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Klaus Schenk / Anne Hultsch /Alice Staskov� (Hg.)

Experimentelle Poesie in Mitteleuropa

Texte – Kontexte – Material – Raum

Mit zahlreichen Abbildungen

V& R unipress

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Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages.Printed in Germany.Titelbild: GrafikjDesign Hagen Hultsch, DresdenDruck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Abb. 1: Klaus Peter Dencker : KULTUR (2013). Zuerst gedruckt in: Calleja & Dencker, ABC-darum Redfoxpress, Dugort, Achill Island, County Mayo/Ireland 2013, o. P.; 2 weitere Fassungenin: Klaus Peter Dencker, Visuelle Poesie II. Arbeiten bis 2015. Weitra 2015, S. 58f.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Visualität der Texte

Klaus Peter Dencker (Ahrensburg)Optische Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Ulrich Ernst (Wuppertal)Experimentelle Makroästhetik. Buchkünstlerische Zyklen mit Carminafigurata von Simias von Rhodos bis Guillaume Apollinaire . . . . . . . . 39

Jeanette Fabian (München)»Gedichte der Stille«. Experimentelle Bildpoesie in der tschechischenModerne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

II. Auditive und memoriale Dimensionen

Frieder von Ammon (Leipzig)Musik für das 20. Jahrhundert. Ernst Jandls 13 radiophone Texte . . . . . 119

Pavel Novotny (Liberec)»Semester des experimentellen Schaffens«. Zur tschechischen auditivenPoesie der 1960er-Jahre im internationalen Kontext . . . . . . . . . . . . 137

Johanna Bohley (Jena)»Kunst über Erinnerung« – Erinnerungen der Neoavantgarde . . . . . . 155

III. Begriffe und Kontexte

Oliver Ruf (Furtwangen)Die Visualität der Klänge und das Leben der Kunst. Grenzgängeexperimenteller Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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Eva Kr�tk� (Prag)Theoretische Voraussetzungen der tschechischen visuellen Poesie der1960er-Jahre. Einige Bespiele mit Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . 191

Alice Staskov� (Berlin)Korrespondenzen der experimentellen Poesie: Prag – Stuttgart – Wien . . 203

IV. Material, Medien, Maschinen

Gudrun Lehmann (Düsseldorf)Poetische Sprachkonzepte aus der Kunstszene Bosnien-Herzegovinas,Kroatiens und Serbiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Annette Gilbert (Berlin)Texte für Læser. Neue Formen der ›Unlesbarkeit‹ in der experimentellenLiteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Bernhard J. Dotzler (Regensburg)Automaten-Studien, kalauernd, oder : Der neue Minnedienst. Aber jadoch, schon wieder…: Oswald Wieners die verbesserung vonmitteleuropa, roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

V. Raumtexte und Texträume

Anne Hultsch (Dresden)Experimente im Ausnahmezustand. Poezja konkretna / Konkrete Poesiein Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Grazziella Predoiu (Temeswar)»Meine Bockigkeit mich skrupulös als Sprache zu verhalten steckt undwuchert in den Texten.« Zu den Texten Oskar Pastiors . . . . . . . . . . 307

Klaus Schenk (Dortmund)Experimentelle Poesie und interkulturelle Schreibweisen am Beispiel vonHerta Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Inhalt8

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Vorwort

Experimentelle Schreibweisen in poetischen Texten gehören nicht nur zu denzentralen Verfahren moderner Literatur, sondern bilden ebenso Schnittflächenin der Literatur Mitteleuropas, die kaum mit nationalen oder geographischenVerortungen zu fassen sind. Vor allem vor dem Hintergrund einer Öffnung dereuropäischen Perspektiven kann die Vielfalt experimenteller Poesie in ihrenKontexten und mit ihren politischen Implikationen neu überdacht werden. InsBlickfeld geraten dabei Spielarten der experimentellen Lyrik wie z. B. die Kon-krete Poesie, aber auch die Nachwirkung anderer avantgardistischer Strömun-gen bis hin zu surrealistischen Schreibweisen. Im Hinblick auf die Zusam-menhänge zwischen den Texten und ihren Kontexten, ebenso aber auchhinsichtlich ihrer Materialität und Räumlichkeit werden im vorliegenden BandZugänge zu den komplexen kulturellen Verflechtungen experimentellerSchreibweisen in Mitteleuropa geschaffen.

Die experimentelle Poesie stellt eine Erscheinung dar, die sich intensiv mit derProblematik der literarischen Produktion und Rezeption auseinandersetzt,dabei aber die überkommenen Konzepte radikal in Frage stellt. In einem an-deren Licht erscheinen somit die Zusammenhänge von Subjekt und Material,von Kunst und Gesellschaft. Zugleich gilt es auch, die Kontexte der experi-mentellen Literatur selbst zu sichten, die ihrerseits mit ihren kulturellen Im-plikationen spielt. In einem weiteren Schritt sollen daher historische und kul-turelle Perspektiven hinsichtlich des mittel- und osteuropäischen Kulturraumsentwickelt werden. Nachgegangen wird der Frage, inwieweit es kulturelle Spe-zifika experimenteller Poesie gibt. Dabei soll auch bedacht werden, welche Rollepolitische Hintergründe und Situationen bei der Konzeptualisierung der expe-rimentellen Literatur spielen und welche Intentionen dabei unterschiedenwerden können. Einerseits soll daher nach regional ausgerichteten, historischenund systematischen Konzeptualisierungen gefragt werden, um neben derdeutschsprachigen Literatur besonders auch Ausprägungen der experimentellenPoesie in verschiedenen Ländern und Kulturen Mitteleuropas zu fokussieren, diebislang innerhalb der deutschsprachigen Forschung nur wenig Beachtung ge-

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funden haben. Andererseits soll der breite Fokus auf die mitteleuropäische ex-perimentelle Literatur es ermöglichen, unterschiedliche Phänomene dieserStrömung zu differenzieren.

Im ersten Kapitel zur Visualität der Texte werden die Schreibweisen experi-menteller Poesie im Spannungsfeld zwischen ihrer Textualität und Visualität insBlickfeld gerückt. Behandelt werden Konzepte der optischen bzw. visuellenPoesie im Zusammenhang mit der Frage nach der poetischen Produktivitätsowie den Synästhesien zwischen Lesen, Sehen und Hören. Klaus Peter Denckerplädiert in seinem Beitrag »Optische Poesie« dafür, diese Bezeichnung als einenübergeordneten Begriff aufzufassen, um Konkrete Poesie, die ein starkes Ma-terialbewusstsein prägt, von Visueller Poesie, die ein starkes Kontextbewusst-sein kennzeichnet und von visualisierter poetischer Produktion schlechthin zuunterscheiden. ›Optische Poesie‹ hat ihren Ursprung selbstverständlich nichterst im 20. Jahrhundert, wie Dencker bereits in seinem 2010 erschienenen Band»Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalenExperimenten der Gegenwart« zeigen konnte. Einen historischen und syste-matischen Überblick bietet der Beitrag »Experimentelle Makroästhetik: Buch-zyklen mit Carmina figurata von Simias von Rhodos bis Guillaume Apollinaire«von Ulrich Ernst. Entworfen wird eine Typologie mit Blick auf das Verhältnis vonBuch, Bild und Text am Leitfaden von vier Kategorien in historischer Hinsicht:Malerbuch, Künstlerbuch, Objektbuch sowie schließlich buchähnliche Skulptur.Die Analysen von Ernst bestätigen, welch starkes historisches Legitimations-bedürfnis paradoxerweise die experimentelle Poesie im 20. Jahrhundert ver-spürt. Jeanette Fabian rückt in ihrem Beitrag »›Gedichte der Stille‹. Experi-mentelle Bildpoesie in der Tschechischen Moderne« die intermedialeBedingtheit des Schaffens insbesondere von Jir� Kol�r in den Vordergrund. Ineiner historischen Sichtweise skizziert sie die Auseinandersetzung zwischenKarel Teige und Roman Jakobson über die optische versus phonische Ausrich-tung der poetistischen Dichtung der 1920er Jahre, um über filmisch inspirierteBildgedichte (von Karel Teige) einen Bogen zum intermedialen Schaffen Jir�Kol�rs zu schlagen, das die von den Poetisten angestrebte ›Poesie für alle Sinne‹konsequent realisiert.

Erweitert wird die visuelle Perspektive im zweiten Kapitel unter dem Ge-sichtspunkt Auditive und memoriale Dimensionen mit Beiträgen zu Genres vonder auditiven Poesie bis hin zum Neuen Hörspiel, die ihrerseits in der Lage sind,eine akustische Texträumlichkeit hervorzubringen. Mit einer internationalenPerspektive eröffnet Frieder von Ammon seinen Beitrag mit dem Titel »Musikfür das 20. Jahrhundert. Ernst Jandls 13 radiophone Texte«. In Österreich nochkaum gewürdigt, erlebte Jandl in London am 11. 7. 1965 einen bahnbrechendenErfolg in der Albert Hall. Jandls Texte, die der Untersuchung zugrunde liegen,wurden 1966 im Studio der BBC in London aufgenommen und traten dadurch in

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Interaktion mit der zeitgenössischen Pop- und der Neuen Musik. Zentral erweistsich bei den Analysen die lautliche Dimension der Texte; als für die Interpre-tation ausschlaggebend zeigt sich die technische Arbeit an den Aufnahmensowie die Neue Musik der Zeit (Berio, Stockhausen). Historische Zusammen-hänge zeigt der Beitrag »›Semester des experimentellen Schaffens‹. Zur tsche-chischen auditiven Poesie der 1960er-Jahre im internationalen Kontext« vonPavel Novotny auf. Als Beispiel dient ihm u. a. ein auf einer tschechischen po-litischen Rede basierendes Hörspiel Gerhard Rühms, das in der Außenstelle desTschechoslowakischen Rundfunks in Liberec aufgenommen worden ist undneben weiteren Aufnahmen aus politischen Gründen lange Jahre unentdecktblieb. Johanna Bohley zeigt in ihrem Beitrag »›Kunst über Erinnerung‹ – Erin-nerungen der Neoavantgarde« am Beispiel von Texten Helmut Heißenbüttelsund Vertretern des Neuen Hörspiels wie Ludwig Harig und Franz Mon einememoriale Dimension in experimenteller Literatur auf, in der gegenläufig zukulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien eine brüchige Erinnerung an denHolocaust auch formal umgesetzt wird.

Beiträge zu theoretischen Aspekten, aber auch zu internationalen Verflech-tungen der experimentellen Poesie werden im dritten Kapitel unter den Ge-sichtspunkten Begriffe und Kontexte zusammengefasst. Oliver Ruf zeigt in sei-nem Beitrag »Die Visualität der Klänge und das Leben der Kunst. Grenzgängeexperimenteller Ästhetik« Zusammenhänge zwischen der visuellen und derakustischen Dimension experimenteller Texte auf, um vor diesem HintergrundAspekte des ›Experimentellen‹ zu diskutieren, in denen sich Avantgardismenmit Spirituellem verbinden. Anvisiert wird eine experimentelle Ästhetik, dieausgehend von Wassily Kandinsky und Hugo Ball ihre Begrifflichkeit neu ak-zentuiert. Die »Theoretischen Voraussetzungen der tschechischen visuellenPoesie der 1960er Jahre« stellt Eva Kr�tk� systematisch unter Verwendung bis-lang unveröffentlichter bzw. von ihr selbst erschlossener Materialien dar, umBegriffsbestimmungen vorzunehmen und eine Typologie der Visuellen Poesiezu entwerfen. Alice Staskov� untersucht in ihrem Beitrag »Korrespondenzen derexperimentellen Poesie: Prag – Stuttgart – Wien« anhand von unveröffentlich-ten internationalen Briefwechseln aus Prager Archiven, wie sich die Begriff-lichkeit der Prager experimentellen Dichter konstituierte. Die rationalistischeProgrammatik der tschechischen und mährischen Künstlerinnen und Künstlerresultierte gerade erst aus dem Dialog mit den für sie zum Teil überraschendenVorerwartungen der überwiegend westlichen Partner.

Die Aspekte Material, Medien, Maschinen werden im vierten Kapitel untersehr unterschiedlichen Voraussetzungen thematisiert. Von der Materialität undMedialität experimenteller Verfahren, die Kriegstraumata verarbeiten, bis hinzur imaginären Maschinerie von Automaten in Texten von Oswald Wiener. DerBeitrag »Poetische Sprachkonzepte aus der Kunstszene Bosnien-Herzegovinas,

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Kroatiens und Serbiens« von Gudrun Lehmann lenkt das Augenmerk zum einenauf die explizit politische Bedingtheit experimenteller Poetiken und ihrer al-ternativen Präsentationsformen im südosteuropäischen Nachkriegs- und Kri-senraum, zum anderen wird am Beispiel des Werkes von Maja Bajevic gezeigt,wie dem alltäglichen Umgang mit Materialien (z. B. Sticken, Waschen) poeti-sches Potential innewohnen kann. In ihrem Beitrag »Texte für Læser. NeueFormen der ›Unlesbarkeit‹ in der experimentellen Literatur« stellt Annette Gil-bert die in maschinenlesbarem Bar- oder QR-Code verfassten Arbeiten desösterreichischen Künstlers Josef Linschingers an der Grenze zwischen konkreterPoesie und konkreter Kunst vor. Untersucht wird die Herausforderung, die diedoppelte Adressierung dieser Arbeiten an den Menschen und an optische Le-segeräte für die ›Lektüre‹ bereithält. In seinem Beitrag »Automaten-Studien,kalauernd, oder : Der neue Minnedienst. Aber ja doch, schon wieder …: OswaldWieners die verbesserung von mitteleuropa, roman« gibt Bernhard J. DotzlerEinblicke in die elementaren Operationen der Sprache, wie sie die Vorausset-zung für eine kybernetische Automatik bilden. Oswald Wieners Automaten-Poesie kann verstanden werden als Experiment, das die Zusammenhänge zwi-schen Kybernetik und Sprache in unterschiedlichen Genres thematisiert.

Der letzte Schwerpunkt des Bandes widmet sich im fünften Kapitel unter demTitel Raumtexte und Texträume den Zusammenhängen zwischen der Materia-lität der Texte und ihren Raumkonzeptionen. Dabei stehen spatiale Aspekte imMittelpunkt, die zugleich die räumliche Komponente des Textes betonen, sei esdurch konkretistische Rauminstallationen oder aber auch durch Verfahren derAnagrammatik und der Collage, die ihrerseits räumliche Lesbarkeiten entwi-ckeln. Anne Hultsch sichtet in ihrem Beitrag »Experimente im Ausnahmezu-stand. Poezja konkretna / Konkrete Poesie in Polen« das Schaffen und die Ent-wicklung des namhaften polnischen Künstlers Stanisław Drûzdz, der mit seinen›Begriffsgestalten‹ auch international gesehen wohl am konsequentesten dieMöglichkeiten der Konkreten Poesie auslotet und diese durch ihre Reduktion,ihre Überführung in die Dreidimensionalität, ihre Serialisierung und Aktivie-rung ihres musikalischen Potentials weiterentwickelt, wie es die experimentelleOper »Od Do« von Tadeusz Sudnik nach Drûzdzs gleichnamigem Werk zeigt.Mit dem Zitat von Oskar Pastior, »›Meine Bockigkeit, mich skrupulös alsSprache zu verhalten, steckt und wuchert in den Texten‹«, leitet GrazziellaPredoiu ihren Beitrag »Zu den Texten Oskar Pastiors« ein. Den Fokus legtPredoiu auf das Changieren der experimentellen Poetik Pastiors zwischen ge-sellschaftlich-politischer und persönlicher Stellungnahme sowie zwischen ver-schiedenen Sprachen. Andererseits kündigt sich bereits im Werk von Pastiordurch anagrammatische Verfahren eine Texträumlichkeit an, wie sie konstitutivfür experimentelle Verfahren ist. In seinem Beitrag »Experimentelle Poesie undinterkulturelle Schreibweisen am Beispiel von Herta Müller« zeigt Klaus Schenk,

Vorwort12

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wie experimentelle Verfahren im Umgang mit ihrem Material eine Texträum-lichkeit entwickeln, die multiple Lesbarkeiten entfacht. Die kombinatorischePoetik Herta Müllers wird dabei begleitet von einer mit surrealen Schnittenarbeitenden Collagetechnik, wodurch sich serielle Reihen eröffnen, die dieMöglichkeit der Zuschreibung von Bedeutung in sich überlagernden Bewe-gungen vervielfältigen.

Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus dem von Prof. Dr. Klaus Schenk(Technische Universität Dortmund) in Zusammenarbeit mit PD Dr. AnneHultsch (Technische Universität Dresden) und Dr. Alice Staskov� (Freie Uni-versität Berlin) organisierten Kolloquium »Experimentelle Poesie in Mitteleu-ropa«, das vom 10. bis 12. Oktober 2013 in Hünfeld in der Rhön stattfand.Mareike Garrecht und Natalie Salmen sei für die Mitarbeit an der Redaktion desBandes gedankt. Ein Register zu den in den Beiträgen genannten Autorinnenund Autoren sowie zu anderen Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Ge-schichte beschließt den Band.

Vorwort 13

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I. Visualität der Texte

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Klaus Peter Dencker (Ahrensburg)

Optische Poesie1

Eine Bitte um Nachsicht – ich bin ein Verfasser Visueller Poesie und kein Wis-senschaftler. Die Beschäftigung mit der Geschichte und den Formen der Opti-schen Poesie sollte mich vor dem Fehler bewahren, längst Ausprobiertes neu zuproduzieren, vor allem aber einigermaßen Klarheit über die eigene Arbeit undihre mögliche Weiterentwicklung zu gewinnen.

Als ich Ende der 1960er-Jahre das regelrechte Schreiben von Poesie aufgab,um experimentellere Formen zu versuchen, gab es bereits die Konkrete Poesie,die ich zwar kannte, die mir aber in ihrer Konsequenz hinsichtlich der Be-handlung des Sprachmaterials zu hermetisch und unsinnlich war. Da es damalsim deutschsprachigen Bereich den synonymen Gebrauch der Begriffe KonkretePoesie und Visuelle Poesie für identische Formen gab, versuchte ich eine Ab-grenzung der Visuellen Poesie von Konkreter Poesie (und damit auch meineArbeit) zu definieren und entwarf Visualisierungsformen, die eigenen Gesetzenfolgten – z. B. in der Symbiose (nicht gegenseitige Spiegelung oder Illustration)von Formen der bildenden Kunst und der Literatur in einem Gebilde (Karel Teigefolgend), in der Einbeziehung der Medien z. B. Fotografie und Film, und in derForderung (im Sinne Umberto Ecos Offener Form) nach einem sogenanntenKoautor –, die über die Konkrete Poesie hinausgingen. Nach mehreren kleinenPublikationen dazu erschien 1972 in der DuMont-Dokumentenreihe die An-thologie Text-Bilder. Visuelle Poesie international. Von der Antike bis zur Ge-genwart, die eine Abgrenzung begründete, verbunden mit aufgefundenen his-torischen Linien und Vorformen der Visuellen Poesie.

Erst 2010 konnte eine schon immer geplante umfassendere, längst überfälligeDarstellung der internationalen Geschichte von den Anfängen der Schriftent-

1 Zuerst vorgetragen am 16. 6. 2011 in der Weserburg/Bremen zur Buchvorstellung: Dencker,Klaus Peter : Optische Poesie. Berlin, New York 2011. Erweitert für den Vortrag am 26. 10. 2012im MACBA, Museu d’Art Contemporani de Barcelona, zur Tagung Jornades Internacionals dePoesia Experimental: poÀtiques, cr�tica i recepciû. Für den Vortrag in Hünfeld anlässlich desKolloquiums ›Experimentelle Poesie in Mitteleuropa‹ am 11. 10. 2013 überarbeitet und hierfür den Druck mit Anmerkungen versehen.

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wicklung bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart vorgelegt werden.Diese Publikation, Optische Poesie, sollte das 1972 Vorgestellte erweitern undzugleich einer Beschreibung und Begriffsbestimmung von Visueller Poesie –sowie übergreifend Optischer Poesie – näherkommen, die damals höchstens imAnsatz möglich waren. Mir war bewusst, dass bei der sehr heterogenen künst-lerischen Ausdrucksform, deren historische weltweite Entwicklung aus zahl-reichen divergierenden Quellen sich als extrem vielfältig darstellt, eine er-schöpfende und abschließende Darstellung kaum möglich sein wird, zumal eineins fachliche Detail gehende Untersuchung in allen fremdsprachlichen Litera-turen den jeweiligen Spezialisten vorbehalten sein muss. Die inzwischen ge-sammelten praktischen und theoretischen Erfahrungen und die Einsicht in eineFülle von Publikationen in den letzten 40 Jahren waren aber geeignet, einehistorisch und typologisch geordnete Materialübersicht anzubieten sowie vor-sichtig Linien und Zusammenhänge zu skizzieren, die zur weiteren Beschäfti-gung und Präzisierung anregen könnten. Ich versuchte den Blick zu öffnen fürdie durch die Geschichte der Medien und Medienkommunikation verursachtenParadigmenwechsel, für das gewandelte Selbstverständnis von Künstler undKunstwerk, von Poet und Poesie, für die Verlagerung vom Bild in der Poesie überdas Bild der Poesie zur Poesie über die Poesie, also vom poetischen Bild über dieVisualisierung der Poesie bis zur Metapoesie,2 für die zunehmende Linguali-sierung des Bildes und Ikonisierung des Textes.3

Abb. 1: Cor Blok (1970), in: Cor Blok:? Wat is er mis met de concrete poÚzie?, in: De GroeneAmsterdammer. Amsterdam 19. 12. 1970, S. 9. Bericht über eine der ersten umfangreichenAusstellungen »klankteksten? konkrete poÚzie? visuele teksten?« im Stedelijk Museum Ams-terdam 1970, wo schon im Titel der Ausstellung die Trennung von Konkreter und VisuellerPoesie erfolgte.

2 Schmidt, Siegfried J.: Glanz und Elend der Konkreten Kunst, in: Philosophie Konzept Re-

Klaus Peter Dencker18

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Dabei erfolgte die Annäherung an die im Mittelpunkt stehende Konkrete undVisuelle Poesie – als zwei Ausdrucksformen der Optischen Poesie (OP) nach1945 – über die mannigfachen Visualisierungsformen der Akustischen Poesie(AP), Musikalischen Grafik (MuG) und Kinetischen Poesie (KiP), nicht nur umzu zeigen, dass einerseits alle Zwischenbereiche der traditionellen Kunstspartenähnlichen historischen Bedingungen folgend verwandte Strukturen entfalten,sondern um auch andererseits deutlich zu machen, dass selbst bei starken for-malen Ähnlichkeiten der Blick für ganz eigenständige Ausdrucksformen nichtverstellt werden darf, die gerade nicht unter einem und demselben Begriff zusubsumieren sind (vgl. Abb. 2).

Der erste – mir bekannte – Versuch, eine Art Systematik zur Visualisierung vonSchriftsprache, Wörtern und Text zu entwerfen, stammt von dem Kunsthisto-riker und ehemaligen Verlagsbuchhändler des Verlagshauses Breitkopf & Härtelund Vorsteher des Deutschen Buchgewerbevereins in Leipzig Ludwig Volkmann(1870–1947). Obwohl Volkmann den ästhetischen Vorstellungen der Jahrhun-

zeption. Dokumentation des 11. Erfurter Kolloquiums, hg. v. Forum Konkrete Kunst e. V.Erfurt 2004, S. 26–30, hier S. 29.

3 Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Lite-ratur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1987, S. 10 u. 15.

Abb. 2: Klaus Peter Dencker (2004), in: Dencker, Optische Poesie, S. 42.

Optische Poesie 19

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dertwende folgend4 1903 noch über die »Grenzen der Künste« schrieb, dass »dieeinzelnen Kunstgattungen in engem Zusammenwirken allerdings eine gewisseinnere Rücksichtnahme aufeinander sich auferlegen müssen […] sich selbstdort zwar geistig beeinflussen, niemals aber vermischen«,5 befasste er sich 1930in seiner Publikation Bild und Schrift6 mit eben dieser Vermischung von Lite-ratur und bildender Kunst erstaunlich fortschrittlich. Das – wie er es nennt –»Programm eines ungeschriebenen Buches« über das Verhältnis von Schrift undBild erwähnt bereits ein fast vollständiges Formenspektrum der historischenLinien, die zur Entwicklung Optischer Textformen beigetragen haben.

4 Volkmann promovierte bei Heinrich Wölfflin in München über : Bildliche Darstellungen zuDantes Divina Commedia bis zum Ausgang der Renaissance (Leipzig 1892).

5 Volkmann, Ludwig: Grenzen der Künste. Auch eine Stillehre. Dresden 1903, S. 9. Auch 1924schrieb er zwar noch in: ders.: Grundfragen der Kunstbetrachtung. Die Erziehung zum Sehen.Naturprodukt und Kunstwerk. Grenzen der Künste. Leipzig 1925, S. 173f. : »Die Kunst teiltsich in Künste, die fest und naturgemäß gegeneinander abgegrenzt sind […]. Betreffs derGrenzen zwischen Malerei und Poesie hat Lessing in seinem Laokoon diese Grundgedanken,trotz mancher unbestrittener Mängel im besonderen, für alle Zeiten klassisch formuliert«.Dann heißt es allerdings: »Und eine Klärung dieser Frage ist um so notwendiger, als heutemehr denn je interessante Versuche und Ansätze gemacht werden, die Grenzen der Künste zuverwischen oder zu verleugnen, andererseits aber tatsächlich allerlei neue Wirkungen undAusdrucksweisen gefunden werden.«

6 Volkmann, Ludwig: Bild und Schrift. Das Programm eines ungeschriebenen Buches, in: Buchund Schrift 4/1930, S. 9–18.

Abb. 3: Ludwig Volkmann (1930), in: Volkmann, Bild und Schrift, S. 12.

Klaus Peter Dencker20

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Der von mir verwendete Begriff Optische Poesie und seine Bedeutung leitet sichaus dem griechischen optij^ her. Es ist eine Poesie, die etwas sichtbar macht imdoppelten Sinne: eine Poesie, die nicht nur zu lesen, sondern auch zu sehen ist,zugleich aber auch eine Poesie, die etwas sichtbar, einsichtig, auf etwas auf-merksam macht. Den Begriff7 gab es schon in verschiedenen Kontexten, z. B. beiOskar Fischinger8 um 1920, der Optical Poetry für seine Malerei (z. B. als Titeleines Deckfarbenbildes/Gouache [1936] u. eines Ölgemäldes [1941]) und alsTitel für einen seiner Kurzfilme (1937) benutzte, oder in einer Rezension zuRenoirs Film Frühstück im Grünen (1961)9 und schließlich als ›Optische Spra-che‹ für Beispiele Optischer Poesie, zusammengestellt von Karl Riha und ConradWiedemann 1963 im Diskus10.

Optische Poesie als eine Art Dachbegriff umfasst alle Bereiche, in denen es sichum visualisierte poetische Produktionen handelt. Zu ihnen gehören neben dengrafischen Notationen der Akustischen Poesie und den figurativen Treatmentsdes modernen Hörspiels, den poetischen Notationen der Musikalischen Grafik,den grafischen Vorlagen der kinetischen Poesie und schließlich der VisuellenPoesie auch in Teilbereichen die Konkrete Poesie, poetische Formen der Skrip-turalen Malerei ebenso wie die historischen Formen der Figuren-, Gitter- undLabyrinthgedichte oder Formen des Rebus, der Ars Combinatoria, Enigmatik,Allegorik, Hieroglyphik, Emblematik und die diversen Formen von Bildge-schichten (vom Spruchband bis zur Sprechblase), Bild-Texten (z. B. Figurae)und Text-Bildern (z. B. Graffiti). Diesen Produktionen im Printbereich schließensich die im technischen und elektronischen Medienbereich an (z. B. Text-Foto-Collagen, Film-, TV- und Video-Poetry, Copy-Art, BTX-Art, Holopoetry), dieMail-Art, Correspondence-Art (z. B. Telegrafie-, Telefax-, E-Mail-Art) sowie dieFormen der Poesie im Rahmen von Kunst im öffentlichen Raum des 20. und21. Jahrhunderts.

Damit nicht erfasst sind Optische Textformen, die nicht der Poesie zuzu-rechnen sind, wie z. B. Kalligrafien, Kunstschriften und Bildalphabete, Formender Werbung oder ganz allgemein figurale Textflächen, die insbesondere mit derErfindung des Buchdrucks und dem beginnenden Spiel mit dem Satzspiegel zum

7 Ernst, Ulrich: Die Entwicklung der optischen Poesie in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Einliterarhistorisches Forschungsdesiderat, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 26/1976, S. 379–385; und ders.: Optische Dichtung aus der Sicht der Gattungs- und Medien-theorie, in: Ernst, Ulrich / Sowinski, Bernhard (Hg.): Architectura Poetica. Festschrift fürJohannes Rathofer. Köln 1990, S. 401–418. Vgl. auch Beetz, Manfred: In der Rolle des Be-trachters, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 24/1980, S. 419–451, der von»Optischen Bildertexten« spricht.

8 Dillmann, Martina: Optische Poesie. Oskar Fischinger. Leben und Werk, in: Kinematograph9/1993, S. 9.

9 In: Der Spiegel (11)/1961, S. 91–93; S. 93 wird von »Optischer Lyrik« gesprochen.10 In: DISKUS 10/1963, S. 13.

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üblichen Repertoire der Buchgestaltung gehörten. Allerdings ist auch in letz-terem Fall zu berücksichtigen, dass das an sich schon visuelle Kommunikati-onssystem Sprache bedeutsam vom Schriftbild geprägt wird. Denn Typografie,Satzspiegel, Format, Papierfarbe, Buchgestaltung usw. sind schon bei einemnormalen Text(buch)-druck Elemente, die über das visuelle Aufnahmevermö-gen unwillkürlich das Lesen eines Textes, eines Schriftbildes also, steuern undsomit auch inhaltlich Einfluss nehmen können.

So ergibt sich für die Optische Poesie ein vielseitiges Ausdrucksspektrum,dessen einzelne Formenelemente sich auch in historischen Entwicklungslinienauffinden lassen, z. B. in denen des Figurengedichts von der griechischen Bu-kolik über die Pegnitz-Schäfer des Barock und Apollinaires Calligrammes bis zuClaus Bremers Figurentexten; oder denen des Comics, von den sprechendenBildern der griechischen Vasenmalerei im 5. Jh. v. Chr. angefangen über diefrühchristliche Spruchbandentwicklung und die Geschichte der Flugblätter, derBilder-Zyklen und Bilderbogen bis zu den Cartoons im 19. Jh. und den japani-schen Mangas der Gegenwart.

In diesen historischen Entwicklungslinien zeigt sich eine immer wieder neuausprobierte Symbiose von Bild und Text, deren Ursprung eigentlich schon inder Schriftentwicklung selbst zu suchen ist. Denn Schrift ist nicht nur einesinnvoll geordnete Reihung von bekannten Buchstaben, nicht nur ein Hilfs-mittel, um etwas mitzuteilen, Schrift ist auch grafisches Ereignis. In ihm zeigtsich eine individuelle Geste des Schreibenden, und diese Geste ist zusammen mitdem ästhetischen Gebilde des Geschriebenen und seinem Inhalt ein bedeu-tungsvolles künstlerisches Ausdrucksmittel. Und zwar Schrift nicht nur alsSchriftkunst, also Kalligrafie, sondern vor allem Schrift als eigenständige (Zei-chen-)Kunst. Denn neben der kalligrafischen Behandlung der Alphabete sowieanderer Schriftsysteme (wie z. B. Blindenschrift, Morsealphabet oder diversenGeheimschriften) gibt es auch jene, von Künstlern mit ihren persönlichenHandschriften erfundenen und von fremden Schriftzeichen angeregten Aus-drucksmöglichkeiten, wie sie z. B. bei Wassily Kandinsky, Max Ernst oder PaulKlee zu finden sind.

Beide Möglichkeiten des künstlerischen Umgangs mit der Schrift spiegelnsich in den ursprünglichen Wortbedeutungen, genauer gesagt: in den zwei Be-deutungen schreiben und malen für ein und dasselbe Wort: etwa für ein Zeichenim Chinesischen (xie = schreiben und zeichnen, abbilden) oder für ein Wort imAltägyptischen (s s und s p h r). Das gilt auch für das lateinische scribere oderdas griechische graphein. Im Ägyptischen gibt es zudem für das Wort tjt die zweiBedeutungen Bild- und Schriftzeichen.

Ein Befund11 also, der die alte Frage nach der wesensmäßigen Identität oder

11 Hugo Ball notiert am 13. 6. 1916 in den Dada Fragmenten, in: ders.: Die Flucht aus der Zeit.

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Nichtidentität, bzw. den Grenzbestimmungen von Malen und Schreiben auf-wirft. Ist das abbildende Malen schon ein Schreiben oder das Schreiben ein nochabbildendes Malen? Wie eng ist das Verhältnis von Bild und Text, Malerei undPoesie? Fragen, die die ut pictura poesis-Diskussion über Jahrhunderte lebendighielten.

Und schließlich macht schon der aller erste Beginn der Schriftentwicklung aufBildhaftes, auf den Wechsel von der Ikonographie zur Ideographie aufmerksam,deren Geschichte – bis auf einige, bis heute unerschlossene Schriftsysteme aufKreta, in Mexiko oder Pakistan – insoweit belegbar erforscht ist, als sich nach derbisher gebräuchlichsten Auffassung eine historische Linie darstellen lässt: vonden Felsbildern vor mehr als 50.000 Jahren und der Bilderschrift in China(Vogel- und Insektenschrift) über die Hieroglyphen der Ägypter, Azteken undMayas (mit dem Bild als Symbol) bis zu den Piktogrammen der Keilschrift inMesopotamien und bis zur Wertung der Bildzeichen (in Anlehnung an dieHieroglyphen) als Buchstaben durch die kanaanäischen Semiten auf der Halb-insel Sinai, sowie die weitere Entwicklung durch die Phönizier, die die Bildzei-chen durch einfache geometrische Formen ersetzten, so dass mit der Über-nahme dieses Schriftsystems spätestens im 8. Jh. v. Chr. durch die Griechen undihrer Einfügung der bisher in allen Schriften fehlenden Vokale erst der Wechselvom Bildalphabet zum Lautalphabet erfolgte.

Optik bzw. die Bezeichnung optisch in Verbindung mit Formen jedwederkünstlerischen Produktion ist spätestens seit dem Aufkommen der technischenBildmedien Fotografie und Film und programmatisch seit dem Futurismus undDadaismus nachzuweisen, explizit z. B. bei El Lissitzky 1923, als er eine »neueOptik des Buchraumes« und für die Texte forderte,12 oder bei Bertolt Brecht, derim Berliner Börsen-Courier 1925 von einer »Umgruppierung nach dem opti-schen Gesichtspunkt« im Hinblick auf eine »neue Optik in der Literatur« be-richtete.13 Programmatisch noch eindeutiger äußerte sich Karel Teige, der zurDefinition seines Poetismus davon spricht, »mit optischen Formen zu dichten.Mit an der Fahnensprache gebildeten optischen Worten«14 und später (im Juni

München, Leipzig 1927, S. 93: »Das Wort und das Bild sind eins. Malerei und Poesie gehörenzusammen. Christus ist Bild und Wort. Das Wort und das Bild überkreuzen sich.« Vgl. auchKlee, Paul: Das bildnerische Denken, hg. v. Jürgen Spiller. Basel 1990, S. 17: »Schrift und Bild,das heißt Schreiben und Bilden, sind wurzelhaft eins.« Vgl. auch Walser, Robert: Aus demBleistiftgebiet, Mikrogramme 1926/27, hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang. Frankfurtam Main 1990, S. 410: »Schreiben, Schriftstellern scheint mir vom Zeichnen abzustammen.«Vgl. auch Kroehl, Heinz (Hg.): The Art of Writing. Bilder werden geschrieben. Heidelberg2011, bes. S. 219.

12 Lissitzky, El: Ökonomie des Ausdrucks – Optik statt Phonetik, in: Merz 4/1923, S. 47.13 Brecht, Bertolt : Gesammelte Werke, Bd. 18. Frankfurt am Main 1973, S. 24.14 Teige, Karel: Poetismus [Mai 1924], in: Host 3(9–10)/Juli 1924, S. 197–204, dt.: Teige, Karel:

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1928): »Wir haben die allmähliche Loslösung der Poesie von der Literatur ver-folgt, und gleichzeitig damit eine größere Optisierung der Poesie bis zur Fusionmit der Malerei in ein Bildgedicht.«15 Im Rückblick stellte Raoul Hausmann fest:»Es wurde bereits damals [1919] erkannt, dass das gesteigerte Bedürfnis der Zeitnach dem Bild, also der Verdoppelung eines Textes durch die optische Illus-tration, nicht durch einfaches Nebeneinander, sondern nur durch eine aufsprachgedankliche Grundlage zurückgreifende optische Konstruktion zu lösenwar.«16 Gelegentlich gibt es dann später bei den Autoren der Konkreten undVisuellen Poesie eine begriffliche Nähe, wenn z. B. Carlfriedrich Claus notiert,dass seine Blätter : »sowohl als optische systeme wahrgenommen, vom blickerfasst, wie jedoch auch in der zeit entfaltet, als sprachliche information gelesenwerden.«17

Vor allem seit den 1920er-Jahren entstanden international neue Formen derOptischen Poesie (und damit neue Begriffe), wie Apollinaires Lyrisme Visuel(seit 1913), Tzaras PoÀme Visuel (1916), Poezo-Painting (1920) von MykhailoSemenko, das Bildgedicht von Teige (auch bei Kurt Schwitters, Gesetztes Bild-gedicht [1922]), Visuelle Dichtung (1923) bei Lissitzky, Poesiographie (1923) vonWładysław Strzeminski sowie Pictopoezie (1924) von Victor Brauner und IlarieVoronca – Formen, die von den Autoren der 1950er-/1960er-Jahre z. T. wie-derentdeckt und die in vielen Ländern besonders im Umkreis des Entstehensund der Verwendung des Begriffs Konkrete Poesie bzw. Concrete Poetry umweitere Bezeichnungen ergänzt wurden: u. a. als Lettrisme, Hypergraphique undSpatialisme (Frankreich), Semantic Poetry (England), Signalismus (Jugoslawi-en/Serbien), Visuelle Poesie, Textbilder und Sehtexte (deutschsprachiger Raum),Optick¦ b�sne (Tschechoslowakei), Pattern Poetry, Visual Poetry, Pictorial Po-etry, Speaking Pictures und Imagening Language (USA), Poesia Visuale undPoesia Visiva (Italien), Poems Visuales (Spanien/Lateinamerika), Shishi/Shika-kushi und Plastic Poem (Japan). Viele dieser Begriffe bezeichnen nicht immerIdentisches (selbst bei formalen Ähnlichkeiten), und dies nicht nur wegen derunterschiedlichen Herkunftsländer und Sprachzustände, sondern nicht zuletztwegen ihrer Prägung durch oft individuelle Programmatiken einzelner Poeten.

Liquidierung der ›Kunst‹. Analysen, Manifeste. Frankfurt am Main 1968, S. 44–52, hierS. 48f.

15 Teige, Karel: Manifest poetismu, in: ReD. Revue svazu modern� kultury / Revue interna-tionale illustr¦e de l’activit¦ contemporaine, hg. v. Künstlergruppe Devetsil 1(9)/1928,S. 317–336, dt. in: Teige, Liquidierung der ›Kunst‹, S. 70–111, hier S. 102; vgl. auch Srp, Karel:Optische Worte. Poetismus und Bildgedichte, in: B�rgus, Vladim�r : Tschechische Avant-garde-Fotografie 1918–1948. Stuttgart 1999, S. 56–62.

16 Hausmann, Raoul: Typografie 1932, in: ders. : Retrospektive. Hannover 1981, S. 58f.17 Claus, Carlfriedrich: Erwachen am Augenblick. Sprachblätter. Karl-Marx-Stadt 1990, S. 128.

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Für den deutschsprachigen Bereich haben sich zwei Begriffe als dominanterwiesen: Konkrete Poesie und Visuelle Poesie.

Die wohl früheste Bezeichnung Konkrete Poesie taucht bei Ernest FranciscoFenollosa 1907/08 auf.18 Fenollosa stellt dar, in welcher Weise die Reduktion aufein chinesisches Zeichen »das Konkrete der Natur« ohne grammatikalisches undabstrahierendes Netzwerk auszudrücken vermag, wie unvermittelt und präzisedas ideographische Element der Zeichen »zu einem prächtigen Aufblitzenkonkreter Poesie« verhilft. Die Bezeichnung »konkreter Dichter« findet sichzuerst 1949 bei Max Bense,19 der T. S. Eliot als den »Typus des konkretenDichters und abstrakten Denkers« bezeichnete und Eliots Vorstellung von einer»absoluten Dichtung« zitierte: »Dichtung zu schreiben, die wesenhaft Dichtungwäre, ohne doch poetisch zu sein, Dichtung, die hüllenlos dastünd gleichsam inihrem Knochengerüst.« Allerdings ist das, was Konkrete Dichtung sein könnte,bereits in den Publikationen von Kandinsky Über das Geistige in der Kunst(1911) und Über die Formfrage (1912) fast zeitgleich mit den italienischen Fu-turisten und russischen Formalisten – und nicht zu vergessen: nach den visio-nären »Wortkunst«-Überlegungen (seit 1898) von Arno Holz – beschriebenworden, worauf Ezra Pound schon in seinem Beitrag Vortizismus. Das Programmder Moderne (1914) hinwies. Explizit finden sich die Bezeichnungen konkreteDichtung und konkrete Gedichte dann 1951 bei Hans Arp20 – und dies alles nochvor den drei wichtigsten programmatischen Schriften zur Konkreten Poesie vonÖyvind Fahlström,21 Eugen Gomringer22 und der brasilianischen Noigandres-Gruppe: Augusto de Campos / D¦cio Pignatari / Haroldo de Campos.23

18 Fenollosa, Ernest Francisco: The Chinese Written Character as a Medium for Poetry, Ed. EzraPound, in: Little Review 6(5)/Sept. 1919, S. 62–64; 6(6)/Okt. 1919, S. 57–64; 6(7)/Nov. 1919,S. 55–60; 6(8)/Dez. 1919, S. 68–72. Reprint, leicht verändert: An Essay on the ChineseWritten Character by Ernest Fenollosa, in: Instigations. New York 1920 und London 1936. Dt.mit einem Vorwort v. Eugen Gomringer : Fenollosa, Ernest: Das chinesische Schriftzeichenals poetisches Medium. Starnberg 1972, S. 20.

19 Bense, Max: Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. II. Mathematik in der Kunst.Hamburg 1949, S. 51f.

20 Arp, Hans: Der Dichter Kandinsky, in: Bill, Max (Hg.): Wassily Kandinsky. Paris 1951, S. 147,abgedr. in: Wingler, Hans Maria (Hg.): Wie sie einander sahen. Moderne Maler im Urteilihrer Gefährten. München 1961, S. 89.

21 Fahlström, Öyvind: Hätila ragulpr pa fatskliaben [1953], in: Bord dikter 1952–1955.Stockholm 1966, S. 57ff. , dt.: Manifest für konkrete Poesie, in: Text Buchstabe Bild. Aus-stellungskatalog Helmhaus. Zürich 1970, S. XVIIff.

22 Gomringer, Eugen: vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung[1954], in: Bense, Max (Hg.): Augenblick 1(2)/1955, S. 14–16.

23 Campos, Augusto de / Pignatari, D¦cio / Campos, Haroldo de: Teoria da Poesia Concreta.Textos Cr�ticos e Manifestos 1950–1960. EdiÅþes Invenżo. S¼o Paulo 1965; eine Zusam-menfassung der beiden Manifeste: poesia concreta: un manifesto von Augusto de Campos,in: ad – arquitetura e decoracao 20/Nov.–Dez. 1956 sowie in Campos de, Augusto u. Ha-roldo / Pignatari, D¦cio: plano-pilûto para poesia concreta [1958], in: Noigandres (4)/1958,

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Konkrete Poesie entwickelte ein neues Sprachmaterialbewusstsein, eine neueWortwörtlichkeit durch linguistisch geprägte Sprachanalysen und die entspre-chende Definition des Buchstaben- und Textbildes im Verhältnis zur Fläche undzum Raum mit den Mitteln der Reduktion und Konstruktion. Obwohl inzwi-schen unbestritten ist, dass auch Theorien und Werke der Konkreten Kunst dieKonkrete Poesie beeinflusst haben, sollte dies nicht dazu führen, den BegriffKonkrete Poesie vorschnell nur als Analogiebildung zur Konkreten Kunst zubetrachten. Dies liegt zwar nahe, weil einerseits diese Analogiebildungen beim(literarischen) Jugendstil, (literarischen) Expressionismus, (literarischen) Fu-turismus, (literarischen) Dadaismus usw. geläufig scheinen, und andererseits,weil einer der Mitbegründer der Konkreten Poesie im deutschsprachigen Raum,Eugen Gomringer, berichtete, wie er sich mit dem Vertreter der brasilianischenNoigandres-Gruppe, D¦cio Pignatari, an der Ulmer Hochschule für Gestaltung1955 getroffen habe und sie »sich einigten, ihre parallelen experimente aufgrundästhetischer verwandtschaft und geistiger verpflichtung gegenüber den theo-retikern, malern und bildhauern der konkreten kunst ebenfalls als konkret zubezeichnen.«24

Visuelle Poesie wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren insofern synonym fürKonkrete Poesie verwendet, als die visuelle Komponente der Konkreten Poesiesich zwangsläufig aus der dieser Poesie eigenen Organisation von Buchstaben-und Textmaterial ergab. Dabei gerieten notwendig Fläche und Raum ins Be-wusstsein. Und weil sich bisher die Lesegewohnheit lediglich an der Linie, an derTextzeile mit der Leserichtung von links nach rechts orientierte, wurde durchKombinationsmöglichkeiten des angebotenen Textmaterials nach oben undunten, ja zu allen Seiten hin, das schon immer da gewesene Sehen eines Textesdem Leser nun erst richtig bewusst. Damit ergaben sich zunächst zwei Auffas-sungen: Aus der Sicht des unbefangenen Betrachters konnten alle Anord-nungsformen des Textmaterials, die nicht dem traditionellen Satzspiegel ent-sprachen (und das galt nicht nur für die Konkrete Poesie, sondern schnell auchfür alle historischen Text-Bild-Formen), als Visuelle Poesie bezeichnet werden.Aus der Sicht der Autoren aber, die mit dem Sprachmaterial konkreter und neuumgehen wollten, war Konkrete Poesie gemeint.

dt.: Programm der konkreten Poesie, in: Text Buchstabe Bild. Ausstellungskatalog Helm-haus. Zürich 1970, S. XXVIIf.

24 Gomringer, Eugen: deutschsprachige autoren. Stuttgart 1972, S. 5. Dies wird noch unter-mauert von einer weiteren Bemerkung Gomringers in seinem Beitrag Das Gedicht als Ge-brauchsgegenstand (1960), in: Gomringer, Eugen: worte sind schatten. die konstellationen1951–1968. Reinbek 1969, S. 291: »ordneten meine freunde in s¼o paulo und ich den begriffder ›konkreten dichtung‹ unseren gedichten über, dies nicht zuletzt zu ehren der konkretenmaler in zürich – bill, graeser, lohse, vreni loewensberg – der starken gruppe, von der seit denfrühen vierziger jahren ununterbrochen impulse ausgingen in alle welt und der ich seit 1942entscheidende anregungen zur bildung der konstellationen verdanke.«

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Die Visuelle Poesie wurde im deutschsprachigen Bereich Anfang der 1970er-Jahre, vor allem aber nach Abschluss der Periode der Konkreten Poesie25 – ingewisser Weise auch als deren Weiterentwicklung – als eigenständige Form er-kannt.26 Allerdings gab es die Abgrenzungsversuche gegenüber der KonkretenPoesie in vielen Ländern bereits schon vorher, z. B. in Japan mit der ASA-Gruppe(Konkrete Poesie) um Seiichi Niikuni und der VOU-Gruppe (Visuelle Poesie)um Kitasono Katue27 in den USA, belegt durch die Bezeichnungen concretepoetry und visual poetry, oder in Italien, wo es für die Visuelle Poesie noch eineweitere Ausdifferenzierung der poesia visuale in poesia visiva gegenüber derpoesia concreta gab.28

Resumieren wir kurz die Charakteristika der visuellen Poesie. Es handelt sich bei ihrum die entschiedene Fortführung dessen, was im Werk der Dadaisten und Futuristensowie bei Mallarm¦ angelegt war. Es wäre aber falsch, Werke der Dadaisten und Fu-turisten vorschnell mit visueller Poesie zu identifizieren oder Bildertexte und tauto-logische Ideogramme antiker oder barocker Provenienz einem strengen Begriff visu-eller Poesie zuzusprechen29 […] Konkrete und visuelle Poesie sind dabei alskennzeichnende Begriffe nicht identisch30

25 Gomringer, Eugen: visuelle poesie, in: Höllerer, Walter (Hg.): Welt aus Sprache. Auseinan-dersetzung mit Zeichen und Zeichensystemen der Gegenwart. Berlin 1972, S. 118.

26 Dencker, Klaus Peter : Neuartige Ausstellungsverfahren für neue Kunstgattung wurden er-örtert, in: Erlanger Tagblatt v. 20. 4. 1970 u. ders.: Litfaßsäule mit Sehtexten, in: NürnbergerNachrichten v. 25./26. 4. 1970 (Berichte über ein von Dietrich Mahlow geleitetes Kolloquiumin der Nürnberger Kunsthalle); ders., Text-Bilder, S. 7ff. u. ders.: Drei Kapitel zur VisuellenPoesie, in: Altmann, Roberto (Hg.): Tecken. Lettres, Signes, Escritures. Konsthall Malmö.Malmö 1978, S. 58–64, hier S. 62ff. Vgl. dazu ausführlich in: ders., Optische Poesie, S. 6ff.mit weiteren Belegen. Vgl. auch Evers in: Dencker, Klaus Peter : Visuelle Poesie 1965–2005,hg. v. Kunstbibliothek Berlin/Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Weitra 2006, S. 11.

27 Vgl. dazu die Aufsätze in den beiden Katalogbüchern: Dencker, Klaus Peter (Hg.): VisuellePoesie aus Japan. Hamburg 1997; Kamimura, Hiroo (Hg.): Texte sehen. Deutsche und Ja-panische Visuelle Poesie. Kitakami 1999.

28 Vgl. dazu Belloli, Carlo: Poesia visuale: affermazione di una tendenza, in: Poesia concreta –indirizzi concreti, visuali e fonetici. Venezia 1969, S. 13ff. ; Ori, Luciano: Poesia Visiva, in:Dencker, Klaus Peter (Hg.): Visuelle Poesie. Dillingen 1984, S. 14–17; Weiss, Christina: Seh-Texte. Zirndorf 1984, S. 226ff.

29 Peter Weiermair, lange Jahre Direktor des Frankfurter Kunstvereins und Kurator vielerAusstellungen Konkreter und Visueller Poesie, wendet sich hier gegen die Vereinnahmungdes Begriffs für alle historischen Formen, die nur irgendwie optisch vom traditionellenSatzspiegel abweichen, was partiell auch ein Rückfall in die Praxis der synonymen Ver-wendung des Begriffs für Konkrete und Visuelle Poesie wäre. Der Begriff Visuelle Poesiewurde von den Künstlern speziell für ihre Arbeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts geprägt. Diese eigengesetzlichen Arbeiten standen damals wesentlich unter dem Ein-fluss der Nachbarkünste und sind nicht zu vergleichen mit historischen Beispielen derOptischen Poesie, die anderen, eben ihrer Zeit gemäßen traditionellen Rhetoriken folgen. Eskäme keiner z. B. in Japan auf die Idee, die Textbild-Mikrografien der Tradition als shishioder shikakushi (Bezeichnungen für Visuelle Poesie in Japan) zu betrachten oder die Quipus/Knotenschrift-Objekte der Inkas als Objekte der Visuellen Poesie, wie es das Knotengedicht

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und

die identität von ›konkret‹ und ›visuell‹ wurde jedoch von neuen autoren und neuenverfahren der textherstellung – und damit eines neuen, erweiterten poesieverständ-nisses – mehr und mehr in frage gestellt. der begriff ›visuelle poesie‹ begann sichabzusondern und wurde reserviert für diese neuen verfahren.31

Sie ist eine Form der Optischen Poesie, ausgeprägt entstanden Mitte des20. Jahrhunderts aus einer wechselseitigen Beziehung von bildender Kunst undLiteratur, von Bild und Text, von figurativen und semantischen Elementen. Sie istdie Verbindung mehrerer Kunstformen in einem intermedialen Raum, diesensible Reaktion auf Medien und Mitteilungen der Umwelt jedweder Form. Sieist in unterschiedlichen, vom jeweiligen Medium abhängigen Realisationsfor-men, die neue Kontextzusammenhänge schaffen, das Sammelbecken für wich-tige Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Geschichte der Optischen Textfor-men, aus Entwicklungen der bildenden Kunst wie Fluxus, Spurensicherung,Concept-Art, Konstruktivismus und Konkreter Kunst, Pop-Art, den verschie-denen Varianten von Realismusvorstellungen und allen nur denkbaren Spiel-arten logischer Sprachführung. Visuelle Poesie, das ist aber neben dem kalku-lierten Spiel, dem gegen die Tradition gerichteten Experiment und dem mit ihrenErfahrungen entwickelten künstlerischen Entwurf, neue Sensibilisierungspro-zesse einzuleiten, auch Spiegel und Antwort auf die Entwicklung der Medien-landschaft, auf die besonders starke wechselseitige Befruchtung und Durch-dringung der Künste. Sie ist damit eine mögliche Ausdrucksform in derEntwicklung unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft, die aufneue Funktionsweisen der Medien (Video, Computer, Holografie, Laser usw.)reagieren und sich kritisch, kreativ und innovativ in interaktive Kommunika-tionsmodelle einbringen kann.

Aus dieser wechselseitigen Beeinflussung adaptierte die Visuelle Poesie eineReihe von Eigenschaften der Medien und die sich daraus ergebenden Verfahrenfür ihre Zwecke. Neben Kopier- und Montagetechniken waren es kinetische,sequenzielle Formen, dem Hypertext ähnliche hierarchische Strukturen und

von Jiri Kol�r ist. Die Werke von Maurus oder Aratos in ihrer geschlossenen illustrativenWerkform sind ebenso wenig Visuelle Poesie wie die Figurengedichte der Bukolik oder desBarock. Es sind geschlossene Formen, die keines Koautors sondern in der Regel lediglich inihren ludistischen Formen der Enträtselung dessen, was bereit vorgegeben ist, durch denBetrachter bedürfen. Besonders gut zu erkennen, wenn man die traditionelle Emblematikmit den Emblemen Visueller Poesie von Konrad Balder Schäuffelen vergleicht, oder in derTradition vergeblich jenes aleatorische Element sucht, das wesentlicher Bestandteil vielerArbeiten der Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts und auch der Visuellen Poesie ist.

30 Weiermair, Peter : Visuelle Poesie/Konzeptkunst, in: Dencker (Hg.), Visuelle Poesie,S. 10–12, hier S. 11. Hier auch weitere gleichlautende Bestimmungen von Dick Higgins,Christina Weiss u. a.

31 Gomringer, Eugen (Hg.): Visuelle Poesie. Anthologie. Stuttgart 1996, S. 9.

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nicht-lineare Vernetzungen, die fast alle Mittel analoger und digitaler Medienvon der Handschrift bis zum Programmieren und Generieren von Text und Bildaufwiesen. Da die Visuelle Poesie an keine Schrift- oder Zeichensprache ge-bunden war, entwickelte sich in der Fläche und im Raum eine eigene Grammatikder aus der Umwelt zusammengetragenen und aus neu erfundenen Text-Bild-Bausteinen geformten Sprache. Es entstanden auf diese Weise sehr komplexeGebilde, in denen sich mehrere Ebenen – nicht nur Text- und Bildebenen,sondern auch verschiedene semantische Ebenen – verschränkten und Assozia-tionsnetze aus nicht-linearen Materialkonstellationen/-konstruktionen bilde-ten, die in ihren konsequentesten Ausformungen auch als eine Art »Netzwerk-Poesie«32 verstanden werden konnten.

Damit fanden, sozusagen in neuer Gestalt und Funktion, zwei Elemente dertraditionellen Literatur wieder Eingang in die Visuelle Poesie: – das narrativeund metaphorische Element. Beide Elemente mussten erst von der KonkretenPoesie in der Rückbesinnung auf die konkrete Bedeutung eines Sprachzeichensund seiner Funktion innerhalb einer bestimmten Konstellation und eines dieserepräsentierenden Modells von ihren strapazierten traditionellen Bindungen andie Poesie befreit werden. Erst dann war es möglich, dass nicht-lineare narrativeund neue metaphorische Strukturen, deren eigene Bild- und Kontextgrammatiknicht nur in der Produktion, sondern aufgrund der offenen Form der VisuellenPoesie verschieden von ihr, auch in der Rezeption entstehen konnten. Dabeierhielt der von der Konkreten Poesie zugunsten des Ideographischen zurück-gedrängte ikonographische Aspekt auch wieder eine neue, aber über die bloßabbildende und illustrierende Eigenschaft hinausweisende Funktion. Das ge-wohnte Sehen, die Wahrnehmung eines scheinbar bekannten Bildes oder Zei-chens, wandelte sich in eine kritische Infragestellung des Gesehenen bezüglichseines Wahrheitsgehalts und der Eindeutigkeit seiner Aussage. Es entstand eineMetasprache, in der die Metapher gleichermaßen für Bild und Zeichen alsSubstitut zur abstrakten, nicht mehr an der traditionellen Rhetorik orientiertenSprachfigur wurde. Das Bild wurde Zeichen, das Zeichen Bild, abhängig vonHerkunft und neuem Kontextbezug.

So ging es im Unterschied zur Konkreten Poesie nicht nur mit der Verwen-dung von bildhaften (Umwelt)Materialien, die aus bekannten Kontexten her-ausgelöst wurden, um den Einbezug von mehr Welt33 an sich, sondern auch undgerade in der assoziativen Einbeziehung dieser (Herkunfts)Kontexte, die inSpannung zu den neu entstandenen (Text/Bild)Kontexten standen, um dieSchärfung eines (Text/Bild)Kontextbewusstseins mit der Öffnung für neue Er-

32 Dencker, Visuelle Poesie 1965–2005, S. 136.33 Gomringer, Eugen: bemerkungen zum begriff ›visuelle poesie‹, in: Altmann (Hg.): Tecken,

S. 66.

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zählstrukturen und -perspektiven, der vergleichbar in der Konkreten Poesie einesolche des (Sprach-) Materialbewusstseins voranging.

Der Kontextbegriff hatte zunächst in der Wahrnehmungspsychologie34 undvor allem in der Sprach- und Literaturwissenschaft35 eine Rolle gespielt, als sichzu Beginn der Hauptphase der Visuellen Poesie Anfang der 70er Jahre36 PeterWeibel37 und Siegfried J. Schmidt38 zu dem Kontext-Begriff – als »zentralenBegriff« (Schmidt) – der Kunst des 20. Jahrhunderts äußerten. Weibel stellte fest:

Um die Sprache selbst zu steuern, um den Sprachgebrauch zu untersuchen und umeiner sprachlichen Steuerung zu entkommen, hat sich die Avantgarde seit Fluxus & Co.Ltd. außersprachlicher Mittel beim Umgang mit der Sprache bedient. Dabei ist mandrauf gekommen, dass die außersprachlichen Mittel selbst von sprachlichen Struktu-ren befallen sind. Dadurch ist das Universum der Sprache größer geworden: Struk-turen der Sprache wurden erweitert und neue Sprachstrukturen entdeckt […] EinDichter kann mit Steinen oder Fotos genauso gut dichten wie mit Zahlen oder Wörtern.Von Bedeutung dabei ist nur, wie sehr er und auf welche Weise er die Bedeutung der vonihm verwendeten Materialien verändert.39

Der dahinter stehende Kontext-Gedanke führte Weibel zu der Auffassung, dassdiese Veränderungen eine Sprachsteuerung – mit sprachlichen und/oder außer-sprachlichen Mitteln – ermögliche, die nicht nur über die Wörter im Sprach-system, sondern mehr noch über die Rolle von Sprachen in (Medien-/ Kom-munikations-) Systemen Aufschluss gäbe, wobei die Avantgarde sich dieser be-diene, »um die Kommunikation und bisher nicht erschlossene Quellen derKommunikation zu untersuchen. Sie erweitert die Dichtung, indem sie neueEntitäten verstärkt einsetzt, indem sie auf unbenutzte, unbekannte Kontexte undStrukturen aufmerksam macht.«40

34 Titchener, Edward Bradford: Lectures on the elementary psychology of thought-processes.New York 1909.

35 Kaplan, David Benjamin: Demonstratives: An Essay on the Semantics, Logic, Metaphysicsand Epistemology of Demonstratives, (1977) in: Almong, John / Perry, John / Wettstein,Howard (Hg.): Themes from Kaplan. Oxford 1989, S. 481ff. ; Baßler, Moritz: Die kultur-poetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie.Tübingen 2005.

36 Higgins, Dick: Visuelle Poesie: Heute und mit eigenen Augen betrachtet, in: Dencker (Hg.):Visuelle Poesie, S. 22f. , hier S. 22. Arbeiten der Visuellen Poesie, die seit 1970 realisiertwurden, erschienen in: 10–5155–20 Art Contemporain Nr. 5. Qu¦bec 1983 (Higgins, Dick /Kempton, Karl (Hg.): Verbe et image: po¦sie visuelle).

37 Weibel, Peter : Kontext-Theorie der Kunst (1971), in: Kritik der Kunst – Kunst der Kritik. Essays & I say. Wien, München 1973, S. 65ff. (später auch in: Weibel, Kontext Kunst – Kunst der90er Jahre. Köln 1994).

38 Schmidt, Siegfried J.: Kunst Gesellschaft Kommunikation, in: der Löwe 2, hg. v. Georg Jo-hann Lischka. Bern 31. 8. 1974, S. 36ff.

39 Weibel, Kontext-Theorie der Kunst, S. 65f.40 Weibel, Kontext-Theorie der Kunst, S. 67.

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Indirekt hatte Weibel mit dem Hinweis auf die Erweiterung der Dichtungauch die Visuelle Poesie gemeint, die zu seinem Produktionsfeld in den 1960er-und 1970er-Jahren gehörte, und er machte insbesondere als Medienkünstler, derer damals schon war, auf eine neue Qualität der Kommunikation aufmerksam,die ebenso von Schmidt als Ergebnis seiner Betrachtungen in den Mittelpunktgerückt wurde.

Schmidt, ein Vertreter der von Konstruktivismus und Concept Art geprägtenOptischen Poesie, kam dem Wesen der Visuellen Poesie noch einen Schrittnäher, als er »›Distanz‹, ›Komplexität‹ und ›Kontext‹ als kunsttheoretischeKonzepte«41 der Gegenwartskunst ausmachte. »Der Begriff der Distanz markiertdie besonderen Bedingungen des Kommunikationssystems Kunst, er verweistdarauf, dass die Kommunikationsprozesse in diesem speziellen System nur dannerfolgreich durchgeführt werden, wenn der Rezipient es lernt, zu dem ihmvorgeführten Geschehen eine bestimmte Distanz einzunehmen.« Schmidtmeinte damit den Wechsel von einer reproduktiv konsumierenden zu einerproduktiv analysierenden Rezeption. Diese sei auch deshalb erforderlich, weil esdie besondere Eigenschaft der neuen Entwürfe, nämlich ihre Komplexität,kreativ zu erschließen gelte, um sie ganz verstehen zu können. Der Kontext-Begriff, so Schmidt, wurde schon von Duchamp

in seiner ganzen Tragweite erfasst und material repräsentiert […] Duchamp hat alserster das Verhältnis zwischen Kontext und Bewertungsoperation deutlich gemacht,indem er Gegenstände, die aus einem anderen Kontext stammten, also etwa Gegen-stände, die im Printemps jedem Käufer zugänglich sind, ins Museum gebracht unddamit das Museum als einen Ort aufgewiesen hat, in dem bestimmte kanonische Be-wertungen verteilt werden. Dieser Mechanismus der Ausnutzung eines bekannten undgewohnten Bewertungsschemas ist von Duchamp als eine prinzipiell iterierbareKonzeption entworfen worden.42

41 Schmidt, Kunst Gesellschaft Kommunikation, S. 41.42 Bei Duchamp gibt es folgenden Hinweis in: Duchamp, Ready Made! 180 Aussprüche aus

Interviews und Briefen von Marcel Duchamp, zusammengetragen, ausgewählt, übers. v.Serge Stauffer u. v. dems. mit einer Einführung versehen. Zürich 1973, S. 54f. : »Sobald wiranfangen, unsere Gedanken in Wörtern und Sätzen niederzulegen, wird alles verzerrt. DieSprache ist eben verdammt nicht gut – ich verwende sie, weil ich muß, aber ich lege keinVertrauen in sie. Wir verstehen einander nie. Einst bekam ich Interesse für jene Philoso-phengruppe in England, die nachweist, daß die ganze Sprache dazu neigt, tautologisch unddeshalb bedeutungslos zu werden. Ich versuchte sogar, ihr Buch über ›The Meaning ofMeaning‹ zu lesen. Ich konnte es natürlich nicht lesen, konnte kein Wort begreifen. Aber ichstimme mit ihrer Idee überein, daß nur ein Satz, wie ›der Kaffee ist schwarz‹, irgendeineBedeutung hat – nur die Tatsache, die von den Sinnen direkt wahrgenommen wird. ImAugenblick, wo Sie darüber hinausgehen, in die Abstraktion, sind Sie verloren.« Der Hinweisvon Duchamp bezieht sich auf Ogden, Charles K. / Richards, Ivor A.: The Meaning ofMeaning. London 1923 (dt. Die Bedeutung der Bedeutung. Eine Untersuchung über denEinfluss der Sprache auf das Denken und über die Wissenschaft des Symbolismus. Frankfurtam Main 1974), vgl. dort zum Kontextbegriff S. 71ff. , S. 205 u. S. 308ff.

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Die Ausnutzung des Kontextmechanismus hatte nun seit der Anwendung inLiteratur-Montagen, Bild-Collagen und Objekt-Assemblagen fast alle Kunst-strömungen des 20. Jahrhunderts bis zur Concept Art erfasst, »indem Ideen, dieanderen Kommunikationsbereichen wie etwa Philosophie und Wissenschaftursprünglich angehören, überführt werden in den Kommunikationsbereich›Kunst‹ und damit eine Funktion bekommen, die sie in ihrem ursprünglichenBereich gar nicht mehr oder noch nie gehabt haben, nämlich eine Funktion vonBewusstseinserweiterung und Kommunikationsveränderung jenseits der Schul-meinungen über Ideen, über Konzepte.«43

Zur gleichen Zeit versuchte Jochen Gerz, schon mit direktem Bezug zur VisuellenPoesie, ihre mögliche Funktion hinsichtlich dieser Kommunikationsveränderungauszumachen, wenn er feststellte: »›Visuelle‹ Texte sind exemplarische Freilegungenautoritärer Kommunikationsmechanismen auf dem Niveau von Schrift und Spracheund künstlerische Exempel von Kultur- und Gesellschaftskritik.«44

Diese Auseinandersetzung mit den Medien und den aus ihnen erwachsenenKommunikationsformen werden schließlich zum zentralen Thema aller späte-ren Beschreibungs- und Eingrenzungsversuche des Phänomens Visuelle Poesie,was sich aber als sehr schwierig herausstellte, weil es sich eben um keine ein-heitliche Erscheinungsform handelt, die sich auch nicht auf bestimmte Tech-niken, Materialien, auf bestimmte formale oder inhaltliche Programmatikenfestlegen lässt: ihre Vielseitigkeit ist gleichsam das Programm. Sie ist interme-dial und interdisziplinär, das heißt, sie ist nicht auf bestimmte künstlerischeDisziplinen wie Literatur, bildende Kunst, Film, Fotografie, Computer usw.eingrenzbar. Ihr Reservoir poetischer, analytischer, diskursiver und plakativerBereiche von Sprachen und Bildern aus allen Bereichen der Wissenschaft,Werbung, Journalismus, Geschäftsverkehr usw. ist nahezu unbegrenzt. Sie führtdie Wahrnehmung der Wirklichkeit im prozessualen Wechselspiel von Sehenund Ausdeuten zugleich vor. Sie realisiert sich zwischen allen Künsten unddamit auch zwischen und mit allen Medien, was insbesondere Dick Higgins inseiner »Intermedia-Chart«45 darstellte.

Hinzukam, dass die Visuelle Poesie sich zwar als Kunstform verstehenkonnte, aber nicht musste. Das gab ihr die Freiheit, Ideen- und Formenlieferantfür alle Bereiche der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaftzu sein, ohne fürchten zu müssen, gegen Poetiken oder Ästhetiken zu verstoßen.Vielleicht ist auch die Beobachtung richtig, dass die weitere Entwicklung der

43 Schmidt, Kunst Gesellschaft Kommunikation, S. 42.44 Gerz, Jochen: Bedingungen der ›visuellen Poesie‹ (1972), in: Kopfermann, Thomas (Hg.):

Theoretische Positionen zur konkreten Poesie. Tübingen 1974, S. 65–66.45 Molvena 19. 1. 1995, in: Fontana, Giovanni: La voce in movimento. Vocalit�, scritture e

strutture intermediali nella sperimentazione poetico-sonora. Monza 2003, S. 348.

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Visuellen Poesie zur Wende des 21. Jahrhunderts auf eine durch die elektroni-schen Medien ausgelösten Krise der bildlichen Anschauung reagierte, auf eineBildirritation, auf den Verlust einer Bildautonomie, hervorgerufen durch si-multane Vervielfachungs- und Eingriffsmöglichkeiten (Entgrenzung), vor allemdurch das Verschwinden von Realität zugunsten der Simulation von Realität, inder reale und künstliche Welt ununterscheidbar zusammenfallen. Dies wäredann eine Entsprechung zum durch die technischen Medien ausgelösten Ent-stehen neuer visueller Sprachen (wie z. B. die Filmsprache oder der Ausdrucks-tanz) als Reaktion auf die Sprachkrise um die Wende zum 20. Jahrhundert.

Wenn es richtig ist, was Bartels sagt,46 dass – historisch betrachtet – dievisuelle Fiktion die literarische Fiktion auflöste,47 dass das Misstrauen gegen-

Abb. 4: Dick Higgins (1995), in: Dencker, Optische Poesie, S. 39.

46 Bartels, Klaus: Das Verschwinden der Fiktion. Über das Altern der Literatur durch denMedienwechsel im 19. und 20. Jahrhundert, in: Bohn, Rainer (Hg.): Ansichten einer künf-tigen Medienwissenschaft. Berlin 1988, S. 253: Von der Aufklärung her wurden die visuellenLerntechniken verworfen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein bilderloses, ver-nünftiges Lesen postuliert, das aufgehoben wurde.

47 Vgl. dazu auch Vil¦m Flusser, z. B. über die Ablösung der Schrift durch technische Bilder, in:Kloock, Daniela / Flusser, Vilem: Über das Zeitalter der Telematik im Gespräch, in: medium

Optische Poesie 33

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über dem Wort und die neue Kraft der (Medien)Bilder von Fotografie und FilmBegriff, Qualität und Leistungsvermögen von Sprache erweiterte und sich darausFormen der Optischen Poesie entwickeln, die mit den Erfahrungen der tech-nischen Medien sich nun auch der elektronischen bemächtigte, aber auchschnell herausfand, dass der zunehmende Bebilderungswahn und die einher-gehende Verkümmerung sprachlicher Anteile in allen Medien zu einer Inflationder Bilder und zu Verschleißerscheinungen ihrer Wahrnehmung führten, dannkönnte man der These nachgehen, dass sich in einem ersten Schritt die KonkretePoesie und ihre Vorläufer sich wieder der Sprache zuwandten, um ihre Taug-lichkeit zu erneuern,48 und dass die Visuelle Poesie in einem weiteren Schritt denVersuch machte, sowohl Bild und Sprache in einer Art Symbiose vom abge-nutzten, unreflektierten Alltagsgebrauch zu befreien,49 indem die Visuelle Poesiebegann, sich der audiovisuellen Medien innovativ anzunehmen, um mit ihnenvom Produzenten zum Rezipienten (und umgekehrt) interaktiv produktiv zuwerden, die Gefahr der durch Bilderüberflutung, Sprachverschleiß und Wort-reduktion zunehmenden Reproduktivität aufzuhalten und angesichts der ra-schen Technologieentwicklung der drohenden Verflachung des Rezeptionsver-mögens entgegenzuwirken.

Doch diese innovative Entwicklungsmöglichkeit besitzt eine Kehrseite, diePaul Virilio anlässlich der Vergabe des Medien-Kunstpreises 1992 in Karlsruheansprach. Er begann seine Rede: »Wenn es früher ein Kunsthandwerk des Se-hens, eine ›Kunst des Sehens‹ gab, sehen wir uns heute einem ›Unternehmensinnlich wahrnehmbarer Erscheinungen‹ gegenüber, das durchaus die Formeiner wie ein Geschwür bösartig um sich greifenden Industrialisierung des Se-hens annehmen könnte.« Er sprach von einer Mechanisierung des Sehens, diezur Inflation und Störung, aber nicht mehr zu einer weiteren Sensibilisierungder Sinnesreize führen könnte. So fragte Virilio:

Angesichts dieser ›Wahrnehmungsstörung‹ die jeden von uns befällt, wäre es vielleichtratsam, die Ethik der gewöhnlichen Wahrnehmung ernsthaft zu überdenken. Werdenwir schon bald unsere Stellung als Augenzeugen der sinnlich wahrnehmbaren Wirk-lichkeit zugunsten technischer Ersatzmittel, zugunsten von Prothesen jeder Art (Videound Kameraüberwachung) verlieren, die uns zu Hilfsbedürftigen, zu Blick-Behinder-ten machen werden – eine Art paradoxaler Blindheit, die sich der Überbelichtung des

2. Frankfurt am Main 1992, S. 66; Flusser, Vilem: Für eine Philosophie der Fotografie.Göttingen: European Photography 1992, S. 11ff.

48 Stichwort: literary turn / linguistic turn, in: Rorty, Richard M.: Metaphilosophical Diffi-culties of Linguistic Philosophy (1967), in: ders. (Hg.): The Linguistic Turn. Chicago, London1992, S. 1ff.

49 Stichwort: pictorial turn in: Mitchell, W. J. Thomas: The Pictorial Turn, in: ArtForum 30, H.7. New York 1992, S. 89–94; dt. in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik dervisuellen Kultur. Berlin 1997, S. 15–40. Dazu auch: Böhm, Gottfried: Die Wiederkehr derBilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild. München 1994, S. 11–38.

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Sichtbaren und der Entwicklung dieser blicklosen Sehmaschinen verdankt, die andieses ›indirekte Licht‹ der Elektrooptik angeschlossen sind, die künftig die ›direkteOptik‹ der Sonne oder der Elektrizität ergänzt?50

Noch deutlicher ist dies bei Fred Forest nachzulesen:

Müssen wir, getrieben von den Zeitströmungen und Moden, heute den Nullpunkt desBildes anerkennen, nachdem wir bereits an den Nullpunkt der Literatur gestoßen sind?[…] Mit der Ausbreitung der Medien und der explosiven Entfaltung der Technologienhört das Bild nicht auf, um uns herum zu wuchern und sich zu multiplizieren. Und ebendas ist der Punkt, an dem uns der Zweifel befällt. Ist dieses Bildermeer, das uns bis zurSättigung überschwemmt, vielleicht nichts anderes als eine letzte Zerstreuung […]Haben wir bereits die Kultur des Bildes überschritten, die manche noch immer hocheinschätzen? Wird das Bild das Bild töten? […] Der Hintergrund der latenten Krise desBildes ist die Krise der Wirklichkeit, mit der wir uns unausweichlich konfrontiertsehen. Sie ist direkt mit einer neuen Form der Relation verbunden, die sich über dieVermittlung elektronischer Techniken aller Art zwischen dem Individuum und derWelt konstituiert hat. Die Bilder, so scheint es, werden intelligent […] Gestern habenwir sie noch betrachtet, heute beobachten sie uns bereits. In einer interaktiven Rela-tion, in der keineswegs klar ist, ob wir noch das Privileg der Initiative und der Krea-tivität besitzen, testen sie unsere Fähigkeit, Antworten zu geben […] Sicher ist es wahr,daß wir gegenüber dem Bild in dem Maße misstrauisch werden, in dem wir entdecken,dass es unsere Sinne und unsere Erkenntnis täuschen kann.51

Wenn nun zutrifft, was Forest sagt, haben wir es nun tatsächlich nach denSprach- und Bildkrisen mit einer Wahrnehmungskrise zu tun, mit einerWahrnehmungsänderung, die zugleich auch die eigenen sinnlichen Wahrneh-mungsmechanismen reflektiert, die nicht nur durch die Produkte, sondern vorallem auch durch die diese erzeugenden Medien selbst mitbestimmt wird?52

Zumindest auf die Möglichkeit einer Wahrnehmungskrise hat Virilio bereits

50 Virilio, Paul: Achtung Augen auf!, in: Medienkunstpreis 1992, hg. v. ZKM. Karlsruhe 1992,S. 41–51, hier S. 44f.

51 Forest, Fred: Die Ästhetik der Kommunikation, in: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein,Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main 1991, S. 325ff. Die Dominanz derBilder zeigt sich inzwischen auch in der Darstellung von Geschichte, in der zweibändigen»europaweit ersten Visual History«: Paul, Gerhard (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949bis heute. Göttingen 2008.

52 In diesem Zusammenhang ist eine frühe Bemerkung von Franz Kafka aus den 1920er Jahrenzum Kino interessant: »Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht. Es ist zwar ein groß-artiges Spielzeug. Ich vertrage es aber nicht, weil ich vielleicht zu ›optisch‹ veranlagt bin. Ichbin ein Augenmensch. Das Kino stört aber das Schauen. Die Raschheit der Bewegungen undder schnelle Wechsel der Bilder zwingen den Menschen zu einem ständigen Überschauen.Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blickes. Sieüberschwemmen das Bewusstsein. Das Kino bedeutet eine Uniformierung des Auges, das bisjetzt unbekleidet war.« (In: Janouch, Gustav : Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen undErinnerungen. Frankfurt am Main 1961, S. 105).

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