum öffnet sich über ein großes Panoramafenster der Blick in die Landschaft. Das Haus, das in seinem Obergeschoss bühnenartige Qualitäten bietet, ist Wohn- und Arbeitsort zugleich. Üblicherweise, so Fritz Hauser, seien Schlagzeuger in Keller verbannt. End-lich könne er im Licht arbeiten.

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VELUX EINBLICKE Architektur für Menschen – gebaut mit VELUX.

TAGESLICHT STATT CO2Chimney Pot Park in Salford

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Von Oliver LowensteinFotos: Torben Eskerod

Mit ihrem Reihenhausumbau im Chimney Pot Park von Salford geben shedkm ar-chitects ein Beispiel für die nachhaltige Revitalisierung von Nordenglands Industrie-städten. Ein Bauelement früherer Tage ist bei den energieeffizienten Wohnhäusern fast komplett verschwunden: der Kamin. An seine Stelle treten markante Lichtschächte, die Tageslicht tief in die Gebäude lenken.

In den letzten zwanzig Jahren erfuhren viele Städte im Norden Englands, der Wiege der Industriellen Revolution in Großbritan-nien, massive Veränderungen. Die Hafen-stadt (und diesjährige Kulturhauptstadt Europas) Liverpool, ihr in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Rivale Manches-ter, die Industriestädte Leeds und Bradford in Yorkshire sowie Englands ‚Ruhrgebiets-stadt‘ Sheffield erlebten bis in die 80er-Jahre einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang. Die Industrie, die ihnen im 19. Jahrhundert zu wirtschaftlicher Blüte und sozialer Stabilität verhalf und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Stützpfeiler war, lag am Boden. Als frühe Opfer der Globalisierung mussten diese Städte ebenso wie viele ähnliche Industrie-gebiete in ganz Europa tatenlos zusehen, wie wichtige Industriezweige ihre Produktion in Niedriglohnländer verlagerten. Dieser Zer-fall bedeutete nicht nur für hunderttausende Menschen den Verlust ihres Arbeitsplatzes, sondern führte auch zum Leerstand riesi-ger Industriegebäude, die langsam baufäl-lig wurden und dann völlig verfielen.

Die Renaissance der IndustriestädteNoch in den 80er-Jahren schien der Bausek-tor – angefangen von Regierung und städ-tischen Behörden bis hin zu Planern und Entwicklern – keine zündende Idee zu haben, was mit diesen Symbolen moderner Wüs-tenstädte zu tun sei. In den letzten fünf-zehn Jahren aber, insbesondere nachdem die Labour-Partei unter Tony Blair die Regie-rung übernahm, wurden gewaltige Geld-summen in diese Städte gepumpt, häufig in Form öffentlich-privater Partnerschaften mit dem Ziel, die Bausubstanz dieser einst so stolzen Städte zu erneuern. Einige priesen dies als urbane Renaissance, andere blieben skeptischer. Tatsache aber ist, dass in den letzten zehn Jahren viele neue Häuser und Gebäude entstanden.

Urban Splash, ein Liverpooler Spezialis-tenteam für Entwicklung und Erneuerung, gehört zu den Unternehmen, denen die-ser Wandel größtenteils zu verdanken ist. In den letzten fünfzehn Jahren etablierte sich dieses Unternehmen zu einem der füh-renden Projektentwickler in Großbritan-nien, spezialisiert auf den Umbau älterer Industriegebäude in verwahrlosten Stadt-

gebieten. Gelegentlich wird sogar behaup-tet, Tom Bloxham, ein studierter Politik- und Geschichtswissenschaftler und Gründer von Urban Splash, habe den Wiederaufbau der nördlichen Städte im Alleingang ausgelöst. Dies ist natürlich eine Übertreibung, aber Bloxhams Unternehmen hat eindrucksvoll demonstriert, wie man sterbender urbaner Bausubstanz neues Leben einhauchen kann. Wo andere Entwickler nur unbrauchbare Ziegel und Mörtel sahen, ohne Hoffnung auf kommerzielle Verjüngung, war Urban Splash federführend bei der Umgestaltung alter innerstädtischer Lagerhallen und Fabriken in moderne Lofts. In Zusammen-arbeit mit angesehenen Architekturbüros wie shedkm, dem ursprünglichen Liverpoo-ler Partner von Urban Splash, expandierte das Unternehmen in den letzten Jahren nach London, in die Midlands und in den Südwes-ten Englands.

Ein Umbaumodell für Englands Reihenhaussiedlungen Während sich im Nordwesten Englands leerstehende Fabrikgebäude häufen, sind bei einer Reise durch den Norden die vielen

Seite 60–61 Nur die Kubatur und die restaurierte Ziegelfassade des Chimney Pot Park blieben bei der Erneuerung erhalten. Die

‚Lichtkamine‘ auf den Dächern sind ebenso neu wie die Raumaufteilung im Inneren.

Rechts Zwischen den Häuserzei-len, wo früher Schuppen standen und Gemüsegärten angelegt waren, erweitert eine begrünte Gemeinschaftsterrasse die Wohnungen.

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kleinen, in dichten Reihen gebauten Häuser kaum zu übersehen. Die allgegenwärtigen roten Ziegel zeugen von der Entstehungs-zeit der Gebäude, der englischen Industriel-len Revolution. In den Ziegelhäusern lebten viele der städtischen Industriearbeiter, und trotz des Kommens und Gehens der brutalis-tischen Betonhochhäuser in den 60er-Jahren und der späteren Zersiedelung jenseits der Stadtgrenzen dominieren Backstein-Reihen-häuser aus dem 19. Jahrhundert auch heute noch das Bild vieler Städte im Norden. Die meisten von ihnen sind heute dringend sanie-rungsbedürftig – und auch auf dieses Prob-lem hat Urban Splash in Zusammenarbeit mit shedkm eine Antwort gefunden.

Salford, ein Teil von Greater Manches-ter und nur etwa eineinhalb Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, wurde zum Aus-hängeschild des Wiederaufbaus im Norden. Als eines der ärmsten Stadtviertel mit der höchsten Arbeitslosenquote im ganzen Land erfährt dieser selbstverwaltete, etwa 95 km² große Bezirk seit mehreren Jahrzehn-ten weitreichende Umbaumaßnahmen. Von dem wohl bekanntesten Stadterneuerungs-gebiet, den Manchester Docks mit Libes-

kinds Imperial War Museum, gelangt man nach einer kurzen Straßenbahnfahrt über den Manchester Canal, vorbei an den neuen Hochhausgebieten, in den Langworthy Dis-trict. Hier haben Urban Splash und shedkm ein Sanierungsprojekt mit Reihenhäusern in einem engen Straßengeflecht realisiert. Chimney Pot Park besteht aus 400 Reihen-häusern und bietet mit seiner guten Anbin-dung an die Straßenbahn eine urbane und doch kleinmaßstäbliche Alternative zu den Wohnhochhäusern entlang der innerstädti-schen Skyline. Noch im Jahre 2000 hätten diese Häuser abgerissen werden sollen, um einer konventionellen, neuen Wohnsiedlung Platz zu machen. Doch nach Bekanntwerden der Abrisspläne wandten sich die Anwohner an die Stadtverwaltung und die zuständige Parlamentsabgeordnete und Regierungs-ministerin Hazel Blears mit dem Ansuchen, andere Wege zur Nutzung der Häuser zu finden. Diese wandte sich an James Wes-ton, einen der Direktoren von shedkm, der von der Herausforderung, eine Reihenhaus-siedlung für das 21. Jahrhundert zu planen, begeistert war. Es gelang ihm, Urban Splash von der Durchführbarkeit eines solchen Pro-

jektes zu überzeugen. Zusammen mit dem Stadtrat, English Partnerships und der Nord-west-Regionalbehörde wurden 26 Millio-nen Pfund bereitgestellt, und im Dezember 2004 rollten die Bagger an.

Jeder Quadratzentimeter wurde genutztVier Jahre nach seiner Fertigstellung hat Chimney Pot Park ein eigenständiges Leben entwickelt, das sich von den umlie-genden Siedlungen deutlich unterscheidet. Die Straßen sind sauber, und versenkbare Poller erlauben die Zu- und Ausfahrt nur mit dem richtigen Code. Wo vorher über-all Graffitis klebten und wild lebende Tiere zwischen baufälligen Mauern streunten, ist nun die gestaltende Hand der Architekten deutlich spürbar. Die roten Backsteinfas-saden der Reihenhäuser sind frisch gesäu-bert, das Ziegelwerk eingebettet in eine zeitgemäße Farbpalette aus Grau-, Weiß- und Schwarztönen. Die Dächer wurden mit grauen Ziegeln neu gedeckt, die Rückwände weiß verputzt. So entsteht ein modernes Straßenbild mit viktorianischer Prägung, ein weiteres Beispiel für den retroviktoria-

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Für die Obergeschosse entwarfen shedkm zwei verschiedene Grundrissva-rianten. Bei der einen befinden sich Küche und Essbereich im ersten Stock, während eine zusätzliche Mezzaninebene im nunmehr offenen Dachboden weiteren Platz schafft. Die andere Grundrissvariante verfügt über einen größeren, offenen Wohn- und Arbeits-bereich sowie eine kleinere Küche auf der Mezzaninebene. Die Architekten bestä-tigen, dass die Öffnung des Dachbodens entscheidend dazu beitrug, die Wohnflä-che zu vergrößern. Ein weiteres Mittel der räumlichen Optimierung ist die begrünte, gemeinschaftliche Freiterrasse im ersten Obergeschoss: Zu historischen Reihenhäu-sern gehörte stets ein kleiner Hof oder Gar-ten. Diese wurden von shedkm überdacht und mit dem angrenzenden Grundstück ver-bunden. Unter der Überdachung befinden sich nun die Garagen; darüber entstand die Gemeinschaftsterrasse mit Holzboden und Pflanzkübeln. An warmen Sommertagen lädt dieser attraktive halb öffentliche, halb private Platz sicherlich zum Entspannen ein

– ob er aber einen Garten wirklich ersetzen kann, sei dahingestellt.

1. Querschnitt2. Grundriss 1. Obergeschoss3. Grundriss Erdgeschoss

Rechts Die gleiche Perspektive – einmal im Ober- und einmal im Erdgeschoss. Oben unterteilen Pflanzkübel die holzbedeckte Gemeinschaftsterrasse und vermitteln den Bewohnern so ein Minimum an Privatsphäre. Unten sind wettergeschützte Carports entstanden.

nischen Stil, der mittlerweile in ganz Groß-britannien zu finden ist.

Beim Betreten des Musterhauses wird man sofort wieder mit dem Geschick der Architekten konfrontiert. Wie ist es ihnen gelungen, das kleine Reihenhaus durch Umgestaltung der Räume so viel größer wirken zu lassen, als es von außen den Anschein hat? Schließlich blieben die Außen-maße der Häuser unverändert, obwohl die Wohneinheiten heute 62 bis 100 m2 umfas-sen. Überall, wo möglich, wurden Zentime-ter gewonnen, so etwa durch in den Boden eingelassene Badewannen. Noch wichtiger aber ist die völlige Umkehrung der Raum-nutzung: Küche und Wohnzimmer wurden in den ersten Stock verlegt, während sich die Schlafzimmer nun unten befinden. Dies ist eine überraschende Variante der in Eng-land als ‚two-up, two-down‘ bezeichneten Vierzimmerhäuser, die das Stadtbild vor dem Aufkommen der Hochhäuser und der individuellen Wohnhäuser in den Vorstäd-ten prägten. Die beiden Schlafzimmer im Erdgeschoss sind klein und dienen, so die Architekten, „zum Schlafen und nicht zum Wohnen“.

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Links Alle Häuser haben ein neues Mezzaningeschoss direkt unter dem Dach erhalten. Es wird in einigen Wohnungen als Wohnzimmer, in anderen als Küche genutzt.

Rechts Die Lichtkamine verleihen den Häusern ihre markante Silhouette – und nehmen formal auf die Schlote des fossilen Zeitalters Bezug. Die Dachwohnfenster sind entgegen den übrigen Dachflä-chen geneigt.

FaktenGebäudetyp: 349 ReihenhäuserBauherr: Urban Splash, Manchester, GBArchitekten: shedkm Architects, Liverpool, GBStandort: Chimney Pot Park, Langworthy, Salford, GB

logischen Fußabdruck‘ – und dies trotz der Tatsache, dass lediglich die originalen Stütz-mauern stehen blieben und mit Stahlrahmen verstärkt wurden. Außer Zweifel steht, dass dieses Projekt den Backstein im Sinne nor-denglischer Industrietradition wiederbelebt. Wenngleich eher Anfangspunkt denn letzte Lösung für ökologisches Wohnen auf engem Raum, bereichert Chimney Pot Park den Nor-den Englands um ein neues Sanierungsmo-dell, das entwicklungs- und im wahrsten Sinne des Wortes ausbaufähig ist.

Oliver Lowenstein ist Chefredakteur der Kulturzeitschrift Fourth Door Review, www.fourthdoor.co.uk

Schornsteine zu LichtkaminenDie Schornsteinaufsätze, die der Siedlung ihren Namen gegeben haben, sind in Wirk-lichkeit keine Schornsteine, sondern wur-den auf geniale Weise einem moderneren Zweck zugeführt: Durch neu eingesetzte Lichtschächte dringt nun Tageslicht bis in die ansonsten dunklen Schlafzimmer im Erdgeschoss. Die ‚unechten‘ Kamine oben auf den Dächern gehören zu den auffälligs-ten Merkmalen der gesamten Siedlung: Sie bestechen durch ihre Eigentümlichkeit und unterstreichen gleichzeitig den viktoriani-schen Charakter der Häuser aus dem 21. Jahrhundert.

Die zeitgenössische Version einer Rei-henhaussiedlung, wie sie in Chimney Pot Park realisiert wurde, stößt allgemein auf Anerkennung. Urban Splash ist es offenbar gelungen, das Konzept von Loftwohnun-gen hier erfolgreich auch bei Reihenhäu-sern umzusetzen. Die Häuser nehmen exakt dieselbe Fläche ein wie vor dem Umbau und geben dadurch ein Beispiel für urba-nes Leben auf engem Raum. Chimney Pot Park verbindet eine verdichtete, flache Bau-weise mit einem erheblich reduzierten ‚öko-

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VELUX IM DIALOG Architekten im Dialog mit VELUX.

PATH STATION, SCHATTENANALYSE DES BAHNSTEIGBEREICHS 7 SEP – 8:30 AM

PATH STATION, SCHATTENANALYSE DES BAHNSTEIGBEREICHS 21 SEP – 5:30 PM PATH STATION, SCHATTENANALYSE DES BAHNSTEIGBEREICHS 21 JUNI – 5:30 PM

PATH STATION, SCHATTENANALYSE DES BAHNSTEIGBEREICHS 21 JUNI – 8:30 AM

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Dass Tageslicht in der Arbeit junger Architekten immer wichtiger wird, zeigen die die Resultate des letztjähri-gen International VELUX Award for Students of Architecture. Insgesamt 686 Studenten, mehr als jemals zuvor, reichten ihre Projekte ein und zeigten damit, wie der Juryvorsitzende Hani Rashid sagte, eine „schier unglaubliche Ideenvielfalt“. Vor der Preisverlei-hung am 7. November 2008 in Venedig sprach Daylight&Architecture mit den drei Preisträgern.

FAKTEN

Preis: International VELUX Award for Students of Architecture

Motto: Lights of Tomorrow

Anzahl der eingereichten Projekte: 686 – Alle Projekte im Internet unter www.velux.com/iva

Jurymitglieder:Hani Rashid (Vorsitzender; Asymp-tote Architecture, New York, USA)Enrique Browne (Enrique Browne & Associates, Santiago de Chile, Chile)Eva Jiricna (Eva Jiricna Architects, London, GB) Huat Lim (ZlgDesign, Kuala Lumpur, Malaysia) Francis Nordemann (Ecole d’Archi–tecture de Paris Belleville, Paris, Frankreich) Michel Langrand, General Manager, VELUX Frankreich (Frankreich)

Jurysitzung: 25/26. Juni 2008 in Turin

Preisverleihung: 7. November 2008 in Venedig

Preissumme: €30.000

1. Preis:Reilly O’Neil Hogan Cornell University (USA): „Embodied Ephemerality: Light-Form Architecture”

2. Preis:Ruan Hao and Xiong XingTsinghua University (China) „Interface-Repairing Light Festival”

3. Preis:Dean MacGregorUniversidade Lusíada de Lisboa (Portugal)„Light Has a Body”

1. PREIS

Reilly O’Neil Hogan Cornell University (USA): „Embodied Ephemerality: Light-Form Architecture”

In seinem Projekt sucht Reilly O’Neil Hogan die Konfrontation mit der All-tagsroutine in der Stadt, indem er an einer neuen (falschen) Station aus der U-Bahn steigt: „Hat man seine normale Haltestelle verpasst und ist gezwungen, von der Routine abzu-weichen, nimmt man die Stadt mit ganz anderen Augen wahr. Sinn mei-nes Projektes ist die Umkehrung die-ses Phänomens, um die Erfahrung zu vermitteln, dass auch Orte auf unse-rem täglichen Weg plötzlich ganz an-ders aussehen können.“

Zur Umsetzung dieser Idee wählt Hogan die PATH Station in Lower Manhattan, wo er zu den Hauptver-kehrszeiten (8:00 bis 9:00 Uhr und 17:00 bis 18:00 Uhr) wohldosiertes Sonnenlicht in die „Unterwelt“ der Pendler einfallen lässt.

In den Augen der Jury „ist das Pro-jekt eine Vision, wie Tages- und Son-nenlicht in die tägliche Routine der Menschen in der U-Bahn einfließen kann, wo dieses normalerweise nicht eindringt. Ein sorgfältig strukturier-tes Grundkonzept, umgesetzt in ein vollkommenes und effizientes Mo-dellprojekt“.

2. PREIS

Ruan Hao / Xiong Xing Tsinghua University (China) „Interface-Repairing Light Festival”

Die Bauweise einer Stadt hat be-trächtlichen Einfluss auf das verfüg-bare Sonnenlicht: In dicht bebauten Städten tappt man vielerorts fast den ganzen Tag „im Dunkeln“. Ruan Hao und Xiong Xing begegnen die-sem Problem mit einem eintägigen Sonnenlicht-Festival im Zentrum New Yorks. Ihr Entwurf besteht aus Spiegelinstallationen an ausgewähl-ten Fassaden, die das einfallende Sonnenlicht auf die Schattenseiten angrenzender Straßen und Gebäude reflektieren.

Die beiden angehenden Architekten beschreiben ihr Projekt so: „Ein Er-gebnis zunehmender Urbanisierung ist die jahrzehntelange Umgestal-tung dicht besiedelter Stadtzen-tren, wo mehr als die Hälfte der Fläche aus Hausfassaden besteht. Die ‚Sonnenseite‘ einer Stadt stän-dig umzubauen, führt unweigerlich dazu, auch negative und dunkle Be-reiche zu schaffen. Mit unserer Ins-tallation wollen wir diese Bereiche durch Reflexion von gegenüberlie-genden Fassaden aus ihrem ‚Schat-tendasein‘ befreien.“

Nach Meinung der Jury ist „dies ein Projekt voller Poesie, das eine tradi-tionelle Metropole in eine Stadt de-mokratischen Lichts verwandelt, in der Licht und Schatten gleichsam von allen Stadtbewohnern geteilt werden“.

3. PREIS

Dean MacGregor Universidade Lusíada de Lisboa (Portugal) „Light Has a Body“

Große, vom Tageslicht abgeschottete Räume – seien es U-Bahn-Stationen, Messehallen oder Konzertsäle – wer-den überwiegend als Orte wahrge-nommen, in die kein Sonnenstrahl einfällt. Dean MacGregor bezeich-net sein Projekt als spielerischen Versuch, solche Räumlichkeiten auf natürliche Weise zu beleuchten: Die einzige Verbindung zwischen dem In-nenraum und der Außenwelt – in die-sem Falle einem Platz inmitten der Stadt – bilden große Wassermengen in transparenten Glasbehältern, die das Tageslicht einfangen und nach innen abgeben.

Über sein Projekt sagt Dean Mac-Gregor: „Ich wollte zeigen, dass Licht durchaus auch eine physikali-sche Größe sein kann. Licht kann man sehen und fühlen. In der zeitgenössi-schen Architektur geht es vor allem um die Funktion eines Fensters und um einen bestimmten Einfallwinkel des Lichts. Ich aber wollte diesem unsichtbaren Phänomen, das jeder kennt, Körperlichkeit verleihen.“

Die Jury war beeindruckt „von dieser fragilen, simplen und spielerischen Idee, die vielleicht beim Anblick des Lichtspiels in einem Weinglas ihren Ursprung fand und hier im größe-ren Maßstab eines Museums um-gesetzt wurde. In dieser Größe üben die Behälter als Lichtspeicher einen enormen Einfluss auf den Raum aus, verursacht durch die Bewegung der Flüssigkeit und die entsprechenden Farbveränderungen. Dieses Projekt zelebriert das Licht und verbindet auf grandiose Weise Vision und Poesie.”

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70 D&A WINTER 2008 AUSGABE 10

Reilly O’Neal Hogan: „Ich möchte die Bedeutung des Lichts für die Raumqualität verstehen“

D&A: Ihr Projekt für den Interna-tional VELUX Award bestand im Umbau einer Bahn-Station in Down-town Manhattan. Warum entschie-den Sie sich gerade für diesen Ort, und wie sieht die Situation dort der-zeit in der Realität aus?

ROH: Unmittelbar neben dem eins-tigen World Trade Center und dem künftigen World Trade Center Me-morial gelegen, wird die PATH-Sta-tion demnächst jeden Tag von mehr als 35.000 Pendlern passiert. Diese Pendler werden die Station über Jahre hinweg zweimal täglich ‚er-fahren‘. Natürlich hat sie nichts mit dem 9-11 Memorial gemein, aber es bietet sich hier die Gelegenheit, der alltäglichen Routine neue Bedeutung zu verleihen und so all jener zu ge-denken, die an jenem Tag ihr Leben verloren. Ich sah hier die Möglich-keit, im wahrsten Sinne des Wortes kurze Lichtblicke in den Alltagstrott der Menschen zu bringen. Das Me-morial ist ein Reiseziel, die Bahn-station genau das Gegenteil: ein Durchgangsbereich. Derzeit ist dort eine Behelfsstation eingerichtet, um die unteren Gleise des PATH-Zugs zu erreichen und in die U-Bahn umzusteigen. Anstelle der jetzigen Behelfsstation wird hier ein neues Verkehrsdrehkreuz von Santi-ago Calatrava entstehen.

D&A: Mit Hilfe des Tageslichts haben Sie einem vormals seelenlosen Ort Charakter verliehen. Mit welchen ar-chitektonischen Mitteln konnten Sie diese Umwandlung erreichen?

ROH: Ziel des Projekts war eine Ar-chitektur, die das Publikum (also die Pendler) bei zunehmender Vertraut-heit mit dem Ort immer wieder aufs

Neue beeindruckt. Ist es möglich, durch erhöhte Sensibilität für Licht, Schatten und Jahreszeitenwech-sel einen Raum zu schaffen, der sich durch die Zeit definiert? Mein Grundkonzept basiert auf einer neuen Gewichtung des Verhältnis-ses zwischen Licht und Innenraum. Lichtmomente werden eingefangen und durch Brechung verstärkt. Die Öffnung bewirkt – im Gegensatz zu den Skyspaces von James Turell, wo diese eine Art Klammerfunktion hat – eine Brechung des Tageslichts und seine Projektion in den Untergrund. Durch dieses Prinzip der Brechung wollte ich traditionelle Raumgren-zen wie Wände, Decken oder Säulen entmaterialisieren und in Lichtreflek-toren verwandeln. Das Licht wird geformt, durch einen Reflektor um-gelenkt und auf eine lichtdurchläs-sige Fläche projiziert und durchsetzt so den Innenraum mit Lichtpunkten. Die monotone Alltagsroutine der Pendler in der U-Bahn ohne jedwede Beziehung zu der Station weicht so einer höchst ästhetischen Erfahrung, die sich je nach Wetter, Sonnenstand und Jahreszeit ändert.

D&A: Welche Methoden und Mittel haben Sie genutzt, um den Tages-lichteinfall während des Planungs-prozesses zu simulieren?ROH: Computersimulationen erwei-sen sich als höchst mühselig, wenn man es mit kaustischem Licht zu tun hat (also mit Licht, das von einer Metall- oder Glasfläche auf eine an-dere Fläche reflektiert oder gestreut wird), außerdem sind schnelle Expe-rimente damit kaum möglich. Deshalb habe ich mich fast ausschließ-lich physischer Modelle bedient, die den Vorteil bieten, mit echten Materi-alien und deren Eigenschaften (wenn-gleich auch nur in Annäherung an den realen Maßstab) arbeiten zu können und die Effekte des reflektierten Lichts auf den Raum per Video oder

Foto festzuhalten. Mit Hilfe eines hel-len Scheinwerfers zur Simulation der Lichteinfallswinkel und einer kleinen, in die Modelle eingebauten Videoka-mera mit Live-Verbindung zu einem Laptop war es möglich, die Reflekto-ren exakt zu planen und auszurichten. Dementsprechend wurden Stützen und Wände gestaltet und erste Ge-samtstudien durchgeführt. Anschlie-ßend wurden die Modelle bei realem Tageslicht getestet und fotogra-fiert. Die Endstudie wurde zunächst unter Berücksichtigung der vier Son-nenwinkel digital modelliert, um die Dach- und Glasreflektoren zu planen, und anschließend physisch nachge-stellt, getestet und fotografiert. Änderungen des Sonnenwinkels konnten durch Ausrichtung des Scheinwerfers auf eine auf der Mo-delloberfläche montierte Sonnenuhr rasch simuliert und anhand von Fotos dokumentiert werden. Dies erwies sich bei der Arbeit mit solchen Effek-ten als wirkungsvolle Methode, die schnelles Experimentieren und eine konkrete Einschätzung der Effektwir-kung im Raum ermöglichte.

D&A: Welche Rolle spielen das Licht-design und insbesondere das Tages-licht im Lehrplan Ihrer Universität?

ROH: Meiner Erfahrung nach ist Lichtdesign bei uns kein zentrales Studienthema – und wenn, dann eher im technischen oder funktio-nalen Sinne. Mein Interesse an Licht ist dagegen eher qualitativer Art. Ich möchte die Bedeutung des Lichts für die Qualität eines Raums und dessen sinnliche Wahrnehmung verstehen. In meiner Arbeit als Lehrassistent an der Cornell University mache ich Licht häufig zum zentralen Entwurf-selement. Auf diese Weise hoffe ich, die Studenten nachhaltig für die Be-deutung des Lichts für die Raumqua-lität zu sensibilisieren.

VERTEILEREBENE 21 JUNI – 5:30 PM

VERTEILEREBENE 21 SEP – 5:30 PM

VERTEILEREBENE 21 JUNI – 5:30 PM

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Der Siegerentwurf von Reilly O’Neal Hogan macht die Dyna-mik des Tageslichts auch für die Pendler im New Yorker Unter-grund spürbar: Täglich zu den Hauptverkehrszeiten wird Son-nenlicht durch einen Reflektor in die Tiefe gelenkt und dort auf die transluzenten Raumoberflächen projiziert.

SCHATTENANALYSE DER VERTEILEREBENE

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Ruan Hao and Xiong Xing: „Archi-tektur als Selbstzweck oder im Dienste eines besseren Lebens?“

D&A: In Ihrem Projekt für den Inter-national VELUX Award planen Sie ein temporäres ‚Daylight Festival‘, um dunkle Straßen in dicht bebau-ten Städten wie Manhattan durch riesige Spiegelflächen an Häuserfas-saden zu erhellen. Basiert diese Idee auf Ihrer persönlichen Erfahrung in dicht besiedelten Metropolen?

RH/XX: Unsere Erfahrung in diver-sen Weltmetropolen machte uns be-wusst, welch enormen Einfluss das Sonnenlicht auf das Stadtbild aus-übt. So haben wir schnell die nega-tiven Aspekte der Schattenbereiche erkannt, insbesondere in urbanen Zentren wie Manhattan. Eher zufäl-lig stießen wir auf einige Gegenden, wo eine Hausfassade durch Licht-reflexion solche Schattenzonen er-hellt, auch wenn die reflektierenden Materialien ursprünglich gar nicht zu diesem Zweck verwendet wor-den waren. Wir beschlossen also, diese unbe-achteten Bereiche zwischen den Ge-bäuden genauer zu erforschen, in der Hoffnung, die Reflexion des Tages-lichts zum Vorteil der ganzen Stadt nutzen zu können. Diese Studie wäre niemals möglich gewesen ohne die di-gitale Berechnung der potenziellen Sonnenstunden, die wir bislang bei jedem unserer Projekte angestellt haben. Diese Erkenntnisse führten zu einer Methode, mit der wir die Sonnensituation modellhaft dar-stellen und beurteilen konnten. An-schließend erweiterten wir unseren Fokus auf ganze Städte und deren Dichte.

D&A: Was veranlasste Sie, ein tem-poräres Tageslicht-Event und keine permanente Installation vorzuschla-gen?

RH/XX: Bei unseren Überlegungen, wie wir den Wert unseres Konzepts maximieren könnten, haben wir zwi-schen deren architektonischem und sozialem Wert abgewägt. Anstelle einer permanenten Installation (die unseres Erachtens ein zweiter Schritt sein müsste) fanden wir es wichtiger, die Lebensnotwendig-keit des Sonnenlichts zunächst in einem ersten Versuch darzustel-len. Dank ihrer klaren Formen verän-dert die temporäre Installation das Stadtbild und verdeutlicht den Ein-fluss des Sonnenlichts auf anschau-liche Weise. Eine permanente und eine tempo-räre Installation schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus. Eine per-manente Veränderung der beste-henden Tageslichtbedingungen ist jedoch nur auf Basis vorangegange-ner, temporärer Experimente mög-lich. Außerdem erschweren gewisse problematische Begleitumstände wie Wärmestrahlung und schwüles Klima die Planung einer permanenten Installation. Trotzdem halten wir uns diese Option offen – sofern unsere fi-nanziellen Mittel dies erlauben.

D&A: In Ihrem Projekt stellen Sie die ‚heilende‘ Wirkung des Lichts in den Vordergrund, sowohl im Sinne phy-sischer Gesundheit als auch psychi-schen Wohlbefindens. Wurde diese Eigenschaft des Lichts in Ihrem Stu-dium thematisiert, und sind sich junge Architekten dieser Wirkung hinreichend bewusst?

RH/XX: Neben speziellen Kursen zu künstlichem Licht ist das Son-nenlicht schon lange wichtiger Bestandteil unseres Architektur-studiums. Der ästhetische Wert des Lichts wird im Studium allerdings leicht überbewertet, sodass um-welttechnische Aspekte etwas zu kurz kommen. Überwiegend lehrte man uns, das Sonnenlicht zu nutzen,

Unten New York in ungewöhnli-chem Licht: Ruan Hao und Xiong Xing schlagen in ihrem Entwurf ein eintägiges Tageslichtfestival für die Metropole am Hudson River vor. Große Reflektoren an den Hochhausfassaden sollen Tageslicht in die sonst verschat-teten Straßenschluchten lenken.

Rechts Wassertanks als Licht-fänger – dieses Konzept hat Dean MacGregor in seiner Wett-bewerbsarbeit formuliert. Die Tanks stehen auf einem öffentli-chen Platz und lenken das Tages-licht in den Untergrund, wo sich ein Ausstellungs- oder Konzert-saal befindet.

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um dramatische Schatten zu erzeu-gen und architektonische Räume zu schaffen. Für uns ergab sich daher die Frage: Entwerfen wir Architek-tur als Selbstzweck oder im Dienste eines besseren Lebens?Die Entwürfe junger Architekten in China stehen meist im Zeichen der Urbanisierung. Angesichts massiver Bebauung und rapider Verstädte-rung hat die Lebensqualität in un-serem Land ihre Vorrangstellung eingebüßt. So ist es sehr erfreulich, dass immer mehr Studenten unser Bestreben teilen, das Sonnenlicht als unverzichtbares Geschenk der Natur zu nutzen.

D&A: Haben Sie aus Ihrem Projekt etwas darüber gelernt, wie dicht be-baute Städte geplant werden soll-ten, um deren natürliche Belichtung zu optimieren?

RH/XX: Das ebenso komplexe wie komplizierte Thema Licht in Städ-ten reicht weit über Fassadenins-tallationen hinaus. Es umfasst alle Bereiche, angefangen von ersten ru-dimentären Entwürfen bis hin zur Detailplanung. Sogar unser Leben in der Stadt wird hierdurch beein-flusst. Das Licht ist zwar nicht der einzige, aber ein sehr wichtiger Fak-tor bei der Planung einer Stadt. Eine Stadt, deren Straßen und Plätze ausreichend Tageslicht erhalten, mag im Hinblick auf die Verkehrs- und Infrastrukturplanung nicht die effizienteste sein. Unsere Installa-tion dient daher eher als Ausgleich denn als existenzielle Strategie ur-baner Planung. Eines haben wir tat-sächlich über das Licht in der Stadt gelernt: Architektonisches Entwer-fen beschränkt sich fast nie auf ein Gebäude als solches. Architekten sollten bei ihren Entwürfen immer auch die Lichtbedingungen in der Umgebung berücksichtigen.

Dean MacGregor: „Mein Projekt ist eine von außen gespeiste, le-bendige Skulptur”

D&A: In Ihrem Projekt schlagen Sie vor, unterirdische Räume mit Hilfe riesiger Wassertanks zu erhellen, die das Tageslicht von außen einfangen und in das ansonsten dunkle Innere leiten. Inwieweit haben Sie Beob-achtungen aus dem Alltag zu die-sem Projekt inspiriert?

DM: Tatsächlich gibt es einen spe-ziellen Auslöser für mein Projekt und die Art und Weise, wie es un-sere Sinne anspricht und die ‚andere Seite‘ der Architektur offenbart. Hierbei handelt es sich um ein Ge-bäude des ungarischen Architekten Carlos Mardel aus dem 18. Jahr-hundert im Zentrum Lissabons, das Wasser enthält und durch ein Aquädukt in die Stadt leitet. In die-sem Gebäude namens „Mãe d’Água das Amoreiras“ werden in einer Steinkonstruktion 5500m3 Was-ser gespeichert, das sich hierin als lebendiges Element erweist. Inner-halb dieser Begrenzung offenbart sich ein Licht- und Schattenspiel, das veranschaulicht, was Peter Zumthor als ‚Atmosphäre‘ bezeich-nete: Die Wichtigkeit des Lichts in der Architektur. D&A: Wie haben Sie den Weg des Ta-geslichts durch Glas und Wasser er-forscht und simuliert?

DM: Gar nicht, abgesehen vom End-konzept. Ich habe lediglich auf einige Alltagserfahrungen zurückgegriffen, zum Beispiel Glassteinmauern oder Eisstrukturen und die Art und Weise, wie sie das einfallende Licht brechen und weiterleiten. Von Beginn an war mir klar, dass computergestützte Renderings für dieses Projekt keine Option waren. Deshalb ersetzten Fotos sehr schnell den oberflächli-

chen Versuch, Licht per Computer darzustellen. Es galt, in einer Foto-grafie eine Verbindung zwischen der Realität (dem Modell) und ihrer po-tenziellen Bedeutung herzustellen. In diesem Falle war das Ergebnis kaum absehbar. Obwohl wir manchmal zu dem Glauben neigen, wir könnten das Ergebnis eines Entwurfsprozesses kontrollieren, erweist es sich häufig als herbe Enttäuschung – manchmal aber auch als positive Überraschung, die unsere Erwartungen übertrifft.

D&A: Welche Verwendungsmög-lichkeiten sehen Sie für Ihr Projekt? Welche Räume könnte man auf diese Weise beleuchten?

DM: Das Konzept schafft eine sehr intensive Atmosphäre, eine wohlbe-kannte Tiefe, welche die Architektur in ihrer reinsten Art von Gegenstand und Licht erreicht. Man muss das Potenzial eines Gebäudes für ver-schiedene Nutzungszwecke durch unterschiedliche Lichtbedingungen austesten. Anderenfalls degeneriert die Architektur zum bloßen Formalis-mus und Funktionalismus. Mein Projekt ist als eine von außen gespeiste lebendige Skulptur zu ver-stehen. Aus meiner Sicht sollten solche Räume regelmäßig für unter-schiedliche Zwecke genutzt werden. Eine Nutzung als Konzerthalle zum Beispiel wäre interessant, weil dort die Lichtsituation durch die Tonvi-brationen in den Tanks dramatisch wechseln würde. Der unterirdische Raum könnte auch Künstler zu diver-sen Installationen animieren, außer-dem böte er sich für ein Stadtbad an. Grundsätzlich sollte jeder neue Ver-wendungszweck dem Charakter des Projekts angepasst werden und des-sen Potenziale nutzen.

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Den allermeisten Dachaufstockungen gehen zwei Dinge voraus: zusätzlicher Raumbedarf und der Wunsch, hoch über den Dächern der Stadt, dem Himmel näher als den Mitmenschen, zu wohnen oder zu arbeiten. Dies war auch beim „Didden Village“ in Rotter-dam nicht anders, dem ersten Projekt übrigens, das das Architekturbüro MVRDV in seiner Heimatstadt reali-siert hat.

Die Beatrijsstraat ist eine eher ru-hige Wohnstraße unweit des Rotter-damer Hauptbahnhofs. Sie wird von zwei- bis dreigeschossigen Wohnhäu-sern mit Backsteinfassaden gesäumt, die aus den frühen 20er-Jahren stam-men. Das Bombardement im Mai 1940, das große Teile der Rotterda-mer Innenstadt zerstörte, hat die Gegend weitgehend unbeschadet überstanden.

Didden Village liegt kurz vor dem Ende der Straße und ist von dort aus kaum zu übersehen: Eine himmel-blaue Brüstung verlängert die Attika des darunterliegenden Wohnhauses, dahinter sind zwei Giebel im gleichen Farbton erkennbar. Bauherr ist der Theaterperückenmacher Sjoerd Did-den, der das dreigeschossige Back-steingebäude mit seiner vierköpfigen Familie bewohnt. Die beiden unteren Geschosse beherbergen das Atelier des Hausherren und seiner Mitarbei-ter, im zweiten Obergeschoss wohnte bislang die Familie in einem offenen, loftartigen Raum. Dieser war nun all-mählich zu klein geworden, weshalb Winy Maas von MVRDV, ein Bekann-ter der Diddens, diesen den langgeheg-ten Wunsch einer Dachaufstockung erfüllte. Anders als viele ähnliche Projekte bietet das „Didden Village“ seinen Besitzern nicht nur zusätzli-chen Raum zum Wohnen und Schla-fen, sondern funktioniert tatsächlich wie ein kleines „Dorf“ mit Gassen und Höfen, die mit Bänken, Tischen und einem Pool möbliert wurden. Schul-terhohe Brüstungen sorgen für die

notwendige Privatsphäre. Indem sie alle Oberflächen mit Ausnahme der Fenster und Dachfenster einheitlich mit einer hellblauen Polyurethanbe-schichtung versahen, schufen die Ar-chitekten einen Ort mit Fernwirkung, der in der Stadt bereits zu einem Sym-bol für die Perückenmacherei Didden geworden ist.

Den Architekten zufolge „kann die Dachaufstockung als Prototyp für eine zukünftige Verdichtung der Stadt gesehen werden. Es haucht der Stadt neues Leben auf den Dä-chern ein.“ Auf die Potenziale, die be-stehende Flachdächer in Rotterdam bieten, haben in der Vergangenheit bereits andere hingewiesen – nicht zuletzt Korteknie Stuhlmacher Ar-chitekten mit ihrem „Parasite Las Palmas“ auf einer alten Lagerhalle. Wie bald solche provokativ gemein-ten Pilotprojekte tatsächlich zu einer breiten Nutzung brachliegender „Flä-chenressourcen mit Aussicht“ führen werden, ist einstweilen noch unsicher. Für Sjoerd Didden und für Rotterdam hat sich der Eingriff in jedem Fall ge-lohnt: Der Perückenmacher musste keine zusätzlichen Grundstückskos-ten entrichten, und die Stadt hat sich eine weitere Versiegelung innenstäd-tischer Flächen erspart.

VELUX PANORAMA Architektur mit VELUXaus aller Welt.

MY PRIVATE SKYDIDDEN VILLAGE IN ROTTERDAM

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Rechts Ein größerer Farbkont-rast zwischen dem Dachaufbau und der Backsteinarchitektur ringsum wäre schlechterdings nicht denkbar. Selbst die Rahmen der Dachwohnfenster wurden himmelblau gestrichen.

Seite gegenüber Große Fenster lassen Tageslicht in die Wohnung und das Atelier des Perückenma-chers Didden. Mit ihnen korrespondieren die horizontalen Schlitze in der Umfassungsmauer des Didden Village, die den Dachaufbau weniger mden Bewohnern Blicke hinunter auf die Straße erlauben.

Seite 75 Bänke und Blumenkü-bel ergänzen die sonnendurch-flutete, von Blicken geschützte Dachlandschaft ganz in Blau. In den drei ‚Häuschen‘ wohnen die Söhne des Hausherren.

Unten Explosions-Axonometrie. Zwei neue, zylindrische Treppen verbinden den Dachaufbau mit der Wohnetage ein Geschoss tiefer.

FaktenBauherrArchitektStandortFertigstellung

Familie Didden, Rotterdam, NLMVRDV, Rotterdam, NLBeatrijsstraat 71, Rotterdam, NL2006

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ARCHITECTURE OF CHANGE

Herausgeber: Kristin und Lukas FeireissVerlag Die GestaltenISBN 978-3-89955-211-9

Mit ihrem Buch ‚Architecture of Change‘ versuchen Kristin und Lukas Feireiss eine Bestandsaufnahme des-sen, was sich heute unter ‚nachhal-tige Architektur‘ zusammenfassen lässt. Dies ist insofern interessant, als der Begriff Nachhaltigkeit ebenso facettenreich wie dehnbar ist. Und so finden sich in dem Buch, bunt ge-mischt, rund 40 bereits realisierte oder noch in Planung befindliche Projekte und soziale Initiativen. Die Auswahl reicht von Neubauten der einschlägig bekannten Architektur-prominenz über die ‚1% Solution‘, bei der sich Architekten selbst verpflich-ten, ein Prozent ihrer Arbeitszeit ge-meinnützigen Zwecken zu widmen, bis zu einer Seilbahn, die in Cara-cas künftig das Favela-Viertel San Agustín erschließen soll.

Den Anstoß zum Buch gab der letztjährige Zumtobel Group Award for Sustainability and Humanity in

the Built Environment, ein von einem Leuchtenhersteller finanzierter Preis, zu dem eben diese 40 Projekte einge-reicht wurden. Wie die Juroren so un-terschiedliche Projekte wie die oben erwähnte ‚1% Solution‘ und das San Francisco Federal Building von Mor-phosis (das den Preis schlussend-lich gewann) miteinander verglichen haben, bleibt am Ende wohl deren Ge-heimnis. Auch im Buch gelang den He-rausgebern keine wirklich schlüssige Gliederung der Inhalte. ‚Stararchitek-tur‘ und ebenso wohlbekannte wie wohlmeinende Öko-Projekte wech-seln sich mit bislang kaum publizier-ten Zukunftsvisionen ab, Projekte mit sozialem und eher ökologischem Schwerpunkt sind bunt gemischt. Dennoch wird der aufmerksame Leser immer wieder Details und Ideen entdecken, die wirkliches Zu-kunftspotenzial besitzen und festge-fahrene Denkschemata sprengen.

Von den Textbeiträgen im Buch lässt sich dies leider nicht wirklich behaupten. Zwar haben die Heraus-geber Texte von einigen der promi-nentesten Vordenker aus Ökonomie und Ökologie zusammengetragen: Klaus Töpfer, Saskia Sassen, Wil-liam McDonough und Ken Yeang, um nur einige zu nennen. Doch in ihren Beiträgen lies man viel Altbekann-tes: Die Zukunft der Nachhaltigkeit liegt in den Städten, nachhaltige Ar-chitektur muss vom Nischen- zum Massenphänomen werden, Ethik und Ästhetik konvergieren zuneh-mend. All dies ist ebenso richtig wie wenig konkret. Letztlich spiegelt ‚Ar-chitecture of Change‘ damit eine Ei-genschaft der Architektur wider, die zugleich ein Dilemma ist: Architektur beruht eben nicht nur auf messbaren Faktoren, sondern auch auf Emotio-nen, subjektiver Wahrnehmung und

auf einer Vielzahl ungeschriebener Regeln. Außerdem ist sie in zuneh-mendem Maße komplex. Wer also wollte beurteilen, ob die hier darge-stellten Projekte tatsächlich so nach-haltig sind, wie ihre Entwerfer dies behaupten? Misst da irgendjemand den tatsächlichen Energiebedarf oder befragt die Nutzer nach ihren Erfahrungen? Derlei empirische Er-kenntnisse wird man in ‚Architecture of Change‘ wie in den meisten ähn-lichen Publikationen vergeblich su-chen. Wer darauf keinen Anspruch erhebt, erwirbt mit dem Buch im-merhin einen repräsentativen Über-blick über all jene Felder, auf denen Architekten heute an einer besseren Zukunft arbeiten.

BLÜHENDE LANDSCHAFTEN

Autoren: Christian Wolter, Ulrich SchneiderKehrer VerlagISBN 978-3-939583-90-5

Ein ungewöhnliches Foto-Projekt stellt der 1968 geborene, 2007 mit dem Europäischen Architekturfoto-grafie-Preis ausgezeichnete Chris-tian Wolter in diesem Buch vor. Seinen Titel verdankt der Band einem (in Deutschland) legendär gewordenen Zitat von Helmut Kohl, der am 1. Juli 1990 versprach, den Osten Deutsch-lands in „blühende Landschaften“ verwandeln zu wollen. Statt eines Jobwunders setzte bekanntlich bald die Massenarbeitslosigkeit ein; die kurzfristige Goldgräberstimmung wich ökonomischem Stillstand. Christian Wolters Anliegen war indes-sen nicht eine Dokumentation des Ab-baus in Ostdeutschland. Die Orte, die

er aufsuchte, könnten ebenso in jedem anderen europäischen Land liegen. Di-stanziert und bisweilen seltsam un-beteiligt erzählen seine Bilder davon, was geschieht, wenn Großprojekte buchstäblich „im Sande verlaufen“: Abraumhalden erheben sich vor unbe-rührter Naturkulisse, Baumstümpfe erinnern an einen nie realisierten Re-gionalflughafen und die vor sich hin rostenden Überreste der Pavillons an die Weltausstellung 2000 in Han-nover. Wolter hat sie frontal aufge-nommen, menschenleer, meist im Querformat und oft bei trübem Him-mel. Nicht immer ist das hier porträ-tierte Scheitern total und endgültig; oft zeigt Wolter lediglich Zwischen-stände einer lang andauernden Ver-änderung. Gelegentlich dokumentiert er auch die merkwürdigen Volten, die Investorenprojekte schlagen können: Eine 275 Millionen teure Chipfabrik in Frankfurt/Oder stand jahrelang leer, bis sich stattdessen ein Solarzel-lenhersteller hier niederließ. Und im größten stützenfreien Hallenbau der Welt werden heute bekanntlich keine Zeppeline gewartet, sondern Tages- und Wochenendtouristen mit den Annehmlichkeiten eines tropischen Spaßbades verwöhnt. Auch die öffentliche Hand kommt in dem Buch nicht ungeschoren davon: Wolter zeigt eine Schnellbahnstrecke, die bei gleichbleibender Baugeschwin-digkeit wohl erst in der zweiten Jahr-hunderthälfte fertig gestellt wird, und einen aufgelassenen Braunkohletage-bau, der erst aufgeforstet und jetzt-unter Wasser gesetzt wurde. Doch trotz ihrer Thematik des Scheiterns verbreiten Wolters ‚Blühende Land-schaften‘ nicht nur Tristesse: Im Rück-blick wirkt die Großmannssucht, die sich in zahlreichen Projekten manifes-tiert, fast amüsant. Dies gilt natürlich

BÜCHERREZENSIONENZum Weiterlesen: Aktuelle Bücher, vorgestellt von D&A.

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nur, solange der Gedanke an ihre öko-nomischen und ökologischen Folge-kosten außen vor bleibt. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis aus Wolters Buch lautet, dass sich das Projekt in 50 Jahren wohl prob-lemlos nochmals fotografieren ließe – an anderen Orten, aber mit ähnlichen Ergebnissen. Denn ‚blühende Land-schaften‘ sind letztendlich nichts anderes als die manchmal unvermeid-lichen und gelegentlich mutwillig her-beigeführten Reibungsverluste, die unser aller Streben nach Wachstum und Fortschritt mit sich bringt.

ROOFTOP ARCHITECTUREAutoren: Ed Melet, Eric VreedenburghNAi PublishersISBN 90-5662-362-1

Der Mensch, zumal der Europäer, ist ein expansives Wesen. Weil dem so ist, hat er in den vergangenen Jahr-zehnten immer neue Möglichkeiten ausgelotet, in seinen Städten neuen Raum zum Wohnen und Arbeiten zu schaffen: Stadtrandsiedlungen, Satel-litenstädte und Umnutzungen inner-städtischer Industriebrachen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass nun zwei Architekten aus den Niederlanden – Europas dichtest besiedeltem und in Sachen Architektur zweifellos prag-matischstem Flächenstaat – ein Buch über das Bauen auf bestehenden Dä-chern verfasst haben. Besonders sys-tematisch gingen Ed Melet und Eric Vreedenburgh dabei nicht vor. Sie entwickeln ihr Buch um einen viertei-ligen Essay, den sie mit oft nicht wei-ter kommentierten Bildern und kurzen ‚Satellitentexten’ in der Art enzyklo-pädischer Stichworte garnieren.

Der einleitende Essay hingegen besitzt sowohl Struktur und Inhalt als auch eine klare Botschaft: ‚Bauen auf dem Dach’ wird in diesem Buch als große Chance begriffen. Bewer-tet wird es stets im Hinblick auf die Ziele, die die Autoren für die euro-päische Stadt als wünschenswert definieren: soziale und funktionale Durchmischung, umweltverträgli-che Kompaktheit und die Möglich-keit ‚spontaner’ Interaktion – was immer der Leser sich hierunter vor-zustellen hat. So bewegt sich der Text stellenweise hart an der Grenze zum Dogmatismus, wenn er bloße Dach-aufstockungen (Stichwort: ‚Mehr vom Gleichen’) als minderwertig ge-genüber echten Neubauten auf dem Dach bewertet. Letztere könnten – so die Autoren – der bestehenden Stadt zumindest die eine oder andere neue Funktion hinzufügen. Inwieweit sie dies in der Realität auch tun, wird in-dessen kaum hinterfragt.

Dennoch ist ‚Rooftop Architec-ture’ ein ernst zu nehmender Versuch, die Potenziale darzustellen, die die Dächer unserer Städte für Neubauten bieten. Ganz neu ist die Idee freilich nicht: Bei ihrer Recherche nach Ideen für ‚Stadtaufstockungen’ stießen die Autoren auf El Lissitzkys ‚Wolkenbü-gel‘, das Hundertwasserhaus in Wien (warum eigentlich?), Penthouses in Manhattan und viele weitere weniger bekannte, teils sogar dem Basteltrieb anonymer Bauherren entsprungene Beispiele. Auch die rechtlichen und konstruktiven Aspekte von Dachauf-stockungen und -aufbauten bleiben nicht ausgespart. Das macht aus dem Buch zwar noch keinen Praxisleitfa-den, doch diesen wollten die beiden Autoren auch gar nicht verfassen. Ihr Ziel lautete, Aufmerksamkeit für eine Art der Architektur zu wecken,

die mancherorts – etwa in Rotterdam oder in Wien – bereits intensiv prakti-ziert wird, aber von einem wirklichen Durchbruch noch weit entfernt ist.

OLAF OTTO BECKER: BROKEN LINEHatje Cantz VerlagISBN 978-3-7757-1972-8

Drei Sommer lang – 2003, 2004 und 2006 – bereiste der deutsche Fotograf Olaf Otto Becker die grön-ländische Westküste. Mit dem Schlauchboot, 4000 Kilometer weit und meist im Schritttempo, weil, wie wir in seinem Buch lernen, nur so eine gefahrlose Verdrängung des Treibei-ses möglich war. Das Buch „Broken Line“ zeigt die Ergebnisse dieser fo-tografischen Reise. Der Titel spielt auf die grönländische Küste an, von der auch ein Ausschnitt auf dem eisblauen Leineneinband des Buchs aufgeprägt ist: Sie ist einerseits Abbruchkante für Eisberge vor ihrer Reise nach Süden, andererseits ist sie – nicht zuletzt dank der Kräfte des Eises – von zahl-losen Tälern und Fjorden durchfurcht. Die Brüche in dieser Linie hat Becker mit der Kamera festgehalten: Ge-röllfelder, rund geschliffene Schären und Klippen in Granitgrau und Rost-rot, und: immer wieder Eisberge. Bis zu 60 Kilometer lang sind sie, viele zart hellblau schimmernd, andere grau verschmutzt vom Kontakt mit dem Steinuntergrund oder weiß und spitz zerklüftet. Becker arbeitet mit einer Großbildkamera – eine lang-same, fast meditative Arbeitsweise, die himmelweit entfernt ist von der di-gitalen Knipserei unserer Tage, aber Bilder von eindrucksvoller Schärfe hervorbringt.

Beckers Bilder wirken zeitlos, ob-wohl sie natürlich genau dies nicht sind: Die grönländische Eiswüste ge-hört, wie uns die Meldungen der Kli-maschützer immer wieder vor Augen halten, zu den sich am schnellsten wandelnden Landschaften der Erde. Dennoch hält sich Becker wohlweis-lich von Klischees à la „Hier die Natur, dort der böse Mensch“ fern. Statis-tisch betrachtet, spiegeln seine Bil-der in diesem Buch die Verteilung der Landschaftsräume in Grönland wider: viel Eis und Fels und nur we-nige menschliche Spuren. Nur hier und da geben verwitterte Holzhütten – und noch mehr die ringsherum ver-teilten Habseligkeiten der Bewohner – Einblicke in die Lebensweise der Be-wohner: Hier hat jemand ein Schlag-zeug samt Verstärker und Boxen auf seine brüchige Holzterrasse ge-stellt, dort ist ein getöteter Schlit-tenhund am Balkon aufgehängt und wartet darauf, gehäutet zu werden. Motorschlitten, aber auch Dreiräder und Mountainbikes lassen erahnen, dass ein Grönländer in seinem Leben weite Wege zurückzulegen gewohnt ist. Einen einzigen Innenraum eines grönländischen Hauses zeigt Becker in seinem Buch. Mit Stereoanlage und Computer, aber auch mit allerlei Nippes vom Porzellan-Eisbären bis zum tropischen Blumenbouquet aus Plastik wirkt dieser inmitten der Eis-wüste merkwürdig bürgerlich – und zeigt zugleich, wie sehr sich unsere Innenräume im Gegensatz zu den Naturräumen weltweit gleichen. An der Wand über der Anrichte hängt ein in seiner Kitschigkeit fast grel-les Gemälde eines Sees mit Fichten-wald und spitzen Gebirgsgipfeln. Wie Olaf Otto Becker auf seiner Reise er-fuhr, zeigt es den Königssee in Ober-bayern.

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DAYLIGHT & ARCHITECTUREARCHITEKTURMAGAZINVON VELUXWINTER 2008 AUSGABE 10

HerausgeberMichael K. Rasmussen

VELUX-RedaktionsteamPer Arnold Andersen Christine BjørnagerLone FeiferLotte KragelundTorben Thyregod

Redakteur Gesellschaft für Knowhow-TransferJakob Schoof

ÜbersetzungenMichael Robinson Sprachendienst Dr. Herrlinger

BildredaktionTorben EskerodAdam Mørk

Art Direction & LayoutStockholm Design Lab ®Per Carlsson Nina GranathBjörn Kusoffskywww.stockholmdesignlab.se

Fotos Cover und UmschlaginnenseiteHenrik Kam

Websitewww.velux.de/Architektur [email protected]

Auflage52,000 Stück

ISSN 1901-0982

Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe.

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© 2008 VELUX Group. ® VELUX und das VELUX Logo sind eingetragene Warenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe.